• Keine Ergebnisse gefunden

Brandenburg ist nicht mehr Höchstfördergebiet der EU

VfkE-Landesveranstaltung Brandenburg

In Brandenburg traf sich die kommunale Gemeinde am 21. Oktober in Potsdam. Am Ufer des malerischen Templiner Sees wurde über die aktuellen Herausforderungen für Kommunen und ihre Unternehmen diskutiert. Der Schwedter Bürgermeister Jürgen Polzehl sprach als Mitglied der Koordinierungsgruppe des Verbundnetzes für kommunale Energie (VfkE) die ersten Worte der Begrüßung. Er beleuchtete dabei vor allem die Situation in seiner Stadt. In den vergangenen Jahren sei in Schwedt ein sinnvolles Netzwerk an kommunalen Unternehmen entstanden, mit dem Synergien für Stadtentwicklung und für die Bürger gehoben werden konnten. Trotz des enormen Bevölkerungsrückgangs konnte ein großer Teil der technischen und sozialen Infrastruktur erhalten werden. „Wir waren in der Pflicht 6.000 Wohnungen abzureißen und haben in der Kür das Gesicht der Stadt erheblich aufgewertet“, so Polzehl. Nun müsse die Stadt versuchen, der demographischen Entwicklung entgegenzusteuern. Schwedt war eines der Analyseobjekte für die Eberswalder Studie zur Entwicklung der Kommunalwirtschaft im Jahre 2025. „Wir freuen uns auf die wissenschaftlich fundierten Anregungen, wie wir unseren Aufgaben auch in Zukunft gerecht werden können“, so Polzehl abschließend.

Das Hauptreferat war Ralf Christoffers, Brandenburger Landesminister für Wirtschaft und Europaangelegenheiten, vorbehalten. Er widmete sich hier vor allem dem wachsenden Einfluss der europäischen Ebene auf die Rahmenbedingungen für kommunalwirtschaftliches Handeln.

Hier einige Auszüge:

In der aktuellen Legislaturperiode bis 2013 fal-len Entscheidungen mit großer Tragweite für die Zukunftsfähigkeit des Landes Brandenburg.

Wir stehen vor der Aufgabe, trotz zurückgehen-der Finanzmittel wirtschaftliche und regionale Entwicklung sowie Daseinsvorsorge zukunfts-sicher zu organisieren. Bis 2014 wird das Land Brandenburg das 75 Prozent-Kriterium der EU überschritten haben und damit aus dem Höchst-fördersatz der Europäischen Union herausfallen.

Das liegt zum einen an den statistischen Effek-ten der EU-Ost-Erweiterung, zum anderen aber auch an der gestiegenen Wirtschaftskraft im Land. Wir sollten uns nicht darüber beklagen, dass wir nicht mehr zu den strukturschwächsten Räumen Europas gehören. Die Kommunen können stolz sein auf ihren großen Anteil an dieser insgesamt positiven Entwicklung.

Insgesamt 121 Regionen Europas betreiben in Brüssel ein Büro, über das sie ihre Interessen vertreten. Wir sind eine davon. Die

Leitlini-en zum Strukturfonds im Jahre 2014 werdLeitlini-en bereits im kommenden Jahr festgezurrt. Wenn wir nicht schon jetzt aktiv werden, werden wir die Interessen des Landes nicht angemessen ver-treten können. Sobald wir eine finanzielle Vor-ausschau erstellen können, werden wir auch auf die Kommunen zugehen. Bei der Ausformulie-rung der Entwürfe zum Strukturfonds ist man erstmals auch bereit, Spezialisten aus Branden-burg einzubeziehen. Selbstverständlich werden wir uns davor mit den kommunalen Spitzenver-bänden im Land abstimmen.

„Auch in 15 Jahren noch ein Standort mit guter Infrastruktur“

In den länderübergreifenden Beratungen wird immer wieder darauf verwiesen, dass sich der Nachholbedarf in puncto Infrastruktur zuneh-mend vom Osten in den Westen verlagert. In dieser politischen Stimmungslage werden die

Transferzahlungen in die Neuen Bundesländer zunehmend in Frage gestellt. Wir werden uns genau überlegen müssen, welche Infrastruktur wir benötigen, um bei der absehbaren demo-graphischen Entwicklung öffentliche Daseins-vorsorge sicherstellen zu können. Müssen wir angesichts eines vollkommen überdimensio-nierten Wasser- und Abwasserbereichs ernsthaft über Rückbau nachdenken, um Kostenexplosio-nen in der Zukunft zu vermeiden? Oder könKostenexplosio-nen wir mit der vorhandenen Infrastruktur zu geeig-neten Lösungen kommen?

Im Zuge der demographischen Entwick-lung müssen wir nicht nur mit einem gene-rellen Rückgang der Bevölkerung, sondern auch mit Überalterung und Binnenmigration rechnen. Fern der Hauptstadt müssen wir uns überlegen, ob wir nicht Ankerstädte schaffen, an denen öffentliche Daseinsvorsorge geballt vorgehalten wird. Mit einer durchschnittlichen Bevölkerungsdichte in der Uckermark von etwa

Auf dem Podium in Potsdam vertreten: Jürgen Polzehl, Bürgermeister von Schwedt/Oder, Hubert Handke, Bürgermeister von Bernau, Ralf Christoffers, Minister für Wirtschaft und Europaangelegenheiten in Brandenburg, und Prof. Dr. Michael Schäfer, Herausgeber und Chefredakteur von UNTERNEHMERIN KOMMUNE + FORUM NEUE LÄNDER, von l.n.r.

VfKE

40 Einwohnern pro Quadratkilometer bewe-gen wir uns schon heute in skandinavischen Dimensionen. Von dort können wir lernen, dass Kommunen nur gemeinsam eine wirtschaftlich angemessene Form der Daseinsvorsorge leisten können. Im Berlin-nahen Raum wird es dage-gen einen zusätzlichen Bedarf geben. Ohne die Kommunalwirtschaft werden wir diese wichti-gen strukturellen Weichen nicht stellen können.

Angesichts der demographischen Entwicklung müssen wir uns fragen, wie wir als Wohnort langfristig attraktiv bleiben. Dass junge Men-schen nach ihrem Studium in die Welt ziehen, halte ich für normal und sinnvoll.

Doch wir müssen Anreize setzen, damit sie wieder zurückkommen. Sie wissen zum Teil gar nicht, dass sich auch in der Heimat eine loh-nenswerte Perspektive bietet. Wir müssen auch weiterhin dafür sorgen, dass die Einkommen konkurrenzfähig bleiben. Und es gibt durchaus Gründe, optimistisch zu sein. Bei der Schie-nenverkehrstechnik sind wir noch vor Nord-rhein-Westfalen die führende Region innerhalb Deutschlands. Zusammen mit Berlin stehen wir auch im Bereich Bio-Technologie an der Spitze.

Das gleiche gilt für die Ernährungswirtschaft.

Bei Luft- und Raumfahrt sind wir mittlerwei-le die dynamischste Region und auch bei der Kommunikationstechnologie liegen wir bundes-weit im Spitzenfeld. In all diesen Bereichen wird händeringend nach qualifizierten Arbeitskräften gesucht. Schon allein deshalb müssen wir jun-gen Menschen Perspektiven schaffen.

Wir sollten aber auch die problematischen Entwicklungen nicht vergessen. Gleichzeitig

mit dem Fachkräftemangel wird uns ein relativ hoher Anteil an Sockelarbeitslosigkeit erwarten.

Unsere Aufgabe muss es sein, bereits verfestigte soziale Schichten aufzubrechen, die seit Gene-rationen von staatlicher Unterstützung leben.

In Brandenburg haben wir eine relativ kleintei-lige Unternehmensstruktur. 90 Prozent unserer Unternehmen haben weniger als 20 Beschäftig-te. Wir können damit sehr innovativ sein, haben aber auf der anderen Seite einen relativ geringen Exportanteil. Wir müssen uns in Zukunft noch stärker auf den Export orientieren. Die Tech-nologieförderung wird deshalb auf dem aktuell hohen Niveau verbleiben. Darüber hinaus haben wir ein neues Förderprogramm mit Innovations-gutscheinen entwickelt. Damit ermöglichen wir mittelständischen Unternehmen am Potential der Hoch- und Fachschulen teilzuhaben.

Kommunikation mit der Bevölkerung intensivieren

Bei den Stromanbietern gibt es mittlerweile 1.100 Unternehmen bundesweit. In den kom-menden Jahren laufen viele Konzessionsverträge aus. Etliche Kommunen tragen sich nun mit dem Gedanken, selbst in die Energieversorgung einzusteigen. Ich will kommunales Engagement nicht in Frage stellen, doch es sollte klar defi-niert werden, unter welchen Bedingungen dies passiert und ob damit bestehende Strukturen verbessern werden.

Wir werden in den kommenden Jahren fast 1.000 Kilometer Leitungen im Land Bran-denburg bauen müssen. Es ist eine Illusion

zu glauben, dass eine unterirdische Trasse die Umwelt nicht beeinträchtigen würde. Seitdem die Erdverkabelung vorgeschrieben ist, hat sich die Zahl der Bürgerinitiativen vervierfacht. Wir werden gemeinsam beraten müssen, an wel-chen Punkten eine unterirdische Trasse wirklich unverzichtbar ist. Es gibt in der Energiewirt-schaft nahezu kein Projekt, das frei von Wider-ständen ist. In den vergangenen Jahren wurde die Kommunikation mit den Bürgern enorm vernachlässigt. Man muss die Menschen über die Entwicklungschancen solcher Projekte auf-klären, denn wenn die Akzeptanz nicht vorhan-den ist, dann nutzt auch eine technologische Umsetzbarkeit nichts.

Ich wäre sehr froh, wenn wir Stadtumbau und energetische Modernisierung von Gebäu-den zusammen lösen könnten. Nach Gebäu-den Zahlen des Bundesverkehrsministeriums sol-len 900.000 Gebäude in Deutschland saniert werden. Das würde einem finanziellen Volu-men von mehreren hundert Milliarden Euro entsprechen. Wir sollten versuchen, uns darauf zu einigen, in welchen Zeiträumen und mit welchen Instrumenten wir diese Zielstellung umsetzen können. Auch wenn die Interessen nicht immer vollständig übereinstimmen, soll-ten Wirtschaftspolitik und Kommunalwirt-schaft in einen offenen und ergebnisoffenen Dialog treten. Zur Kommunalverfassung gibt es einige Punkte, in denen sich für die Kommunen Verbesserungen realisieren ließen. Andererseits muss auch konstatiert werden, dass die Rah-menbedingungen kommunaler Wirtschaftstä-tigkeit nicht immer nur hinderlich sind.

In 20 Jahren vom jüngsten zum ältesten Bundesland Deutschlands

VfkE-Landesveranstaltung Mecklenburg-Vorpommern

Die Landesveranstaltung des Verbundnetzes für kommunale Energie (VfkE) in Mecklenburg-Vorpommern wurde am 1. November in der Landeshauptstadt Schwerin abgehalten. Gastgeber war das Haus der kommunalen Selbstverwaltung mit dem Sitz des Mecklenburg-vorpommerschen Städte- und Gemeindetages. Landesinnenminister Lorenz Caffier musste sein Kommen zwar aus terminlichen Gründen absagen, dennoch fand sich eine hochkarätige Runde zusammen. Roland Methling, Oberbürgermeister der Hansestadt Rostock, hielt das Eingangsstatement. Das Hauptreferat übernahm der renommierte Demographieforscher Dr. Harald Michel. Hier zunächst einige Auszüge aus der Rede des Rostocker Oberbürgermeisters Roland Methling.

Jetzt wird der Schuldenberg abgetragen

Wir sind nicht nur die größte Kommune im Land, sondern auch jene mit den größten Alt-schulden. An diesem Missstand arbeiten wir mit aller uns zur Verfügung stehenden Energie. Als ich vor fünf Jahren das Amt des Oberbürgermei-sters übernahm, hatte die Bürgerschaft gerade den Haushalt beschlossen. Danach sollte im Jahr 2005 ein Defizit von 100 Millionen Euro

auflaufen. In den folgenden Jahren würde der jährliche Fehlbetrag weiter wachsen. Wir haben diesen Trend umgekehrt und erwirtschaften nun seit drei Jahren ein Plus. 2009 konnten wir 9,8 Millionen Euro tilgen. In diesem Jahr werden es mehr als zehn Millionen Euro sein.

Doch es ist ein sehr hoher Berg, den wir abtragen müssen. 2008 waren 220 Millio-nen Euro an Altschulden aufgelaufen. Hinzu kamen 230 Millionen Euro an investiven Schulden und schließlich jene, die die

kommu-nalen Unternehmen zu verantworten haben.

Allein die städtische Wohnungsbaugesellschaft musste über eine Milliarde Euro an Krediten aufnehmen. All diese Verbindlichkeiten zusam-mengerechnet, ist Rostock im Verhältnis zur Einwohnerzahl die höchst verschuldete Stadt Deutschlands. Unsere Wohnungsbaugesell-schaft „Wohnen in Rostock“ mit ihren 36.000 Wohnungen stand kurz nach meiner Amts-übernahme vor dem Kollaps. Zwei Jahre später konnten wir mit zehn Millionen Euro endlich

61 UNTERNEHMERIN KOMMUNE + FORUM NEUE LÄNDER • DEZEMBER 2010

F O R UM NEUE LÄNDER

einen Gewinn im Rahmen der kommunal übli-chen Verzinsung von zwei Prozent realisieren.

Aktuell werden jährlich zwölf bis 15 Millionen Euro ausgeschüttet. An diesem Beispiel lässt sich plastisch verdeutlichen, welche Potentiale in kommunalen Unternehmen stecken. Auch die Stadtwerke tragen im steuerlichen Quer-verbund erheblich dazu bei, dass wir in Ros-tock zu einer gewissen Stabilität zurückkehren konnten. Die Gewinne von rund 16 Millionen Euro flossen 2005 noch nahezu vollständig in den Verlustausgleich der Rostocker Straßen-bahn. Deren Fehlbetrag wollten wir auf zehn bis zwölf Millionen Euro drücken und haben das geschafft, ohne einen einzigen Streckenki-lometer aufgeben zu müssen. In diesem Jahr werden die Zuschüsse unter neun Millionen Euro liegen, weshalb aus dem steuerlichen Querverbund ein tatsächlicher Betrag zurück ins Stadtsäckel fließt.

Ich will drei Punkte anschneiden, die die Ertragslage der Kommunen langfristig beein-flussen können. Das ist zum Ersten die Dis-kussion um die Gewerbesteuer, zum Zweiten die Verlängerung der Atomlaufzeiten und zum Dritten sind es die Anforderungen in den Berei-chen Umwelt und Klimaschutz. Die Gewerbe-steuereinnahmen sind für uns die Grundlage, überhaupt agieren zu können. Ohne sie würden wir unseren Konsolidierungskurs nicht fortset-zen können. Jeder hier im Saal weiß, dass wir mit der Verlängerung der Atomlaufzeiten einen Rückschlag im Wettbewerb erleiden werden.

Den Anforderungen im Klimaschutz steht manchmal entgegen, dass wir unser Kapital aus den Unternehmen abziehen. Mit diesem Geld könnte auch in Entwicklung investiert werden, um sich auf dem Wettbewerbsmarkt besser zu positionieren.

Ganz übergreifend sehe ich es auch im aktu-ellen Trend der Re-Kommunalisierung mit gemischten Gefühlen, wenn Kommunen nicht bereit sind, defizitäre Teile ihres Portfolios zu veräußern. Es kann auch heute noch sinnvoll sein, ineffiziente Betriebe in GmbHs zu transfe-rieren und Private mit ins Boot zu holen.

Das Hauptreferat des Tages hielt der renommierte Demograph Dr. Harald Michel, Leiter des Instituts für angewandte Demographie in Berlin. Im am dünnsten besiedelten Land Deutschlands gab Dr. Michel einen lebhaften Ausblick auf die demographische Entwicklung der kommenden 40 Jahre. Die Befunde waren zwar überwiegend ernüchternd, dafür an Klarheit kaum zu übertreffen. Schließlich wird man mit schwierigen Situationen nur umgehen können, wenn man ihnen klar in die Augen sieht.

Demographie lässt sich durch politische Experimente nicht umkehren

Mir ist aufgegeben worden, sie in die demographi-sche Entwicklung in Deutschland einzuführen. Ich beginne ganz klassisch mit der allgemeinen Bevölke-rungsentwicklung. In den vergangenen 100 Jahren ist die Bevölkerung in Deutschland nahezu konti-nuierlich gestiegen. Doch seit 2004 kehrt sich dieser Trend um. Erst nach der Volkszählung im kommen-den Jahr werkommen-den wir wissen, ob wir überhaupt noch 80 Millionen Einwohner in Deutschland haben.

Langfristig bewegen wir uns in Richtung der 50 Millionen-Marke. Kernproblem ist der anhaltende Rückgang der Geburtenzahlen. Von der steigenden Lebenserwartung wird dieser Prozess lediglich flan-kiert. Aktuell liegen wir bei etwa zwei Dritteln des Wertes, der für den Erhalt einer Gesellschaft not-wendig ist. Man muss das nur mit dem aktuellen

Bestand multiplizieren und kann relativ einfach aus-rechnen, wie schnell das Land innerhalb einer Gene-ration schrumpfen wird. Wir können diesen Trend weder stoppen, noch können wir ihn bremsen. Die Demographie lässt sich durch politische Experi-mente nicht umkehren. Die Politik ist aufgefordert, diesen Prozess zu begleiten und sozial verträglich zu gestalten. Das ist Herausforderung genug.

Sinkende Arbeitslosenzahlen vor allem Folge demographischer Prozesse

Der Begriff der Bevölkerungspyramide ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden, als der Altersquerschnitt in einer grafischen Darstellung auch noch so aussah, wie eine Pyramide. Damals hätten umlagefinanzierte Sicherungssysteme Sinn gemacht. Doch selbst die Bismarckschen

Sozi-alversicherungen waren zum Großteil kapital-gedeckt. Das System wurde erst in den 50er Jahren auf eine Umlagefinanzierung umgestellt.

Im Verlauf des 20. Jahrhunderts spielten natürlich auch die beiden Weltkriege eine Rolle. Doch das Kernproblem war in allen europäischen Ländern die zunehmende Diskrepanz zwischen der älteren und der nachfolgenden Generation. Im Jahr 2050 – also in nur einer Generation, wird die Bevöl-kerungspyramide komplett auf dem Kopf stehen.

Jede nachfolgende Generation ist kleiner, als die vorhergehende. Solange die Geburtenrate nicht auf den Wert von 2,1 Kindern pro Frau ansteigt, dauert diese Entwicklung fortlaufend an.

Dass uns dieser Wandlungsprozess zumindest in Westdeutschland kaum aufgefallen ist, liegt an der dramatischen Zuwanderung der 60er Jahre.

Bis heute sind ca. 15 Millionen Menschen zu uns gekommen. Ein Fünftel der aktuell in Deutsch-land lebenden Menschen hat Wurzeln im AusDeutsch-land.

Diese Zuwanderung hat unsere Gesellschaft sozial, ethnisch, sprachlich und religiös enorm verändert.

Wir zahlen heute die Kosten für die massive Immi-gration der 60er und 70er Jahre. Vor allem in den städtischen Ballungszentren wird es zu einer Mul-ti-Minoritäten-Gesellschaft kommen. In einigen Teilen Berlins sind die Deutschen bei den Unter-18jährigen schon heute dramatisch in der Minder-heit. Jedes zweite Neugeborene in der Stadt kommt nicht mehr aus einem deutschen Haushalt.

Durch die Pluralisierung der Lebensformen ver-ändert sich auch der Zusammenhalt einer Gesell-schaft. Die Normalfamilie mit zwei Kindern und einer normalen Erwerbsbiographie verliert zuneh-mend an gesellschaftlicher Bedeutung. Je länger die Menschen leben, desto stärker kommt auch der Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Lebenserwartung zum Tragen. Viele ältere Frauen werden im Alter allein leben. Der Begriff „Single-Haushalt“ ist deshalb ein Synonym für Alterung.

Der Arbeitsmarkt wird durch die schrumpfende Bevölkerung zunehmend entlastet. Allein durch die demographische Alterung haben wir in den letzten zehn Jahren etwa drei Millionen Menschen in der Erwerbsbevölkerung verloren. Wenn die Arbeitslo-sigkeit im gleichen Zeitraum um eine Million sinkt, ist das nicht unbedingt eine Leistung der Politik.

Wenn sich eine Pyramide auf den Kopf stellt, sind umlagefinanzierte soziale Sicherungssysteme kaum durchzuhalten. Das Wort von den „sicheren Ren-ten“ war wohl der größte Euphemismus, der jemals in Bezug auf demographische Prozesse geäußert worden ist.

Allzu optimistische Landesplanungen Die regionale Entwicklung in Deutschland ist hoch differenziert. In Ostdeutschland lässt sich wie im Labor nachvollziehen, was bald im gan-zen Land stattfinden wird. 2020 wird sich auf der

Der Demographieforscher Dr. Harald Michel, Leiter des Instituts für angewandte Demographie, Berlin

VfKE

Karte der durchschnittlichen Alterung sehr leicht die alte DDR identifizieren lassen. In den alten Bundes-ländern werden nur kleinere Regionen eine ähnliche Entwicklung durchmachen. Das betrifft Teile Nord-hessens, Nordrhein-Westfalens und das Saarland.

Unterdurchschnittliche Alterungsprozesse sehen wir vor allem für die städtischen Ballungszentren im Westen und Süden Deutschlands. Die Kohorte der Unter-30jährigen wird sich massiv verkleinern. Wir werden es kaum mehr mit einem Mangel an Lehr-stellen zu tun haben. Allerdings schwindet auch das Potential zur Versorgung älterer Menschen. Junge Menschen, die ihre Familien woanders gründen, werden sich nicht mehr vor Ort um die eigenen Eltern kümmern können. Von allen Bedürftigen in Deutschland werden 97 Prozent von den Familien und nur drei Prozent durch gesellschaftlich organi-sierte Pflege betreut. Gerade in diesem Bereich wird es in Ostdeutschland in den kommenden Jahren eine dramatische Unterversorgung geben.

In Ostdeutschland haben wir seit der Wende etwa eine Million Einwohner verloren. Den größ-ten Bevölkerungsverlust hatte Sachsen-Anhalt zu verkraften. Der Kernprozess ist die fortdauernde Abwanderung, die wir seit den 90er Jahren beob-achten. Als sie sich Mitte der 90er Jahre etwas abschwächte, sah die Politik die Trendumkehr gekommen. Man dachte, der Druck sei aus dem Kessel und so wurden viele Landesplanungen Mitte der 90er Jahre unter allzu optimistischen Annahmen entwickelt. Genau das Gegenteil traf ein. Nach einer kurzen Erholung verschärfte sich die Abwanderung wieder deutlich und hat sich bis heute auf einem sehr hohen Niveau verfestigt.

50.000 Menschen verlassen derzeit jährlich die Neuen Bundesländer – ein Trend, der sich par-allel zu einer allgemein schrumpfenden Bevölke-rung vollzieht. Es ist nicht der Durchschnitt, der abwandert, sondern junge, gut ausgebildete

Men-schen, die zumeist mitten in einer Erwerbsbiogra-phie stecken – jene, die von gut dotierten Stellen in den neuen Bundesländern, in noch bessere im Westen wechseln. Dieser Umstand hat dazu bei-getragen, dass die Abwanderung nicht einherging mit einer erheblichen Minderung der Arbeitslo-sigkeit. Gleichzeitig werden wir große Probleme haben, freie Stellen zu besetzen.

Zur Wendezeit waren die neuen Bundesländer sehr viel jünger als die Alt-Bundesrepublik. Bis heute sind sie dramatisch gealtert. Mecklenburg-Vorpommern war 1990 das jüngste Bundesland und ist heute das älteste. Die alten Bundesländer haben ihr Bevölkerungsniveau nur auf Kosten Ostdeutschlands halten können. 20 Jahre Atem-pause für die einen bedeutete für die anderen den unvermittelten Sturz in die demographische Katastrophe. Mecklenburg-Vorpommern verliert zwischen sieben und zehntausend Einwohnern pro Jahr. Dies betrifft vor allem die Altersgruppe zwischen 15 und 35 Jahren. Die offizielle Progno-se für Mecklenburg-Vorpommern nimmt an, dass die Abwanderung ab 2005 immer geringer wird und sich ab 2015 in eine stabile Zuwanderung umpolt. Nach allen statistischen Voraussetzungen wäre nichts unwahrscheinlicher als das. Schon in den ersten drei Jahren nach ihrer Erstellung wurde die Vorhersage durch die Realität widerlegt – und das, obwohl die richtig optimistischen Aussagen erst die kommenden Jahre betreffen.

Schrumpfung als normalen Prozess begreifen

In zehn Jahren wird es extreme Disproportionen bei den einzelnen Jahrgängen geben. Bei einer sehr schlecht besetzten Müttergeneration wer-den sich die Auswirkungen weiter potenzieren.

Es gibt in Mecklenburg-Vorpommern eigentlich

keinen Raum, der sich dieser Entwicklung ent-ziehen kann. Einzig in der Hansestadt Rostock fällt sie nicht allzu dramatisch aus. Nach der Defi-nition der Europäischen Union gelten Gebiete mit weniger als 50 Einwohnern pro Quadratki-lometer als weitgehend unbewohnt. Schon jetzt fallen weite Teile Mecklenburg-Vorpommerns in diese Kategorie. Die Siedlungsstruktur dort nimmt allmählich skandinavische Züge an. Im Landkreis Demmin zeigt sich etwas, was ich in meiner 30jährigen wissenschaftlichen Karriere noch nicht erlebt habe. In gesamten Landkreis werden in zehn Jahren keine Menschen mehr zwischen 25 und 30 Jahren leben.

Der Grundsatz von der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse lässt sich angesichts dieser sehr disparaten Rahmenbedingungen kaum mehr aufrechterhalten. Mindestens genauso wichtig ist es, dass wir uns vom Paradigma des Wachstums verabschieden und die Schrumpfung als einen normalen gesellschaftlichen Prozess begreifen.

Es sollte den Regionen anheimgestellt werden, eigene Konzepte zu entwickeln. Man muss dabei auch das Risiko des Scheiterns zulassen, denn schließlich lässt sich in der Geschichte keine ein-zige Vorlage für das Management von Schrump-fungsprozessen finden.

Es macht keinen Sinn, zwischen Kommunen und Regionen einen Wettbewerb um demogra-phische Parameter auszulösen. Dann reißen alle Seiten an einem insgesamt stark schrumpfenden Tischtuch. Der Gewinner erhält die Ressourcen um in Zukunft noch stärker ziehen zu kön-nen. Wettbewerbe um die kinderfreundlichste Gemeinde machen weder gesamtgesellschaftlich noch volkswirtschaftlich Sinn. Die Gelder wären besser in Anpassungsfonds investiert. Eine gerin-ge Bevölkerungsdichte sorgt dafür, dass pro Kopf mehr Ressourcen verbraucht werden. Die TERMINVORSCHAU: LANDESVERANSTALTUNG 2010 THÜRINGEN AM 5. APRIL 2011 IN GOTHA

Die noch ausstehende Landesveranstaltung Thüringen aus der Serie 2010 wird am 5. April 2011 in Gotha, im Bürgersaal des Rathauses, stattfinden. Diese Diskussionsrunde ist keine einfache „fünfte Auflage“ der vorangegangen vier Landesveranstaltungen 2010 in Brand-neburg, Mecklenburg-Vorpommer, Sachsen-Anhalt und Sachsen. Nach der erfolgreichen Jahresveranstaltung am 4. November 2010 in Erfurt zum Thema „Kommunalwirtschaft 2025“

gab es vielmehr die Idee, die Landesveranstal-tung in Thüringen mit einer sehr wichtigen In-itiative der Landesregierung dieses Freistaates zu verknüpfen: In Thüringen wird bekanntlich ab Beginn des Jahres 2011 die Serviceagentur

„Demografischer Wandel“ unter Federführung des Ministeriums für Bau, Landesentwicklung und Verkehr eingerichtet. Eine wesentliche

Aktivität dieser Agentur wird es sein, ab 2011 Demografische Themenjahre auszugestal-ten. Im Zentrum des Jahres 2011 steht das Gesundheitswesen.

Für 2012 ist das „Demographische Themen-jahr Kommunalwirtschaft Thüringen“ geplant.

Die anstehende VfkE-Landesveranstaltung soll als Auftaktveranstaltung für dieses Themenjahr fungieren.

Dazu wurden Mitte Dezember kommunale Amts- und Mandatsträger aus den Kreisen, Städten und Gemeinden, Bundes- und Land-tagsabgeordnete sowie die Repräsentanten der Spitzenverbände der Kreise, Kommunen und kommunalen Unternehmen aus dem Frei-staat Thüringen nach Gotha eingeladen.

Bei dieser Veranstaltung wird der Minister für Bau, Landesentwicklung und Verkehr des

Freistaates Thüringen, Christian Carius, erste Überlegungen zur Ausgestaltung des The-menjahres Kommunalwirtschaft vorstellen. Auf dieser Grundlage soll mit den Vertretern der kommunalen Familie aus Thüringen darüber diskutiert werden, wie die Landesregierung und das federführende Ministerium das Themen-jahr so ausgestalten können, dass den kom-munalen Interessen am besten entsprochen werden kann. Dieser sehr frühe Austausch mit den kommunalen Amts- und Mandatsträgern soll sicherstellen, dass entsprechende Konzep-te nicht am „grünen Tisch“, sondern im direk-ten Bezug zu den kommunalen Bedürfnissen erarbeitet und ab 2012 in das Service- und Informationsangebot der Landesregierung in-tegriert werden können.

Infos: www.vfke.org