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Antisemitismus und der Begriff der Barbarei

4 Die Thesen I-VII der Elemente des Antisemitismus

4.6 Der Antisemitismus und die verbotene Naturhaftigkeit (V. These)

4.6.4 Antisemitismus und der Begriff der Barbarei

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dieser Thematik verbirgt sich das theoretische Problem, wie Emanzipation ohne einen Fortschrittsbegriff gedacht werden soll. Der Gedanke einer Ent-wicklung muß allerdings vorhanden sein, wenn der Übergang von der „Vor-geschichte“ zur Geschichte begrifflich antizipiert werden soll.

Horkheimer und Adorno sprechen im polemisch-kritischen Sinne von der Regression auf eine magische Stufe. Sie machen solche Aussagen vor dem Hintergrund, daß die heutige Gesellschaft für nüchtern, rational und frei von allen Mythen vorgestellt wird. Der Mythos des Spätkapitalismus ist nicht der Mythos der Antike oder des Mittelalters.192 Ihre zitierten fortschrittskriti-schen Formulierungen von der ‚Rückkehr zur Barbarei‘ und allgemein der

‚Regression‘ sind in der begrifflichen Auseinandersetzung mit der zur Zeit der Formulierung der ‚Elemente‘ vorherrschenden Fortschrittsgläubigkeit entstanden. Horkheimer und Adorno sind sich der Problematik der diskutier-ten Regressionsvorstellungen durchaus im klaren. Sie formulieren dies aller-dings nicht als Selbstkritik, sondern als Kritik an Freud, der die mit Herr-schaft verbundenen Allmachtsphantasien in der modernen GesellHerr-schaft ana-chronistisch auf den Animismus zurückführt.193 Sie schreiben dazu: „Die Zauberei ist wie die Wissenschaft auf Zwecke aus, aber sie verfolgt sie durch Mimesis, nicht in fortschreitender Distanz zum Objekt. Sie gründet keines-wegs in der ‚Allmacht der Gedanken‘, die der Primitive sich zuschreiben soll wie der Neurotiker; eine ‚Überschätzung der seelischen Vorgänge gegen die Realität‘ kann es dort nicht geben, wo Gedanken und Realität nicht radikal geschieden sind. Die ‚unerschütterliche Zuversicht auf die Möglichkeit der Weltbeherrschung‘, die Freud anachronistisch der Zauberei zuschreibt, ent-spricht erst der realitätsgerechten Weltbeherrschung mittels der gewiegteren Wissenschaft. Zur Ablösung der ortsgebundenen Praktiken des Medizin-manns durch die allumspannende industrielle Technik bedurfte es erst der Verselbständigung der Gedanken gegenüber den Objekten, wie sie im

192 Vgl. hierzu die Ausführungen im Kapitel: Mythos und Aufklärung dieser Arbeit.

193 Zur Kritik von Horkheimer und Adorno an Freud vgl. Jan Baars: „Paranoia und System werden mit einander verbunden auf Grund der Freudschen Analyse in Totem und Tabu, wobei allerdings Freud kritisiert wird, weil er meinte, daß Paranoia und Narzißmus zum animistischen Seelenleben des ‚Primitiven‘ gehörten, während diese sich gerade mit der modernen Naturbeherrschung vollends zeigten.“ (Jan Baars, Kritik als Anamnese: Die Komposition der Dialektik der Aufklärung, in: Die Aktualität der Dialektik der Aufklä-rung. Zwischen Moderne und Postmoderne, hrsg. v. Harry Kunneman und Hent de Vries, Frankfurt am Main 1989, S. 210-235, hier: S. 221.)

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tätsgerechten Ich vollzogen wird.“194 Horkheimer und Adorno werfen Freud anachronistisches Denken vor, da er ein Phänomen in eine falsche Zeit ein-ordnet, das ist die Geschiedenheit des Denkens von der Realität. Für die sogenannten Naturvölker gab es das, was sie dachten auch wirklich. Erst durch diese Geschiedenheit stellt sich überhaupt die Frage nach Wahrheit.

Denn Voraussetzung für die Unterscheidung von wahr und falsch ist die Trennung von Subjekt und Objekt. Die Allmachtsgedanken und Weltbeherr-schungsphantasien gibt es erst in der wissenschaftlichen Phase der Geschich-te. Was Freud richtig bemerkt, ist, daß es in der Wissenschaft die Tendenz gibt, alles zu erfassen, die so etwas wie ein Glauben ist, nur hat diese die heutige Form erst in der bürgerlichen Gesellschaft angenommen. Es handelt sich um einen Glauben zwar, aber nicht um seine archaische, sondern seine moderne Ausführung.195 Die Überschätzung der seelischen Vorgänge gegen die Realität kann es nur heute geben, da es heute die Geschiedenheit von Subjekt und Objekt gibt. Freud vertritt den Fortschrittsglauben, wenn er die negativen Momente der Kultur auf die Frühkulturen, den Animismus zurück-führt. Das, was heute pathologisch, paranoid ist, wird damit nicht auf die heutige Kultur, sondern das veraltete Naturverhältnis, den Mythos und nicht auf den Fortschritt und die Aufklärung bezogen. Insofern sind die Feststel-lungen Horkheimers und Adornos kritischer als diejenigen Freuds und ihre oben erwähnten eigenen an anderer Stelle.196

Die in der Freud-Kritik aufscheinende Geschichtsauffassung von Horkhei-mer und Adorno könnte man mit der von Walter Benjamin vergleichen, wie

194 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Kapitel: Begriff der Aufklärung, a.a.O., S. 33.

195 Vgl. hierzu: „Im animistischen Stadium schreibt der Mensch sich selbst die Allmacht zu, im religiösen hat er sie den Göttern abgetreten (...) In der wissenschaftlichen Weltanschau-ung ist kein Raum mehr für die Allmacht des Menschen, er hat sich zu seiner Kleinheit bekannt und sich resigniert dem Tode wie allen anderen Naturnotwendigkeiten unterwor-fen. Aber in dem Vertrauen auf die Macht des Menschengeistes, welcher mit den Gesetzen der Wirklichkeit rechnet, lebt ein Stück des primitiven Allmachtsglaubens weiter.“ (Sig-mund Freud, Totem und Tabu, Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, Gesammelte Werke, Band 9, London 1948, (Reprint der englischen Origi-nalausgabe: London 1940), S. 1-194, Kapitel III: Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken, S. 112.)

196 Zur Kritik des Wortes Barbarei im Kontext der Judenvernichtung vgl. auch Sven Kramer:

„Heute mutet seine Verwendung im Zusammenhang mit Auschwitz anachronistisch an.“

(Sven Kramer, „Wahr sind die Sätze als Impuls...“ Begriffsarbeit und sprachliche Darstel-lung in Adornos Reflexion auf Auschwitz, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literatur-wissenschaft und Geistesgeschichte, hrsg. v. Richard Brinkmann, Gerhart v. Graevenitz und Walter Haug, Stuttgart 1996, 70. Jg., Heft 3, S. 501-523, hier: S. 504.)

sie in einer seiner geschichtsphilosophischen Thesen formuliert wird: „Das Staunen darüber, daß die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert

‚noch‘ möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus der er stammt, nicht zu halten ist.“197 Die Dinge, die im Zwanzigsten Jahrhundert passieren, sind nicht noch möglich, sondern nur oder erst in diesem. Sie sind noch immer möglich, heißt, daß es sie früher gab und sie nun wiederkom-men. Dieser Vorstellung von Geschichte als Fortschritt stellt sich hier Benja-min entgegen. Erkenntnis (Staunen) wäre erst die Abkehr von dieser Fort-schrittsgläubigkeit.

Zwischen dem Geschichtsbegriff von Horkheimer und Adorno und demjeni-gen Walter Benjamins gibt es Ähnlichkeiten, was sich zum Beispiel in den Formulierungen zum ‚Engel‘ und der Geschichte sehen läßt. Während Hork-heimer und Adorno in ihrer Engel-Formulierung in der vorliegenden These der Elemente des Antisemitismus die polemische Umkehrung von Fortschritt in Regression vollziehen, bleibt Benjamin in seiner Engel-Metapher nicht bei der Negation des Fortschritts stehen. Horkheimer und Adorno formulieren:

„Der Engel mit dem feurigen Schwert, der die Menschen aus dem Paradies auf die Bahn des technischen Fortschritts trieb, ist selbst das Sinnbild sol-chen Fortschritts.“198 Und Benjamin schreibt in seinen geschichtsphilosophi-schen Thesen: „Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastro-phe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschla-gene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst.

197 Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Gesammelte Schriften, Band I.2, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1978, S. 691-703, hier: VIII. These, S. 697.

198 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Kapitel: Elemente des Antisemitismus, V. These, a.a.O., S. 210.

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Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“199 Benjamins Engel-Metapher enthält durchaus einen Fortschritt, als kritischer Begriff, der den naiven Fortschrittsbegriff kritisiert: als der Wind, der vom Paradies herweht, der aus den uralten Hoffnungen der Menschen besteht, der den Engel der Geschichte vom Grauen unaufhaltsam wegtreibt. Der Wind verhindert zwar das Eingreifen des ‚Engels der Geschichte‘, der nicht mächtig ist, sondern erschrocken, bewahrt ihn aber zugleich davor, von dem Grauen erschlagen oder zugedeckt, was auch heißen könnte: in dieses integriert zu werden.

4.7 Antisemitismus als Ergebnis falscher Projektion (VI. These)