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Zum Ausbleiben des Terminus ‚Nationalsozialismus‘ in der Dialektik der Aufklärung

2 Zu einigen grundlegenden Begrifflichkeiten

2.4 Zum Ausbleiben des Terminus ‚Nationalsozialismus‘ in der Dialektik der Aufklärung

Auffallend aus heutiger Sicht ist, daß Horkheimer und Adorno in der Dialek-tik der Aufklärung den Begriff des Nationalsozialismus nicht verwenden, sondern statt dessen vom Faschismus sprechen. Wenn in der Schrift vom völkischen Antisemitismus und seinen Folgen die Rede ist, meinen die Auto-ren aber insbesondere einen zentralen Aspekt des Nationalsozialismus, da in anderen faschistischen Ländern, zum Beispiel in Italien, die Judenverfolgung nicht im Mittelpunkt ihrer Politik stand und nicht besonders konsequent betrieben wurde. Dafür gibt es einige mögliche Erklärungen, die im folgen-den dargelegt werfolgen-den sollen. Zu fragen wäre, ob sie auf folgen-den Ausdruck wegen seiner propagandistischen Funktion und Verharmlosung verzichten oder den deutschen Faschismus unter den Faschismus im allgemeinen subsumierten, weil es zum damaligen Zeitpunkt die heutige Begriffsunterscheidung wegen der fehlenden detaillierten Kenntnisse über die Differenz zwischen National-sozialismus und Faschismus noch nicht gab. Unabhängig von der Termino-logie ist davon auszugehen, daß die Autoren der Auffassung sind, daß der Nationalsozialismus etwas Einmaliges in der Geschichte darstellt, sie folg-lich die Singularitätsthese teilen,49 daß aber unter ähnlichen Umständen so

47 Ebd., S. 69.

48 Gunzelin Schmid Noerr, Die Emigration der Frankfurter Schule und die Krise der Kriti-schen Theorie, a.a.O., S. 135.

49 Der Nationalsozialismus läßt sich beispielsweise nicht umstandslos mit der Inquisition ver-gleichen, sondern ist das Beispiel für den Wendepunkt in der Geschichte.

etwas wie der Nationalsozialismus an einem anderen oder gleichen Ort sich wiederholen könnte. Möglicherweise sind Horkheimer und Adorno hier in ihrer Terminologie von den Diskussionen der Linken in den dreißiger Jahren geprägt. Für die Marxisten aus der Weimarer Republik war es unüblich, vom Nationalsozialismus zu sprechen, weil sie den Sozialismus nicht in Mißkre-dit bringen wollten. Ein entscheidenderer Aspekt ist aber in dem Zusammen-hang, daß Horkheimer und Adorno eine generelle Kritik an der Aufklärung ohne räumliche Begrenzung üben wollten. Den Antisemitismus nur als nationales Problem zu begreifen, hieße der Kritik der Dialektik der Aufklä-rung die Radikalität zu nehmen. Durch die tief einschneidende Analyse sol-len sich alle angesprochen fühsol-len und nicht nur eine bestimmte Nation. Da Horkheimer und Adorno davon ausgehen, daß die der Aufklärung inhärenten selbstzerstörerischen Tendenzen für den Zivilisationsprozeß als solchen typisch sind, kommt es ihnen nicht so sehr darauf an, an welchem Ort diese jeweils ausbrechen (zumal sich die Geschichte der meisten Länder auf der Welt überschneidet, von daher ähnliche kulturelle, soziale und ökonomische Bedingungen vorhanden sind und dieser Prozeß der Angleichung auch wei-terhin zunimmt). Sie wollen vielmehr allgemeine Entwicklungen, Bedingun-gen und Mechanismen sichtbar machen, auf die die Gewalt, die zu manchen Zeitpunkten stärker und deutlicher zum Vorschein kommt, zurückzuführen ist.

Zu diesem Thema beziehen die Autoren in ihrem Vorwort von 1959 zu Paul Massings Buch Vorgeschichte des Politischen Antisemitismus explizit Stel-lung: „Keineswegs ist der totalitäre Antisemitismus ein spezifisch deutsches Phänomen. Versuche, ihn aus einer so fragwürdigen Entität wie dem Natio-nalcharakter, dem armseligen Abhub dessen, was einmal Volksgeist hieß, abzuleiten, verharmlosen das zu begreifende Unbegreifliche.“50 Ein gesell-schaftliches Phänomen wie der totalitäre Antisemitismus macht vor den deutschen Grenzen nicht halt.

Eine solche Einengung der ganzen Tragweite des Problems würde „das Rät-sel der antisemitischen Irrationalität auf eine Rät-selber irrationale Formel“

50 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Vorwort (zur deutschen Ausgabe von 1959), in: Paul Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Band 8 der Frankfurter Beiträge zur Soziologie, hrsg. v. Theodor W. Adorno und Walter Dirks im Auftrag des Instituts für Sozialforschung. (Titel des US-amerikanischen Originals: Rehearsal For Destruction, Reihe: Studies in Prejudice, New York 1949), Frankfurt am Main 1959, S. V-VIII, hier: S. VIf.

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gen.51 Horkheimer und Adorno erklären, daß die „deutschen Triumphe“ des Antisemitismus eher bedingt seien durch ein Zusammentreffen bestimmter sozialer und ökonomischer Faktoren als durch einen für die Deutschen typi-schen und besonders ausgeprägten „Rassenhaß“.

Horkheimer und Adorno sind in ihrer Erklärung vorsichtiger als Goldhagen und zielen nicht so sehr auf nationale Unterschiede ab. 52 Sie nennen den totalitären Antisemitismus in ihrem Vorwort zu Massing auch das „zu be-greifende Unbegreifliche“53, da eine wissenschaftliche (begriffliche) Ausein-andersetzung notwendig ist und das, was irrationale Züge trägt, rational gefaßt werden muß, um eine Wiederholung zu verhindern.

Sie treten der Einstellung entgegen, wonach in Deutschland alles von vorn-herein auf das, was dann kam, hinausgelaufen sei und andere Entwicklungen nicht auch denkbar und möglich gewesen wären: „Den Spuren des herauf-dämmernden Verhängnisses in der deutschen Vergangenheit ist allerorten auch deren Gegenteil gesellt, und die Weisheit, ex post facto zu dekretieren, was von vornherein das Stärkere gewesen sei, macht es sich allzu leicht, indem sie das Wirkliche als das allein Mögliche unterstellt.“54 Vielmehr käme es darauf an, zu verstehen, daß die Geschichte nicht gradlinig verläuft und viele Widersprüche aufweist 55: „Zur Erfahrung von Geschichte gehört auch das Bewußtsein des Nichtaufgehenden, Diffusen, Vieldeutigen“56. So

51 Ebd., S. VII.

52 Diese Einschätzung weicht von der jüngst veröffentlichten Untersuchung von Daniel Gold-hagen insofern ab, als dieser die Nation der Täter in besonderer Weise herauszustellen ver-sucht: „Dabei müssen wir bequeme, aber oft unangemessene und vernebelte Etikettierun-gen wie ‚Nazis‘ oder ‚SS-Männer‘ vermeiden und sie als das bezeichnen, was sie waren, nämlich Deutsche. Der angemessenste, ja der einzig angemessene allgemeine Begriff für diejenigen Deutschen, die den Holocaust vollstreckten, lautet ‚Deutsche‘.“ (Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, (US-Amerikanische Originalausgabe: Hitler’s Willing Executioners, New York 1996), Berlin 1996, S. 19.)

53 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Vorwort von 1959 zu Paul Massing, a.a.O., S. VII.

54 Ebd. Vgl. hierzu Dan Diner, der die „Voraussehbarkeit der Massenvernichtung“ vor dem Ereignis bezweifelt, weil es einen „vom Antisemitismus zur Judenvernichtung führenden Determinismus“ nicht gibt. (Dan Diner, Aporie der Vernunft. Horkheimers Überlegungen zu Antisemitismus und Massenvernichtung, in: Dan Diner (Hrsg.), Zivilisationsbruch.

Denken nach Auschwitz, Frankfurt am Main 1988, S. 30-53, hier: S. 32f.)

55 Die Vorstellung, daß von Luther zu Hitler ein direkter Weg führe, ist ein Beispiel für eine solche lineare Geschichtsauffassung. Vgl. hierzu Raul Hilberg, Die Vernichtung der euro-päischen Juden, Band 1, Frankfurt am Main 1990, S. 11-35.

56 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Vorwort von 1959 zu Paul Massing, a.a.O., S. VII.

ist der Antisemitismus in anderen Ländern Europas, zum Beispiel in Frank-reich, vor dem Zweiten Weltkrieg stärker gewesen als in Deutschland. Daß dieses enorme Zerstörungspotential gerade von Deutschen ausging, muß demnach mit noch anderen objektiven und subjektiven gesellschaftlichen Faktoren zusammenhängen als nur mit dem destruktiven Haß.