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4 Die Thesen I-VII der Elemente des Antisemitismus

4.6 Der Antisemitismus und die verbotene Naturhaftigkeit (V. These)

4.6.3 Die Verdrängung der Natur

Die These: „Was als Fremdes abstößt, ist nur allzu vertraut.“176, die aufs engste mit dem Problem der Idiosynkrasie im Antisemitismus verknüpft ist, geht auf Freuds Überlegungen in Das Unheimliche177 zurück. Freuds These

174 Ebd., S. 211.

175 Ebd., S. 213.

176 Ebd., S. 211.

177 Sigmund Freud, Das Unheimliche, Gesammelte Werke, Band 12, Werke aus den Jahren 1917-1920, Frankfurt am Main 1966, (englische Originalausgabe: London 1947), S. 229-268. Vgl. zum Freudschen Begriff des Unheimlichen im Zusammenhang mit der Idiosyn-krasie im Antisemitismus Jan Baars: „Zum Begriff der entscheidenden Dynamik des

Anti-von der Wiederkehr des Verdrängten spielt hier eine zentrale Rolle. Freud zufolge kehren verdrängte Gefühle in Form von Ängsten wieder, die der Mensch als unheimlich empfindet. Der Schellingschen Definition gemäß, auf die sich Freud bezieht, ist das Unheimliche etwas, „was im Verborgenen hätte bleiben sollen und hervorgetreten ist.“178 Etwas wird als fremd emp-funden, weil das Ich keinen Zugang zu dem von ihm verdrängten Inhalt hat.

Freud macht die Bedeutung des Unheimlichen nicht zuletzt an der Analyse des Begriffs fest: Das Unheimliche verweist auf das eigene heimliche oder geheime, und daher verdrängte, Seelenleben: „Wenn dies wirklich die geheime Natur des Unheimlichen ist, so verstehen wir, daß der Sprachge-brauch das Heimliche in seinen Gegensatz, das Unheimliche übergehen läßt (...), denn dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Pro-zeß der Verdrängung entfremdet ist.“179

Der Antisemitismus ist in Anlehnung an diese Deutung als die Ablehnung des eigenen anderen zu verstehen. Was in einem selber anders ist im Ver-gleich zu den zivilisatorischen Normen und den damit einhergehenden eige-nen Vorstellungssystemen, wird abgewiesen, ist aber etwas Bekanntes.

Die Autoren kritisieren in der vorliegenden These den Identitätsbegriff, wenn sie von der Verhärtung des Ich sprechen. Denn jedes Ich ist in sich widersprüchlich und enthält das obengenannte andere. Die negierten eigenen Seiten des Ich, die ins identische Ich nicht passen, kommen irgendwann wie-der zum Vorschein in Form des auf anwie-dere, auf die Fremden projizierten Selbsthasses.

Die Bedrohung, die der Mensch durch die Natur erfahren hat, die Angst ums Überleben, setzt sich in der Gesellschaft fort und wendet sich gegen die innere und äußere Natur. Die Idee der Aufklärung war es, daß der Mensch frei vom Naturzwang wird. Doch hat die Gesellschaft die Unfreiheit auch wieder reproduziert: Im Konkurrenzkampf beispielsweise setzt sich der Zwang, der in der rohen Natur steckt, fort. Natur wird hier begrifflich als das Bedrohliche gefaßt, während mit dem Anschmiegen ans Natürliche ein ande-rer Naturbegriff gemeint ist. Horkheimer und Adorno greifen hier einen

semitismus wird wieder verwiesen auf Freuds Analyse des ‚Unheimlichen‘: dasjenige, was in der Idiosynkrasie abstößt, ist nur allzu vertraut.“ (Jan Baars, Kritik als Anamnese: Die Komposition der Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 230.)

178 Sigmund Freud, Das Unheimliche, a.a.O., S. 254.

179 Ebd.

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Marxschen Gedanken auf: In der heutigen Gesellschaft kämpft der Einzelne ähnlich um das Überleben wie früher der „Wilde“. Der ganze technische Fortschritt hat in dieser Hinsicht nicht viel verändert. Im Grunde genommen herrscht weiterhin das alte Gesetz des Dschungels: Der Einzelne kämpft ums blanke Überleben. Daran erinnern Flüchtlinge und ziehen die Wut der ande-ren auf sich, weil sie ihnen das eigene Schicksal vor Augen halten.

Wenn Horkheimer und Adorno von der „biologischen Urgeschichte“180 sprechen, so ist damit die Fortsetzung der biologischen Geschichte des Men-schen, als er unmittelbar in der Natur lebte und Teil der Tierwelt war, bis in die heutige Gesellschaft hinein gemeint: Es gibt eine Berührung der Tierwelt mit der menschlichen Kultur. Auf diesen Aspekt verweist Wolfgang Bonß:

Die Kritische Theorie „hob (...) die zentrale Bedeutung der biologischen Fundierung der Freudschen Theorie hervor und stilisierte die Triebwelt zu einer ‚Naturkraft, die gleich anderen unmittelbar zum Unterbau des gesell-schaftlichen Prozesses gehört‘.“181

Mit der „autoritären Freigabe des Verbotenen“, die die Antisemiten als Kol-lektiv praktizieren182, ist gemeint, daß das zivilisatorisch Verbotene von oben, das heißt auf autoritäre Art und Weise, zugelassen beziehungsweise erlaubt wird. Der Begriff der „repressiven Entsublimierung“183 von Marcuse bezeichnet genau dieses Phänomen. „Entsublimierung“ heißt, daß dem Trieb unmittelbar nachgegeben wird. Der Begriff der Sublimierung bedeutet im Gegensatz dazu, daß die zivilisatorisch verbotenen Regungen kulturell umge-wandelt werden. Sie verhindert ein direktes Ausleben von Aggressionen. Die Entsublimierung hingegen führt in hierarchischen Verhältnissen zur Unter-drückung. Solange die Entsublimierung nur auf die Schwächeren gerichtet ist, was in unfreien Gesellschaften mit Notwendigkeit geschieht, stellt sie

180 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Kapitel: Elemente des Antisemitismus, V. These, a.a.O., S. 210.

181 Wolfgang Bonß, Psychoanalyse als Wissenschaft und Kritik. Zur Freudrezeption der Kriti-schen Theorie, in: Sozialforschung als Kritik. Zum sozialwissenschaftlichen Potential der Kritischen Theorie, hrsg. v. Wolfgang Bonß und Axel Honneth, Frankfurt am Main 1982, S. 380f. (Wolfgang Bonß zitiert hier den Aufsatz von Erich Fromm, Zur Methode und Auf-gabe einer analytischen Sozialpsychologie, aus der Zeitschrift für Sozialforschung von 1932.)

182 Ebd., S. 214.

183 Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschritte-nen Industriegesellschaft, Darmstadt und Neuwied 1985, (Originalausgabe: The One-Dimensional Man. Studies in the Ideology of Advanced Industrial Society, Boston 1964), S. 91f.

keine Bedrohung für die bestehenden Verhältnisse dar. Wenn die Gesell-schaft als solche intakt bleibt, kann die Entsublimierung zugelassen werden.

Sie hat dann sogar die Funktion, den Druck, der durch die Sublimierung ent-steht, wegzunehmen.

In diesem Sinne ist folgender Satz zu verstehen: „Der Faschismus ist totalitär auch darin, daß er die Rebellion der unterdrückten Natur gegen die Herr-schaft unmittelbar der HerrHerr-schaft nutzbar zu machen strebt.“184 Horkheimer und Adorno legen hier dar, daß Faschismus und Antisemitismus eine Rebel-lion primär gegen die eigenen unterdrückten Triebe und nicht eine fehlgelei-tete gegen den Kapitalismus sind, wie eine Reihe gängiger Faschismustheo-rien besagt.185 Der Faschismus versteht es, die Rebellion gegen das Herr-schende dem HerrHerr-schenden selber nutzbar zu machen. Über diese Definition des Faschismus gehen Horkheimer und Adorno hinaus, wenn sie formulie-ren, daß der Faschismus nicht nur totalitär, sondern Ausdruck einer Rebel-lion gegen Zivilisation überhaupt und gegen unterdrückte Natur ist.

„Zivilisation ist der Sieg der Gesellschaft über Natur, der alles in bloße Natur verwandelt.“186 Diese Tendenz der Geschichte kommt insbesondere im Nationalsozialismus zum Ausdruck, weil es auch hier wie in der Natur letzt-lich nur darauf ankommt, wer der Stärkere und wer der Schwächere ist.

Rassismus und Antisemitismus reduzieren alles auf Natur. Dieses Phänomen ist aber bereits in der Geschichte als allgemeine Tendenz angelegt, die im Antisemitismus ihren Höhepunkt erlangt.

184 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Kapitel: Elemente des Antisemitismus, V. These, a.a.O., S. 215.

185 Vgl. hierzu: Klaus Fritzsche, Faschismustheorien – Kritik und Perspektive, in: Handbuch politischer Theorien und Ideologien, hrsg. v. Franz Neumann, Hamburg 1981, S. 467-528, hier: S. 491. Der Umstand, daß Horkheimer und Adorno in der III. Antisemitismusthese den „spezifisch ökonomischen Grund“ des bürgerlichen Antisemitismus hervorheben und untersuchen, was auch im Sinne einer Erklärung des Antisemitismus als fehlgeleiteten Antikapitalismus verstanden werden kann, ist vor dem Hintergrund, daß die Autoren in den Elementen verschiedensten Erklärungsansätzen zum Antisemitismus nachgehen, erst rich-tig zu verstehen. Es macht einen Unterschied, ob versucht wird, alle gesellschaftlichen Erscheinungen unmittelbar aus der vorherrschenden Produktionsweise zu erklären, oder ob diese in letzter Instanz als Bezugspunkt der Analysen gefaßt wird. (Vgl. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Kapitel: Elemente des Antisemitismus, III. These, a.a.O., S. 202.)

186 Ebd., S. 216.

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