• Keine Ergebnisse gefunden

4 Die Thesen I-VII der Elemente des Antisemitismus

4.4 Bürgerlicher Antisemitismus und gesellschaftlich notwendiger Schein der Zirkulationssphäre (III. These)

4.4.3 Zur Sündenbockthese

Horkheimer und Adorno vertreten die Sündenbockthese bezüglich des Anti-semitismus, wenn sie sagen: „Darum schreit man: haltet den Dieb! und zeigt auf den Juden. Er ist in der Tat der Sündenbock, nicht bloß für einzelne Manöver und Machinationen, sondern in dem umfassenden Sinn, daß ihm das ökonomische Unrecht der ganzen Klasse aufgebürdet wird.“93

Hierzu ließe sich kritisch anmerken, daß sich mit der Sündenbocktheorie zwar der Antisemitismus teilweise erklären läßt, nicht jedoch die Vernich-tung der europäischen Juden. Auch wenn es für eine Gesellschaft funktional sein kann, einige Individuen der zum Sündenbock stilisierten Gruppe zu töten, so niemals alle, denn dann wäre der Sündenbock und seine Wirkung verlorengegangen. Der Nationalsozialismus zielte aber auf die Vernichtung aller Juden hin, daher kann dieser Grund allein nicht entscheidend sein.

Historisch geht der Begriff des Sündenbocks auf die Thora zurück, wo die Sündenbock-Praxis im wörtlichen Sinne als Brauch beschrieben wird: „Und hat er vollbracht die Sühnung des Heiligtums und des Stiftszeltes und des Altars, so lasse er den lebenden Bock herbeibringen, und Aharon lege seine beiden Hände auf den Kopf des lebenden Bockes, und bekenne über ihm alle Vergehungen der Kinder Jisrael und all ihre Missetaten in all ihren Sünden, und er lege sie auf den Kopf des Bockes und schicke (ihn) fort durch einen bereitstehenden Mann in die Wüste; Und der Bock trage auf sich all ihre Vergehungen in ein ödes Land. Und hat er den Bock in die Wüste fortge-schickt, so gehe Aharon in das Stiftszelt (...).“94 An anderer Stelle heißt es hierzu: „Und er schlachte den Bock der Sühne für das Volk (...).“95 Ver-gleichbar ist zwischen dem gesellschaftlich-politischen und dem religiös-tra-ditionellen Sündenbock der dahinterstehende Mechanismus, daß die selbst-empfundene Schuld mittels einer Projektion veräußerlicht wird und man sich damit des schlechten Gewissens entledigen kann. Das Tieropfer, das später im Judentum abgeschafft worden ist, gehörte noch dem heidnischen Kult an.

Wo der Wandel des Sündenbocks vom ursprünglichen Tieropfer bis zur Ver-nichtung des Menschen als Sündenbock geschieht, sieht man deutlich, daß die Moderne im Stande ist, ein vielfaches Mehr an Gewalt zu produzieren als

93 Ebd., S. 203.

94 3. Buch Mose 16, 20-23, in: „Die Heilige Schrift“ (Übersetzung: Leopold Zunz), Tel Aviv 1997.

95 3. Buch Mose 16, 15, (a.a.O.)

frühere Gesellschaftsformen. In der Vertreibung oder Ermordung der zum Sündenbock Stilisierten wiederholt sich das Opferritual aus animistischer Zeit in seiner modernen Gestalt.

Allerdings muß bezüglich der Vernichtung der europäischen Juden davon ausgegangen werden, daß diese Erklärung unzutreffend ist. Denn der Sün-denbock dient der Beruhigung und Eingrenzung eines Konfliktes. Einer wird geopfert, sei es in der schwächeren Form der Vertreibung oder der stärkeren der Ermordung, und damit trägt er die Sünden und die Probleme davon. Die gestörte Harmonie kann zumindest für einen gewissen Zeitraum wieder ein-treten. Der Sündenbockmechanismus hat trotz seiner Irrationalität (Was hat der Bock mit den als Sünden wahrgenommenen Taten der anderen zu tun?) ein wichtiges Moment: Er verhindert Dauerkonflikte, enthebt die Menschen ihrer gegen andere oder sich selbst gerichteten Aggressionen und macht einen Neuanfang möglich.96 Er ist also Mittel zu einem bestimmten Zweck.

Auf Menschen angewandt, könnte man ihn kantisch in dem Sinne kritisieren, daß Menschen niemals bloße Mittel, sondern auch immer Zwecke sein soll-ten.97

Im Nationalsozialismus liegt aber eine Umkehrung des Zweck-Mittel-Ver-hältnisses vor. Die Vertreibung und Ermordung von Juden ist darin nicht auf ein Mittel für andere Zwecke zu reduzieren, vielmehr ist sie ein Selbstzweck.

Weil die Morde selbst zum Zweck werden, können sie so schrankenlos statt-finden und werden praktisch bis zur letzten Minute des als „tausendjährig“

angekündigten „Reiches“ im Mai 1945 vollzogen. Die Ermordung der ersten Juden im Nationalsozialismus ist mitnichten ein Mittel, um eine gewisse, und sei es eine noch so falsche, Harmonie wieder herzustellen in der jeweili-gen Gesellschaft, sondern sie dienen nur zum Auftakt und zur Vorbereitung der darauf folgenden Morde am Großteil der europäischen Juden. Auf sozial-psychologischer Ebene gehen Horkheimer und Adorno auf dieses Phänomen in der V. These ein, in der sie analysieren, wie Verfolgte die Begierde, sie weiter und mehr zu verfolgen, auf sich ziehen. Dies hindert sie aber nicht daran, an dieser Stelle die Sündenbockthese zu vertreten, da sie nur als ein

96 Im Gegensatz zu den Momenten, in denen der Sündenbockmechanismus in der Gesell-schaft zur Wirkung gelangt, ist der Vorgang der Übertragung in der Bibel durchsichtig gemacht.

97 „Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Frankfurt am Main 1989, S. 61.)

75

Moment ihrer Analyse und nicht als generelle Erklärung gilt. Jedoch gibt es in ihr den Fehler, davon auszugehen, daß es einen höheren, tieferen oder weitergehenden Zweck gäbe, zu dem die Vernichtung sich nur als Mittel ver-halte. Es ist gerade das Spezifische am Nationalsozialismus, daß in ihm das Morden selbst zum Zweck wird, womit er sich von allen anderen bisherigen repressiven Regimes unterscheidet. Ermordet wird nicht der politische Geg-ner, beispielsweise als Mittel zum Zweck, die eigene politische Macht zu stärken, wie es in den nicht direkt vom Nationalsozialismus abhängigen europäischen Faschismen und auch im Stalinismus in aller Regel der Fall war. In Deutschland aber der ersten Hälfte der vierziger Jahre war die Shoah selbst der Zweck, und viele Kriegshandlungen verhielten sich zu ihr als bloße Mittel. Das bekannteste historische Beispiel dazu ist der Streit um die knapp gewordenen Eisenbahnwaggons, die die Wehrmacht zu einem großen Teil für den Transport von Nachschubgütern und der Truppe selbst benutzen wollte, jedoch im Streit mit der SS und anderen die Vernichtung unterstüt-zenden Personen unterlag und letztlich die Tötung von weiteren Hunderttau-senden von Menschen der Unterstützung eigener Truppen vorzog. Daraus und aus vielen anderen Details kann geschlossen werden, daß die Ermordung der Zweck und vieles andere, was heute als Zweck angesehen wird, tenden-ziell selber bloßes Mittel war, um diesen Zweck zu erfüllen.

Da, wie dargelegt, die Sündenbockthese mit anderen Ansätzen im gleichen Text nicht zusammenpaßt, dieser Widerspruch aber von den Autoren nicht thematisiert wird, greife ich an dieser Stelle auf einen anderen Vertreter der Frankfurter Schule zurück. Franz Neumann weicht in zentralen Einschätzun-gen des Nationalsozialismus von Horkheimer und Adorno ab,98 doch formu-liert er in der Erstauflage seines Buches Behemoth im Jahre 1942, ähnlich wie an der oben zitierten Textstelle Horkheimer und Adorno, die Sünden-bocktheorie in klassischer Weise und wendet sie auf die antisemitische Poli-tik der Nationalsozialisten an. Allerdings konnte er sich damals nicht vorstel-len, daß eine gänzliche Vernichtung der Juden angestrebt war, da Juden noch weiterhin als Sündenböcke fungieren müßten: „Dieser innenpolitische Wert des Antisemitismus läßt deshalb eine völlige Vernichtung der Juden niemals zu. Der Feind kann und darf nicht verschwinden; er muß ständig als

98 Insbesondere ist dabei an die Einschätzung des Verhältnisses von Politik und Ökonomie im Nationalsozialismus zu denken, die bei Pollock, Horkheimer sowie Adorno auf der einen und Neumann und Kirchheimer auf der anderen Seite sehr unterschiedlich ausfiel. (Vgl.:

Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, München 1988, S. 314-327.)

bock für alle aus dem soziopolitischen System hervorgehenden Übel bereit-stehen.“99

In der um einen Anhang erweiterten Zweitauflage von 1944 kritisiert Neu-mann die Sündenbockthese: „Ein Verstehen des Antisemitismus wird durch die weithin übernommene Sündenbocktheorie erschwert, nach der die Juden als Sündenbock für alle Übel der Gesellschaft dienen. Jedoch bezeichnet das Hinschlachten oder die Ausstoßung des Sündenbocks in der Mythologie das Ende eines Prozesses, während die Verfolgung der Juden, wie sie vom Nationalsozialismus praktiziert wird, lediglich das Vorspiel zu noch vielen anderen, nicht weniger schrecklichen kommenden Dingen ist.“100

Mit der Erfüllung seiner Funktion, so Neumann, war der Zweck des Sünden-bocks bisher beendet, nicht so im Nationalsozialismus.

Wichtig ist dabei Neumanns Argument, es gehöre zum Begriff des Sünden-bocks dazu, daß man ihn am Leben erhält, um ihn immer wieder einzusetzen.

Ein kollektives Opfer, das vollständig ausgelöscht wird, ist kein dienlicher Sündenbock, da es die Funktion desselben in Zukunft nicht mehr erfüllen kann.

Die Sündenbockthese faßt, um es abschließend festzuhalten, ein Element des Antisemitismus, das aber nicht auf den Vernichtungsprozeß selber zutrifft, sondern auf seine früheren historischen Ausdrucksformen, wie zum Beispiel die Pogrome in Osteuropa Ende des 19. Jahrhunderts.

99 Franz Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944, Frankfurt am Main 1984, S. 163.

100 Ebd., S. 582.

77

4.5 Zum religiösen Ursprung des Antisemitismus als dem Haß auf