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UNTERNEHMERIN KOMMUNEKommunalfinanzen

Pfleiderer:

Auch aus heutiger Sicht erweist sich die Idee des Gemeinschaftsprojektes als wirkliches Erfolgsge-heimnis für den erfolgreichen Thüringer Weg zur Doppik. Wichtige Ergebnisse waren die Vorschlä-ge zur Formulierung der RechtsgrundlaVorschlä-gen und die Erarbeitung einer Vielzahl von praxisnahen Arbeitshilfen, die in die Gesetzgebungsverfahren einflossen. Seit dem Start der Implementierung im Jahr 2009 unterstützt der Freistaat diesen Prozess durch den Betrieb eines eigenen Internetportals, die Frühstarterkonferenzen, eine Projekthotline und ein weiteres Beraterprojekt zur schnellen Klä-rung konkreter Fragen aus der Praxis.

Interessen der Kommunen müssen im Vordergrund stehen UNTERNEHMERIN KOMMUNE + FORUM NEUE LÄNDER:

Wir sind sicher, Sie machen Doppik „made in Thüringen“, weil Sie überzeugt sind, dies sei der beste aller Wege. Nennen und begründen Sie uns bitte diese Vorzüge?

Bender:

Zu sagen, Doppik „made in Thüringen“ sei der beste aller Wege, wäre anmaßend. Unter den gegebenen Bedingungen aber ist er unstrittig der beste für Thüringen. Da der Zeitpunkt eines bundeseinheitlich gemeinsamen Konzepts spätes-tens mit der IMK-Entscheidung vom November 2003 verpasst war, blieb Thüringen keine Wahl:

Wir mussten uns an eines der bestehenden Kon-zepte anschließen und dieses an die spezifischen Verhältnisse in Thüringen anpassen. Wir ent-schieden uns für das rheinland-pfälzische Modell, das auch Grundlage für die Doppikumstellung in Mecklenburg-Vorpommern war und setzten es im Rahmen der thüringischen Optionslösung um.

Daraus ergaben sich folgende Vorteile: Erstens schloss es von Anfang an die erweiterte Kameralis-tik aus. Zweitens setzen wir auf einen freiwilligen Umstellungsprozess. Die Erfahrungen anderer Länder zeigen, dass es problematisch ist, die Ein-führung gegen die Kommunen durchzuführen.

Es waren schließlich die Kommunen und deren Spitzenverbände die das Thema „kommunale Doppik“ in den 90er Jahren auf die Tagesordnung setzten und als Chance zur Umsetzung der neuen Steuerungsmodelle nutzen wollten. Daher sollten die Länder auch heute darauf achten, dass die Interessen der Kommunen bei der Umstellung im Vordergrund stehen. Weil die Kommunen beim Start nicht über gleiche Voraussetzungen verfü-gen, ist eine Freiwilligkeitsphase unverzichtbar.

Pfleiderer:

In Thüringen können die Kommunen die kom-munale Doppik seit 2009 anwenden. Wir

plä-dieren dafür, schnell mit der Umstellung zu beginnen, diese jedoch sorgfältig vorzubereiten, insbesondere durch entsprechende Fortbildungen für die Mitarbeiter. Zu einer solchen Philosophie ist eine kurze Fristsetzung nicht kompatibel.

Früher oder später müssen wir jedoch wieder zu einem einheitlichen kommunalen Rechnungswe-sen zurückkehren. Man kann also nicht bis zum

„Sankt-Nimmerleinstag“ warten, dass auch die letzte Kommune diesen Weg freiwillig geht.

Ich will an dieser Stelle folgendes grundsätz-lich klarstellen: Ziel der Reform ist nicht die Dop-pik. Diese ist vielmehr das Mittel zum Zweck. Sie liefert die Steuerungsinstrumente für ein drin-gend gebotenes nachhaltiges Wirtschaften. Das wiederum ist die Grundlage für einen objektiven Vergleich der Kommunen und einen gerechten Finanzausgleich unter den Bedingungen der sich strukturell verschlechternden Finanzausstattung.

Mitarbeiterfortbildung ist die wichtigste Aufgabe

UNTERNEHMERIN KOMMUNE + FORUM NEUE LÄNDER:

Das Stichwort Gemeinschaftsprojekt ist bereits gefallen. Welchen Platz hat es im Implementierungsprozess?

Bender:

Das Gemeinschaftsprojekt ist mit den NKF-Konferenzen sowie einer Arbeitsgruppe zur Erar-beitung von Mustern für Dienstanweisungen in eine zweite Projektphase eingetreten. Daneben wird das Internetportal des Projekts (nkf-thuer.de) gepflegt und erweitert. Hier werden z.B. häufig gestellte Fragen der Kommunen beantwortet. Das Gemeinschaftsprojekt hat bei der Unterstützung der Kommunen auch künftig eine tragende Rolle.

Pfleiderer:

Die praktisch nahezu vollständige kommuna-le Mitwirkung war und ist maßgeblich für die hohe Akzeptanz der gesetzlichen Regelungen.

UNTERNEHMERIN KOMMUNE + FORUM NEUE LÄNDER:

Wo stehen Sie auf dem Marsch ins doppische Zeitalter, und was waren die größten Stolper-steine auf der bisherigen Wegstrecke?

Bender:

Von den ca. 260 selbst buchenden Kommunen in Thüringen haben 5 Kommunen die Umstel-lung abgeschlossen, rund 30 weitere befinden sich im Umstellungsprozess. Probleme zeigen sich dort, wo die Kommunen mit unzureichen-der Vorbereitung und Planung in die Doppik

„hineinstolpern“. Deshalb bleibt die Fortbil-dung der Mitarbeiter für die nächsten Jahre eine

der wichtigsten Aufgaben. Ohne das Verständ-nis der Mitarbeiter für das neue System wird es keine ausreichende Akzeptanz für die Reform-bestrebungen geben. Die Kommune muss die kommunalen Vertretungen genauso wie die Mitarbeiter gewinnen. Das gelingt nur über Fortbildung und Information.

Pfleiderer:

Nur eine funktionierende Software gewährleis-tet einen reibungslosen Umstellungsprozess.

Gefordert sind nicht nur die Entwicklungs- und Vertriebsfirmen, sondern auch die Kommunen. Sie dürfen sich bei der Program-mauswahl nicht auf Versprechungen Dritter verlassen, sondern sind gut beraten, die Pro-gramme selbst eingehend prüfen. Kleine Kom-munen sollten diese Evaluierung im Rahmen von Kooperationen vornehmen.

Erfahrungsaustausch hat höchste Priorität

UNTERNEHMERIN KOMMUNE + FORUM NEUE LÄNDER:

Herr Bender, auch in Thüringen wird – ähnlich wie in anderen Ländern – für die Doppik-Ein-führung externer Sachverstand genutzt. Warum, und mit welchen praktischen Erfahrungen?

Bender:

Externer Sachverstand kann den Kommunen helfen, aber nicht die Kompetenz der verant-wortlichen Mitarbeiter ersetzen. Darum kann die Inanspruchnahme von Beratern immer nur Hilfe zur Selbsthilfe sein. Ich setzte hier in erster Linie auf Fortbildung, da der Sachverstand letztlich in der Kommune angesiedelt sein muss. Was von den kommunalen Mitarbeitern nicht verstanden wird, kann nicht Grundlage des kommunalen Haushalts- und Rechnungswesens sein. Darum sage ich ein klares „Ja“ zur Fortbildung der kom-munalen Mitarbeiter und ein „Vorsicht!“ zur Beratung. Nicht jedes Beratungsunternehmen leistet seriöse und kompetente Beratung.

In Thüringen schätzen wir das Engagement der Mittelrheinischen Treuhand nicht zuletzt im Bereich der Fortbildung. Es wurden Bildungs-pläne erarbeitet, die jetzt durch die beiden kom-munalen Spitzenverbände umgesetzt werden.

Auch hier wirkt die Mittelrheinische Treuhand mit. Wichtig, auch für die Motivation der Mit-arbeiter, ist die in Thüringen bestehende Mög-lichkeit eines qualifizierten IHK-Abschlusses.

UNTERNEHMERIN KOMMUNE + FORUM NEUE LÄNDER:

Herr Pfleiderer, seit wann ist die Mittelrhei-nische Treuhand dabei und wo liegen die Schwerpunkte ihrer Mitwirkung?

Pfleiderer:

Die Mittelrheinische Treuhand wirkt seit dem Jahr 2004 an der Doppik-Einführung mit.

Bevor wir im Freistaat Thüringen tätig wurden, haben wir im Rahmen eines ähnlichen Projektes die Umstellung in Rheinland-Pfalz auf den Weg gebracht. Zuständig sind wir auch für den Pro-zess in Mecklenburg-Vorpommern.

In Thüringen haben wir uns in der ersten Phase auf die Formulierung des Regelwerkes konzent-riert. Erstmals wurde beispielsweise ein Leitfaden für den Gesamtabschluss und die Buchführung im Bereich Jugend und Soziales erarbeitet.

Wir sehen uns als Ideengeber und setzen Impulse für die Diskussionen. Als direkt Betei-ligter lege ich größten Wert darauf, dass alle Fra-gen und Probleme im Konsens beantwortet bzw.

gelöst werden.

UNTERNEHMERIN KOMMUNE + FORUM NEUE LÄNDER:

Ein Instrument des Know-how-Transfers sind die sogenannten NKF-Konferenzen. Die zweite fand am 30. Juni in Erfurt statt. Ein-geladen waren Kommunen, die die Umstel-lung von der Kameralistik auf die Doppik ab dem Haushaltsjahr 2012 oder später planen.

Neben dem Ilm-Kreis, dem Wartburgkreis und den kreisfreien Städten Erfurt und Suhl waren die Städte Saalfeld, Sondershausen, Geisa sowie die Verwaltungsgemeinschaft

„Am Brahmetal“ vertreten. Auf der Tagesord-nung standen praktische Fragen der Umstel-lung, u.a. zur Erfassung und Bewertung des kommunalen Vermögens mit den Schwer-punkten Bewertung von Außenanlagen, Gebäudeanbauten, Straßen und Aktivierung von Eigenleistungen. Weitere Schwerpunkte waren die Bilanzierung von Zuwendungen und Zuschüssen, die Bildung von Produk-ten und die interne Leistungsverrechnung.

Wie lautet Ihr Fazit dieser und der ersten NKF-Konferenz?

Bender:

Der Erfahrungsaustausch zwischen den Kom-munen hat oberste Priorität. Es macht keinen Sinn, wenn jede Kommune das Rad immer wieder neu erfindet. Deshalb werden wir die NKF-Konferenzen fortsetzen und die Zusam-menarbeit zwischen den Kommunen nach Kräften unterstützen. Die bisherigen Veran-staltungen wurden von den Teilnehmern ganz überwiegend positiv beurteilt. Kommunen, die untereinander den “kurzen Draht“ pfle-gen oder sich zu „Umstellungsgemeinschaften“

zusammentun, werden die Implementierung erfolgreicher und kostengünstiger meistern. Wir unterstützen jede Initiative, die den Kommunen auf dem Weg zur Doppik weiter hilft.

Es geht um die Optimierung kommunaler Entscheidungsprozesse UNTERNEHMERIN KOMMUNE + FORUM NEUE LÄNDER:

Quer durch Deutschland hören wir gerade von kleinen und mittleren Kommunen, dass der Aufwand zur Einführung und Praktizie-rung der Doppik in keinem Verhältnis zum Erkenntnisgewinn stehe, erst recht unter dem Aspekt, dass die personellen und finanziellen Ressourcen in Zukunft noch weiter und ganz erheblich dahin schmelzen werden. Wie lau-tet Ihre Antwort?

Bender:

Wir gestalten die kommunale Doppik so, dass der Umstellungsaufwand und der Aufwand für das laufende Buchungsgeschäft auf ein Mini-mum reduziert werden. Die Grenzen liegen dort, wo die Darstellung der Vermögens-, Ergebnis- und Finanzlage der Kommune in ihrer Qualität beeinträchtigt würde. Die Doppik soll bessere Daten als Grundlage für Haushaltsplanung und Haushaltsbewirtschaftung liefern und die kom-munalpolitischen Entscheidungsprozesse opti-mieren. Wer das in Frage stellt, könnte auf die kommunale Doppik ganz verzichten.

Bei der Ermittlung von Vergleichs- und Erfahrungswerten für die Eröffnungsbilanz können wir den Umstellungsaufwand erheb-lich reduzieren, nicht aber bei der Bewertung zukünftiger zahlungswirksamer Belastungen und bestehender Risiken, die sich zum Beispiel aus kreditähnlichen Rechtsgeschäften, Bürg-schaften oder Gewährverträgen ergeben.

Eine Kommune, die auf eine effiziente Auf-gabenerledigung mit einer kameralistischen Rechnungslegung ausgerichtet ist, wird die Umstellung auf die Doppik ohne größere Pro-bleme bewältigen. Die Doppikumstellung ist daher nicht abhängig von der Gemeindegröße, sondern von der Qualifikation der Mitarbeiter und der Effizienz der Strukturen.

Pfleiderer:

Bei undifferenzierter Betrachtung wäre die von Ihnen kolportierte Einschätzung korrekt. Viele Kommunen haben sich im Umstellungsprozess stark auf die methodische Seite konzentriert.

Dabei haben manche übersehen, dass der Kern der Reform die inhaltliche Qualifizierung des Haushaltswesens ist. Die Doppik liefert – sofern dies zeitnah erfolgt – die notwendigen Informa-tionen zur operativen und strategischen Steue-rung. Gerade hier besteht der größte Bedarf an Optimierung. Das zeigt auch folgendes: es gibt zwar doppische Haushaltspläne, es mangelt aber daran, Kernziele zu bestimmen und Kennzahlen zur Zielerreichung zu definieren.

UNTERNEHMERIN KOMMUNE + FORUM NEUE LÄNDER:

Wir haben biblisch begonnen und wollen unter Hinweis auf die Heilige Schrift auch enden:

eine weitere Kritik der kommunalen Familie betrifft das öffentliche Wasser predigen und heimliche Wein saufen: zu deutsch: die Länder verordnen den Kommunen Doppik, bleiben selbst aber weiter kameral. Was entgegnen Sie?

Bender:

Als Mitarbeiter des Thüringer Innenministeri-ums will ich mich nicht zu Aufgaben äußern, für die das Thüringer Finanzministerium zuständig ist. Wenn Sie mich nach meiner privaten Mei-nung fragen, so bin ich der Auffassung, dass sich die Doppik auch im staatlichen Bereich durch-setzen wird. Der Kurswechsel dauert bei den

„großen Tankern“ aber etwas länger.

Das Interview führte Michael Schäfer Thüringer Innenministerium Steigerstraße 24

99096 Erfurt

Ansprechpartner: Joachim Bender  Tel.:  0361 / 37 93 525

Fax:  0361 / 37 93 9 525

E-Mail: Joachim.Bender@tim.thueringen.de Olaf Becker

Tel.: 0361 / 37 93 703

Fax: 0361 / 37 93 9 703       E-Mail : Olaf.Becker@tim.thueringen.de Projektbüro Neues Kommunales Finanzwesen Schillerstraße 24

99096 Erfurt Tel.: 0361 / 34 86 750 Fax: 0361 / 34 86 753

E-Mail: pfleiderer@m-treuhand.de UNSERE GESPRÄCHSPARTNER Joachim Bender wurde 1962 in Karlsruhe geboren. Nach dem zweiten Staatsexamen begann er 1993 seine Tätigkeit beim Thü-ringer Landesverwaltungsamt in Weimar.

2005 wechselte er als stellvertretender Re-feratsleiter - Referat „Kommunale Finanzen, Kommunaler Finanzausgleich“ – in das Thü-ringer Innenministerium. Joachim Bender ist geschieden und hat zwei Kinder

Hartmut Pfleiderer wurde 1967 in Sü-ßen bei Stuttgart geboren. Sein Studium an der TU München schloss er 1992 als Diplom-Gartenbauingenieuer an. Danach begann er eine Tätigkeit bei PwC. 1997 wurde er Steu-erberater, 2001 Wirtschaftsprüfer. Seit 2006 ist er bei der Mittelrheinischen Treuhand tä-tig. Hartmut Pfleiderer ist verheiratet und hat drei Kinder

45 UNTERNEHMERIN KOMMUNE + FORUM NEUE LÄNDER • DEZEMBER 2010

UNTERNEHMERIN KOMMUNE

UNTERNEHMERIN KOMMUNE + FORUM NEUE LÄNDER:

Welche Rolle spielen strategische Szenarien zu den Themen Klimaschutz, Finanzausstattung und demografische Entwicklung bei den all-täglichen Diskussionen in Ämtern, kommuna-len Vertretungen und Verkehrsgesellschaften?

Dr. Wilhelm Benfer:

Die demografische Entwicklung wird uns nicht so hart treffen, wie andere Orte in den Neuen Bundesländern. Bis 2020 wird die Bevölkerung noch relativ stabil bleiben. Der danach auch bei uns einsetzende Knick nach unten ist nicht so dramatisch, wie in den Berlin-fernen Regionen.

Wir wissen noch nicht genau, wie sich die Ver-schiebung der Altersgruppen auf unser Geschäft auswirken wird, setzen aber schon seit einigen Jahren immer stärker auf Niederflurbusse.

Auch ökologische Aspekte spielen bei uns eine große Rolle. In der Kreisstadt Eberswalde verkehrt eine der wenigen O-Bus-Flotten in Deutschland. Mitte der 90er Jahre wurde die gesamte Flotte ersetzt, wobei im Vorfeld intensiv die Systementscheidung zwischen herkömmli-chen Bussen und O-Bussen diskutiert wurde.

Auch aus Klimaschutzgründen hat man sich für Letztere entschieden, obgleich man in der aktu-ellen Versorgungslandschaft nie ganz sicher sein kann, wie umweltfreundlich der genutzte Strom produziert wurde. Wir wollen im Landkreis den Einsatz erneuerbarer Energien fördern – sowohl in der Produktion als auch im Verbrauch. Mög-licherweise können wir die regionale Produk-tion in Zukunft eindeutig mit einem großen regionalen Verbraucher, wie der Busgesellschaft, verknüpfen.

UNTERNEHMERIN KOMMUNE + FORUM NEUE LÄNDER:

Hat ein Stadtrat in Leipzig angesichts der gigan-tischen Dimensionen aktueller Probleme über-haupt die Zeit, sich um solche Details oder auch um langfristige Projektionen zu kümmern?

Roland Quester:

Auch für Leipzig weisen die demografischen Tendenzen noch in eine andere Richtung, als im großen Rest der Neuen Bundesländer. Bis 2014 wird die Stadt wieder auf 520.000 Ein-wohner wachsen. Vor wenigen Jahren lagen wir noch unterhalb der halben Million. Der

nach wie vor bestehende Sterbeüberschuss wird durch Wanderungsgewinne mehr als ausgegli-chen. In der Peripherie gibt es unterschiedliche Entwicklungen.

Sicherlich wäre ein einzelner Stadtrat mit den großen Themen überfordert. Unsere Auf-gabe ist es, ein Bewusstsein für diese Fragen zu entwickeln und zu kontrollieren, ob die Fach-leute damit richtig umgehen. Im Augenblick stellt sich auch für den ÖPNV vermehrt die Problematik der finanziellen Ausstattung. Die sächsische Staatsregierung plant eine Kürzung der finanziellen Mittel um 60 Millionen Euro.

Es wäre eine Katastrophe für den ÖPNV, wenn das so durchgesetzt wird. Alle Experten, selbst die der Regierungskoalition, waren sich einig, dass damit eine Einschränkung von Leistungen und eine Erhöhung von Fahrpreisen verbunden wären. Zudem würden die Mittel für notwendi-ge Investitionen in den Klimaschutz fehlen.

In Leipzig wird der ÖPNV nicht mehr aus dem Haushalt finanziert, sondern über einen Querverbund, bei dem die Defizite durch die Stadt- und Wasserwerke ausgeglichen werden.

Es ist deshalb zu erwarten, dass sich die aktu-ellen personalpolitischen Kontroversen bei den Wasserwerken auch massiv auf die Finanzierung des ÖPNV in der Stadt auswirken werden.

Sachsen als Blaupause für ganz Deutschland

UNTERNEHMERIN KOMMUNE + FORUM NEUE LÄNDER:

Wie reagieren die Praktiker im Leipziger Nah-verkehrsverbund auf diese Problemstellun-gen? Wie können Sie den Ausgleich zwischen ÖPNV

LEIPzIGER DISKUSSIONSRUNDE zUR zUKUNFT DES ÖPNV

„Ein irres System“

Einhellige Forderung nach einer Entflechtung der politischen Regulierung

D

er ÖPNV befindet sich wie alle Sparten der Daseinsvorsorge im Problemfeld zwischen Klimaschutz, demografischer Entwicklung und der Finanzkrise der Kommunen. Bis zum Jahr 2025 werden wir in Ostdeutschland neun Prozent der Einwohner verlieren. Der Anteil der Über-65jährigen wird um fast ein Viertel steigen. Unter der Voraussetzung gleich bleibender Bedingungen galoppieren uns die Finanzen davon. Für den Bund ist bis 2025 eine Deckungslücke von 80 Milliarden Euro zu erwarten. Das sind 24 Prozent des aktuellen Haushalts. Hauptgründe sind die wachsende Zahl der Transferempfänger und die explodierenden Zinslasten. In den Neuen Bundesländern wird die Haushaltsausstattung um 20 bis 30 Prozent sinken. Angesichts einer veränderten Bevölkerungsstruktur mit immer mehr Transferempfängern werden sich die Gemeinden fast zwangsläufig neu verschulden müssen.

In der sich zuspitzenden Konkurrenz um die besten Fachkräfte werden sich die Regionen durchsetzen, die die besten Bedingungen anbieten können. Schon jetzt gibt es wieder leichte Zuwächse in der Ost-West-Migration. Und es sind weiterhin vor allem die bestens ausgebildeten Frauen, die das Land verlassen, in Stuttgart oder anderswo heiraten und dort ihre Kinder bekommen. Demografische Rechnungen sind verlässlich, weil der Ausgangszustand definiert ist und Kinder nicht rückwirkend geboren werden können. Die Politik muss aufhören, einen unumkehrbaren Prozess umkehren zu wollen. Vielmehr sollte sie geeignete Konzepte entwickeln, um den Entwicklungen angemessen zu begegnen. Der ÖPNV als Kernsparte der Daseinsvorsorge steht im Zentrum solcher Szenarien. UNTERNEHMERIN KOMMUNE + FORUM NEUE LÄNDER versuchte den Praktikern in Ostdeutschland Lösungskonzepte zu den Themen Klimaschutz, kommunale Finanzausstattung und dem über allem schwebenden Damoklesschwert der demografischen Entwicklung zu entlocken.

Die Runde traf sich im Seaside Hotel Leipzig direkt gegenüber vom Hauptbahnhof

einem wachsenden Stadtgebiet und einer sich allmählich ausdünnenden Peripherie herstellen?

Andreas Glowienka:

Unsere Verträge haben eine Laufzeit von zehn bis 15 Jahren. Natürlich müssen wir uns mit den genannten Fragestellungen auseinanderzu-setzen und tun das mit der gebotenen Seriosität und Belastbarkeit. Im Regionalverkehr haben wir das Problem, dass sich Leipzig zwar posi-tiv entwickelt, die Mittelzentren in der Regi-on aber rapide an Einwohnern verlieren. Ab einer bestimmten Grenze von Auslastung und Effizienz kann dorthin kein Schienenverkehr mehr erfolgen. Man muss sich entscheiden, ob man die sich selbst tragenden Räume stüt-zen oder das Geld in Kommunen mit schwie-riger Zukunftsprognose investieren will. Wir müssen versuchen, den goldenen Mittelweg zu finden. Gerade unter den gegebenen demogra-fischen Problemstellungen sollten wir uns eher

an der Nachfrage, als am Angebot orientieren – schlicht deshalb, weil sich einige Angebote gar nicht mehr rechnen können. Die traditionellen Busverbindungen wollen wir stärker mit dem Konzept der Anruf-Sammel-Taxis verknüpfen.

Wir lernen hier auch von den Erfahrungen im Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg.

Im vergangenen Jahr wurde in Zusammen-arbeit mit 13 Bundesländern ein Bericht des Deutschen Städtetages zu den Auswirkungen der Finanzkrise erstellt. Daraus ergibt sich ein enormer Finanzierungsbedarf. Um seine Subs-tanz erhalten zu können, bräuchte der ÖPNV in Deutschland eine Dynamisierung von etwa zwei Prozent. Dies ist unter den gegebenen Umständen vollkommen unrealistisch und so schlägt die Finanzkrise auch bei uns durch.

Hinzu kommt, dass die Mittel für den ÖPNV teilweise zweckentfremdet werden, indem der Regionalisierungsfonds zur Haushaltskonsoli-dierung genutzt wird.

Man kann nicht über Finanzen sprechen ohne die Strukturen zu erwähnen. Die sächsi-sche Konstruktion mit fünf Zweckverbänden im ÖPNV wird nur bei schönem Wetter halten.

Die Landesregierung bestimmt, welche Investi-tionsmaßnahmen im Freistaat Sachsen realisiert werden, kümmert sich aber nicht um deren Nutzung. Mit der Schaffung der Zweckverbän-de in Sachsen sind operative Verantwortung und finanzielle Zuständigkeit immer weiter ausein-andergedriftet. Auf der anderen Seite förderte die lokale Verantwortung Partikularinteressen, die gemeinsamen Lösungskonzepten im Wege stehen. Die Finanzmittel fließen dahin, wo sie zwar politisch gewollt sind, operativ aber weni-ger gebraucht werden, als anderswo.

Hinsichtlich der Diskussion um Emissions-gesetzgebung und Versteuerung überlegt die Bundesregierung, Eisenbahnverkehrsunterneh-men noch vor dem motorisierten Individualver-kehr zusätzlich zu belasten. Für die Entwicklung des ÖPNV wäre dies absolut kontraproduktiv.

Alexander Möller:

Sachsen ist die Blaupause für den ÖPNV in ganz Deutschland. Hier gibt es kein Problem, das es nicht auch anderswo gibt. Politisch und geogra-phisch ist der Freistaat außerordentlich vielfältig.

Mal gibt es mehr Menschen, mal weniger, mal eine kluge Landesregierung, mal eine weniger kluge, mal mehr Geld und mal weniger. In allen unternehmerischen Fragen beschäftigen wir uns mit vier Megatrends – Umwelt, demogra-fische Entwicklung, Globalisierung und Libe-ralisierung. Die Demografie ist allerdings das Element, das alle anderen Themen überlagert und beeinflusst. Hier müssen wir überlegen, was schrumpfende Gesamtbevölkerung und die Verschiebung zwischen den Altersgruppen für unsere Angebote, Produkte, Fahrzeuge und die Finanzierung bedeuten.

Wir müssen allen Menschen gerecht wer-den – auch wer-denen, die in ihrer Mobilität ein-geschränkt sind. Doch die Antworten müssen auch wirtschaftlich passen. Hinsichtlich der Infrastruktur sind wir gnadenlos unterfinan-ziert. Uns fehlt ein hoher zweistelliger Milliar-denbetrag und so hat manche Verspätung im Personenverkehr auch damit zu tun, dass die Netze überlastet sind.

Im Betrieb wird die öffentliche Hand nie wieder so viel Geld ausgeben können wie heute.

Die Finanzierung steht ja auf zwei Füßen. Die öffentlichen Zuschüsse werden aufgrund der geschilderten Tendenzen sukzessive zurückge-hen. Für die Nutzerentgelte gilt das Gleiche.

Wir müssen den Bürgern attraktive Angebote machen, die sie nutzen können und auch nutzen wollen. Das darf aber nicht in einem Preisdum-ping enden. Schon heute stehen einige Angebote in keinem Verhältnis zu der von uns erbrachten Leistung. Wir dürfen nicht nur die öffentlichen Zuschüsse betrachten, sondern müssen auch die Finanzierung durch unsere Kunden im Auge behalten.

Wachstumskerne und die leer laufende Fläche

UNTERNEHMERIN KOMMUNE + FORUM NEUE LÄNDER:

Die großen Leistungserbringer im ÖPNV-Markt sind gehalten, Konzepte für die Quadratur des Kreises zu entwickeln. Einer kleinen kreislichen Busgesellschaft fehlen dazu aber die entsprechenden Ressourcen.

Die großen Trends manifestieren sich über-all. Inwiefern können die verschiedenen Unternehmen hinsichtlich konzeptioneller Lösungsansätze voneinander profitieren?

Möller:

Auch in einigen Regionen der alten Bundes-länder vollziehen sich ähnliche demografische Prozesse, wie im Osten Deutschlands. Doch die Trendumkehr war hier noch nicht radikal genug.

Über Jahrzehnte verdienten die Verkehrsun-ternehmen viel Geld mit öffentlichen Mitteln.

Mancher Bus fuhr zweimal ums Gefängnis, nur weil damit die Strecke länger wurde. Heute müssen wir uns mit Konzepten, wie dem Anruf- oder dem Bürgerbus beschäftigen.

Wenn eine unserer Gesellschaften mit einem Projekt Erfolg hat, übernehmen es alle ande-ren. In Bezug auf ein unternehmensübergrei-fendes Lernen bin ich jedoch skeptisch. Die

Andreas Glowienka

Alexander Möller