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Der gesellschaftlich notwendige Schein der Zirkulationssphäre In der bürgerlichen Gesellschaft ist es, wie Horkheimer und Adorno sagen,

4 Die Thesen I-VII der Elemente des Antisemitismus

4.4 Bürgerlicher Antisemitismus und gesellschaftlich notwendiger Schein der Zirkulationssphäre (III. These)

4.4.1 Der gesellschaftlich notwendige Schein der Zirkulationssphäre In der bürgerlichen Gesellschaft ist es, wie Horkheimer und Adorno sagen,

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hierzulande nicht nur in den Begründungen der offiziellen Ausländerpolitik, sondern auch für die Argumente einiger ihrer Kritiker üblich ist.

4.4 Bürgerlicher Antisemitismus und gesellschaftlich notwendiger

Standards: Heute wäre dies zum Beispiel ein Fernsehgerät.73 Auf diese Umstände spielen die Autoren an, wenn sie in dieser These formulieren:

„(...) die Arbeiter jedoch erhalten das sogenannte kulturelle Minimum.“74 Der Ausdruck „kulturelles Minimum“ bezieht sich darauf, daß das, was als notwendig für die Reproduktion der Ware Arbeitskraft gilt, nicht eine direkt aus natürlichen Umständen abzuleitende Größe ist, sondern durch spezifisch gesellschaftliche Faktoren determiniert wird. Dies sind zum einen Traditio-nen und Gewohnheiten, die lokal und zeitlich differieren könTraditio-nen, aber auch die Folgen sozialer Kämpfe, beispielsweise um Lohn, Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen. Die Gesamtheit all dieser nicht direkt aus der natürli-chen Beschaffenheit des menschlinatürli-chen Organismus resultierenden Faktoren, die mit darauf Einfluß nehmen, was und wieviel benötigt wird, um die Ware Arbeitskraft, das heißt das Arbeitsvermögen des Arbeiters, für eine bestimm-te Vernutzungszeitspanne zu produzieren, nennt Marx „historisches und moralisches Element“.75

Mit dem „Prinzip der Entlohnung“, das die Arbeiter gleichzeitig mit ihrem Lohn annahmen, ist gemeint, daß dem Arbeiter weniger zukommt, als er tat-sächlich produziert.76 Das „Unrecht der ganzen Klasse“77 der Eigentümer an Produktionsmitteln läßt sich nicht allein durch gerechtere Löhne überwinden, da die obengenannte Wertspanne, die den Mehrwert bildet, notwendig für die kapitalistische Warenproduktion ist.

73 Siehe hierzu: Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band, in:

Karl Marx und Friedrich Engels, Werke Band 23, Berlin 1988.

74 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Kapitel: Elemente des Antisemitismus, III. These, a.a.O., S. 203.

75 Karl Marx, Das Kapital, a.a.O., S. 185. Vgl.: „Die Summe der Lebensmittel muß also hin-reichen, das arbeitende Individuum als arbeitendes Individuum in seinem normalen Lebenszustand zu erhalten. Die natürlichen Bedürfnisse selbst, wie Nahrung, Kleidung, Heizung, Wohnung usw., sind verschieden je nach den klimatischen und andren natürli-chen Eigentümlichkeiten eines Landes. Andrerseits ist der Umfang sog. notwendiger Bedürfnisse, wie die Art ihrer Befriedigung, selbst ein historisches Produkt und hängt daher großenteils von der Kulturstufe eines Landes, unter andrem auch wesentlich davon ab, unter welchen Bedingungen, und daher mit welchen Gewohnheiten und Lebensansprü-chen die Klasse der freien Arbeiter sich gebildet hat. Im Gegensatz zu den andren Waren enthält also die Wertbestimmung der Arbeitskraft ein historisches und ein moralisches Ele-ment. Für ein bestimmtes Land, zu einer bestimmten Periode jedoch, ist der Durchschnitts-Umkreis der notwendigen Lebensmittel gegeben.“ (Ebd.)

76 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Kapitel: Elemente des Antisemitismus, III. These, S. 204.

77 Ebd., S. 203.

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Es ist anzunehmen, daß sich die Autoren im folgenden Satz auf ein Kapitel von Marx’ Kapital „Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“78, beziehen: „Die produktive Arbeit des Kapitalisten (...), war die Ideologie, die das Wesen des Arbeitsvertrags und die raffende Natur des Wirtschafts-systems überhaupt zudeckte.“79

Aus dem Doppelcharakter der Produzenten, als private und gesellschaftliche, entsteht nach Marx ein notwendig falscher Schein, den er als „gegenständli-chen Schein“ oder „Fetischismus“ bezeichnet.80 Das heißt, daß die beste-hende Realität sich selbsttätig der Erkenntnis des Einzelnen entzieht und den Anschein erweckt, naturgegeben und ewig zu sein.

Die Nazis machen den Unterschied zwischen „schaffendem“ und „raffen-dem“ Kapital, wobei sie unter dem ersteren dasjenige Kapital verstehen, das im Industrie- oder produktiven Sektor angelegt ist, und unter dem letzteren das im Kredit- und Zahlungssystem beziehungsweise in Banken und Handel angelegte Kapital. Ähnliche Unterscheidungen werden in politisch linksste-henden Kreisen gemacht, in denen Spekulanten (insbesondere Wohnraum-spekulanten) als besonders schlimme Kapitalisten angesehen werden. In bei-den Fällen resultiert daraus ein vorgeblich antikapitalistischer Antisemitis-mus. Hier treffen zwei Faktoren zusammen: Juden konnten aus historischen Gründen fast nur in der Zirkulationssphäre ökonomisch tätig werden, dies verband sich mit dem im Kapitalismus notwendig erzeugten Schein, daß die Ausbeutung nicht in der Produktions-, sondern der Zirkulationssphäre statt-findet, weshalb es die Unterscheidung zwischen vorgeblich guten und schlechten Kapitalisten gibt. Als Hauptaussage der III. These könnte angese-hen werden, daß im bürgerlicangese-hen Antisemitismus der Schein der Zirkula-tionssphäre als Ort der Ausbeutung seine Konsequenzen zeigt.

Hatten die Monarchen früher offene und unmittelbare Repression ausgeübt und war die Arbeit als Schmach verpönt, so verwandelte sich im Merkanti-lismus das Unrecht zum allseits anerkannten Unternehmen und die Arbeit zur bürgerlichen Tugend.

Daher sagen Horkheimer und Adorno: „Der bürgerliche Antisemitismus hat einen spezifisch ökonomischen Grund: die Verkleidung der Herrschaft in

78 Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band, a.a.O., S. 85ff.

79 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Kapitel: Elemente des Antisemitismus, III. These, a.a.O., S. 203.

80 Karl Marx, Das Kapital, a.a.O., S. 97.

Produktion“81, weil mit der Einführung des Arbeitsvertrages das Wesen der Produktion verdeckt wurde und die Menschen scheinbar nur in der Zirkula-tionssphäre betrogen und beraubt werden.

Horkheimer und Adorno versuchen in den Thesen zum Antisemitismus auf die Frage eine Antwort zu finden, woher der Haß kommt und weshalb er sich gerade gegen Juden richtet, aber nicht, warum hauptsächlich die Deutschen die Täter waren. Obgleich Wiggershaus behauptet, daß die erstgenannte Frage keine besondere Beachtung bei den Autoren findet82, lassen sich einige Textpassagen entdecken, die auf diese Problematik eingehen.

Aus der Perspektive der III. These läßt sich zusammenfassend sagen, daß die spezifische Stellung der Juden in der Diaspora, ihre Diskriminierung und Ausgrenzung aus anderen Wirtschaftszweigen83, eine wirtschaftliche Betäti-gung fast nur in der Zirkulationssphäre erlaubte. Die herausragenden Positio-nen, die einige Juden erlangten, wenngleich es nie die Mehrheit der Juden war, die in diesem Wirtschaftsbereich präsent und erfolgreich gewesen ist, führte zu dem Klischee, daß sie in der Zirkulationssphäre die Dominierenden seien. An diesem Vorurteil hatten besonders die Herrschenden Interesse, um vom Wesen der Produktionssphäre abzulenken. Da Juden zu den Vorreitern und „Kolonisatoren“ des kapitalistischen Fortschritts gehörten und zum Teil den Kapitalismus auf dem Lande einführten, zogen sie den Haß des ‚kleinen Mannes‘ auf sich.84 Der Haß der Völkischen speist sich aus der wirklichen oder imaginierten Erinnerung an die erlittene Herrschaft und „an das unter der Herrschaft Versäumte“85: „Der Bankier wie der Intellektuelle, Geld und Geist, die Exponenten der Zirkulation, sind das verleugnete Wunschbild der durch Herrschaft Verstümmelten, dessen die Herrschaft sich zu ihrer eigenen Verewigung bedient.“86

81 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Kapitel: Elemente des Antisemitismus, III. These, a.a.O., S. 202.

82 Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, München 1988, S. 379.

83 „Zum Eigentum an den Produktionsmitteln hat man sie nur schwer und spät gelangen las-sen.“ (Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Kapitel: Ele-mente des Antisemitismus, III. These, a.a.O., S. 204.)

84 Ebd.

85 Rolf Wiggershaus, a.a.O., S. 379.

86 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Kapitel: Elemente des Antisemitismus, III. These, a.a.O., S. 202.

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