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Das Unbewusste und das Nicht-Bewusste

Im Dokument Zwischen Stabilität und Konflikt (Seite 73-76)

IV. Die weibliche Ohnmacht: „Empfindungen, Gedancken, Begierden“

3. Erziehungskultur zwischen Bildung und Verbesserung

3.2. Das Unbewusste und das Nicht-Bewusste

71 Aufmerksamkeit gelangt, dann jedoch wieder dem Vergessen anheimfällt, kann keine Wirkung mehr ausüben: „Nun sind aber Wahrnehmungen von dem Moment an, in dem sie vollständig vergessen sind, wie nie dagewesen.“ [UE, S. 78] Dabei schließt er sich ausdrücklich Locke an und grenzt sich von denjenigen Philosophen ab, die „so sehr ihren Prinzipien verhaftet [waren], daß sie Wahrnehmungen in der Seele annahmen, von denen diese niemals Kenntnis erhält“ und bezieht sich damit auf „[d]ie Cartesianer, die Anhänger von Malebranche und Leibnitz“ [UE, S. 75].

72 menschlichen Sphären den Begriff „das Unbewußtseyn“. Damit bezieht er sich auf das Bewusstseinskonzept bei Wolff und entwickelt einen Gegenpol zu den „klare[n], oder deutliche[n] Vorstellungen“214. Wie Schiller charakterisiert er das Unbewusste als dunkel und verweist mit der frühen, wenn nicht sogar ersten Verwendung des Terminus auf eine traditionsreiche Entwicklung des Konzepts:215

Die Hoffnung, mit Freuds eigener Spurensuche bei Schopenhauer enden zu können, so zentral er und sein Jahrhundert für die Entdeckungsgeschichte des Unbewußten […] sind, erweist sich als ebenso illusionär wie die, im 18. Jahrhundert, bei Wolff, Crusius, Baumgarten, Sulzer, Platner, Lichtenberg, Lessing, Hamann, Herder, Kant, Goethe, Moritz... oder zuvor etwa bei Leibnitz einhalten zu können.216

Die Quellen, auf die man sich bei der Geschichte des Konzepts und des Begriffs berufen kann, verdeutlichen, wie viele Anknüpfungspunkte das Unbewusste bietet.

Entsprechend besteht eine Vielfalt an positiven wie negativen Implikationen, die ebenso für den weiblichen ohnmächtigen Zusammenbruch in der Literatur des 18. und 19.

Jahrhunderts gelten. Seine möglichen Bedeutungen entfalten sich nur unter Einbezug beider Horizonte des angenommenen Wirkungszusammenhangs der Seelenbewegungen auf die Physis. Ebenso spielen für die Rezeption von Ohnmachtstexten gleichermaßen die Konzepte des Natürlichen und des Unbewussten eine entscheidende Rolle. Es gilt dabei, Fragen etwa nach der natürlich gegebenen Abscheu gegenüber unsittlichem Verhalten oder unterschwelligen Wünschen zu stellen. Letztere schließt Condillac ohne die entsprechende vorhergehende Sinneswahrnehmung wie oben beschrieben aus. Er grenzt sich bei seiner Gleichsetzung von Reflexion und sinnlicher Perzeption von einer Traditionslinie der Seelenbeschreibung ab, die dem Unbewussten einen Platz einräumt.

Mit der Ablehnung einer Verweildauer der nicht zur bewussten Wahrnehmung gelangten Impressionen entzieht er dem letzten Schritt dahin den Boden.

Die Vorstellung von nicht benennbaren Empfindungsspuren, wie sie Schiller und Platner darstellen, eröffnet jedoch eine literarische Perspektive, die die vom Ausfall betroffene Figur selbst im Unklaren über die inneren Ursachen lässt und einen Konflikt heraufbeschwören kann. Rudolf Behrens geht diesem Zusammenhang in seinem

214 Platner (1776), S. 10. Dort heißt es weiter: „Im Zustande des Unbewußtseyns, entstehen aus Abwesenheit dieser Umstände, dunkle, d.i. merkmallose Vorstellungen.“ Vgl. außerdem zum Begriff des Unbewusstseins ders. S. 9, S. 79, S. 96.

215 So geht etwa Kurt Joachim Grau von der erstmaligen Verwendung der Begriffe „bewußtlos“ und

„Unbewußtsein“ bei Platner aus. Vgl. Grau (1922), S. 63: „Demnach darf Platner als Schöpfer des Wortes

„unbewußt“ im wissenschaftlichen Sprachgebrauch bezeichnet werden“.

216 Lütkehaus (1989), S. 10.

73 Aufsatz zum Unbewussten nach und beruft sich auf dieselben Quellen wie Condillac im Zuge seines Gestus der Zurückweisung. Der Grundgedanke weist dabei bereits in Freuds Richtung und lautet, dass unreflektierte Wahrnehmungen in der Lage sind, nicht bewusstes (auch körperliches) Handeln auszulösen:

Was nicht zum Bewußtsein gelangt, aber dennoch das Handeln des Subjekts weitreichend bestimmt, sind Sedimentierungen sensitiver Wahrnehmung, die dem Bewußtsein entgehen, deren körperliche Reflexe aber dennoch als diffuse Empfindungen spürbar werden können. So wird der Körper zum Generator, zum Speicher und zum Artikulationsmedium verdeckter Steuerungs-vorgänge, die das Subjekt in seiner Selbstreflexivität erheblich begrenzen.217

Die erlangten Erfahrungen und ihre Verankerung in der Seele treten hier als potenziell rückläufig und wirkungsmächtig auf und verursachen spontane Aktionen. Das steigende Interesse der Anthropologie, der Philosophie wie auch der Kunst an diesen verborgenen Kräften trägt zu einem vielschichtigen Perspektivenwechsel bei, was sich z. B. in der Erkenntnistheorie und durch den maßgeblichen Einfluss Kants niederschlägt. Folgende Auffassung hatte noch im aufklärerischen Rationalismus vorgeherrscht: „Das Bewußtsein hält seine Objekte für von außen gegeben und glaubt sich durch sie affiziert“. Im Zuge der kritischen, sogenannten kopernikanischen Wende erhält der Gedanke jedoch Gewicht, „dass die Gegebenheit Schein ist und daß in Wahrheit das Subjekt seine Objekte selbst produziert.“218 Das Unbewusste gewinnt damit insofern an Bedeutung, als ihm bei individuellem Erleben von Realität eine gestaltende Rolle zukommt. Mit dieser Entwicklung lassen sich auch in der Literatur Schwerpunkt-verschiebungen erkennen, die sich im bekannten Stichwort des Phantastischen und Abgründigen der Romantik äußern. Die Darstellungen der psychischen als auch physischen Verfassung des Menschen gründen in einem veränderten

auf den Sensualismus des 18. Jahrhunderts fußende[n] und in der Romantik ausgeprägte[n]

Interesse am individuellen, schwachen und kranken, starken und gesunden, liebenden und sterbenden Körper, das – durch ethische, naturwissenschaftliche und sozialpolitische Denkmodelle unterschiedlichster Herkunft ergänzt – sich noch vor 1830 ausweitet zum (pseudo)wissenschaft-lichen Interesse am Menschen als sozial determiniertem Gemeinschaftswesen, dessen Physis analog zur Psyche individuellen und gemeinsamen Gesetzmäßigkeiten gehorcht.219

Deutlich werden die Neuerungen im Vergleich mit der Literatur des 18. Jahrhunderts, wo „Krankheit, Sterben, Geburt, Beischlaf, Essen und anderen kreatürlichen Abläufen,

217 Behrens (1994), S. 565.

218 Hartmann (1960), S. 124.

219 Kleinau (1990), S. 186-187.

74 die weitgehend erst in den folgenden Jahrhunderten literarisch lizenziert werden,“220 eher geringer Raum eingeräumt wird. Dieser Tendenz kommt eine Inszenierung von weiblicher Unfehlbarkeit und moralischer Integrität anhand des Ohnmachtsmotivs unter dem Ausschluss von Begehren und Sexualität entgegen, wenn sie an das Erkenntnis-konzept von Condillac anschließt. Hier würde die Ohnmacht als Erkenntnisschwelle und abschottender Mechanismus fungieren. Sie schließt so wissentliches Wahrnehmen ab dem Zeitpunkt des Zusammenbruchs aus und verhindert ungewollte Eindrücke. Ohne die der Seele inhärenten Ideen kann ein von Grund auf unbedarftes und nur reflektierten Inhalten zugängliches Wesen erhalten werden, das über das Bewusstsein zu seiner Prägung gelangt. In den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts thematisiert die Literatur jedoch zunehmend, was sich vielleicht nicht bewusst wahrnehmen lässt, das menschliche Handeln und Sein aber durchaus zu beeinflussen in der Lage ist. Unter dem Eindruck des anthropologischen Interesses am Unbewussten rekurriert sie auf unreflektierte Affekte und löst diese aus einem umfassenden z. B. tugendhaften Ganzheitsanspruch heraus. Empfinden, Gefühl und instinktives Handeln bilden dann nicht mehr nur einen homogenen Teil des Selbst, sondern ebenso ein fremdes und die Einheit gefährdendes Element. Als raffinierter inszenatorischer Griff kann sich dabei erweisen, dass gerade mit der Ohnmacht und der plötzlichen Bewusstlosigkeit das Unbewusste auch ungewusst bleibt.

4. Das Motiv der Ohnmacht und die Ästhetik des Unbewusst-

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