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Der problematische und pathologische Affekt

Im Dokument Zwischen Stabilität und Konflikt (Seite 51-56)

IV. Die weibliche Ohnmacht: „Empfindungen, Gedancken, Begierden“

1. Affekt und weibliche Identität

1.2. Der problematische und pathologische Affekt

49 Versuch, Einheit herzustellen. Dann treten die Sphären auseinander: Objektive Wahrheit, subjektives Erleben und moralische Angemessenheit können nicht mehr als eine Gesamtheit gefaßt werden.147

Mit dem näher rückenden 19. Jahrhundert und jenseits von empfindsamen Kontextuierungen des Gefühls, der Affekte, etc. ist auch in der Literatur ein Wandel zu erkennen, in dessen Zuge die Frau zunehmend nicht mehr auf ihre „natürliche“, vorbildliche und im Unbewussten basierte Tugend hin befragt wird. Vielmehr tritt eine Unvereinbarkeit der äußeren, z. B. gesellschaftlichen, sittlichen Ansprüche und Leitlinien mit den individuellen Affekten hervor. Die Komponente der Natürlichkeit oder der Natur vermag dabei keine Garantie der moralischen Integrität mehr zu leisten.

Bestimmten unkontrollierbaren Bereichen der Seele schlägt ein Misstrauen entgegen, wie es in der Geschichte der Philosophie, der Kunst, etc. nicht zum ersten Mal geschieht. Der Eindruck des Niedergangs der empfindsamen Emotions- und Affekteuphorie entsteht dabei, und der fiktionale Blick öffnet sich für die zerstörerische Seite der Moral. Er bedient sich an alten Vorstellungen, die im Zuge von extremen Emotionen und unerwünschten Leidenschaften jede psychische und physische Normalität unmittelbar untergraben sehen.

50 anthropologischen Studien in Relation zur Gesundheit. Er stellt sie so unter ein Vermeidungsgebot:

Die Freude tödet, wenn sie zur Ekstasi hinaufsteigt, die Natur erträgt den Schwung nicht, in den in einem Moment das ganze Nervengebäude geräth; die Bewegung des Gehirns ist nicht Harmonie mehr, sie ist Konvulsion; ein höchster augenbliklicher Vigor, der aber auch gleich in den Ruin der Maschine übergeht, weil er über die Grenzlinie der Gesundheit gewichen ist […].150

In seiner Dissertation „Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen“ von 1780 öffnet er mit dem beschriebenen „Ruin der Maschine“ der Ohnmacht als Folge des ekstatischen Gefühls ebenso Tür und Tor wie dem Tod. Den Leser verwundert diese Verbindung gerade in Bezug auf einen positiven Affekt wie die Freude, wenn er sich vor Augen führt, das Schiller deutliche Anleihen an den Sturm und Drang und das dabei verfochtene Ziel der Naturbefreiung und der Empfindung von unterdrückenden Zwängen zeigt.151 Aus einer anthropologischen Perspektive, die er in seiner Dissertation einnimmt, äußert er jedenfalls Bedenken. Wie das Konzept der positiv besetzten modesty zeigt, bildet die Intensität des Ergriffen- seins die entscheidende Bedingung für dessen gesellschaftliche wie individuelle Verträglichkeit. Überbordende Gefühle und Leidenschaften sind mit einer Gefahr verbunden, die sich als zu vermeidender Verlust der Selbstkontrolle äußert.152 „Selbst-erforschung und Selbstbeherrschung als zentrale Lebensgebote“153 des Puritanismus gehen so in die Gefühlskultur ein und suchen den zerstörerischen Effekt der Exaltation zurückzudrängen: „Das Maßlose würde Moral und Vernunft […] zerstören“154. Diese Maxime kommt im Rahmen der propagierten Frauenideale, etwa in den erzieherischen Schriften der Zeit und teilweise auch in der Literatur, zum Zug.

Die Metapher der „brennenden Exzessivität“155 steht im Anschluss daran für ungebremste Leidenschaften, die als verwerflich zu bewerten sind, moralischen Idealen zuwider laufen und das Prinzip der Empfindsamkeit pervertieren. Das heißt, sie stehen im Kontrast z. B. zum Mitleid, dem altruistisch geprägten Weinen oder der durch den

150 Schiller (1962/1), S. 61-62.

151 Günter Oesterle weist in diesem Zusammenhang auf Schillers berühmtes Gedicht „An die Freude“ von 1785 sowie weitere seiner Umsetzungen des Themas hin. Vgl. Oesterle (2005), S. 211.

152 Bei Kant kommt es im Zuge der Abwendung von der aristotelischen Gleichsetzung der Begriffe Affekt, Passion und Leidenschaft zu einer grundlegenden Differenzierung von Affekt und Leidenschaft.

In seiner „Anthropologie in pragmatischer Absicht“ von 1798 definiert er den Affekt als plötzliche Erscheinung, als „übereilt“, die Leidenschaft jedoch als „Gemüthsstimmung“, diese „läßt sich Zeit“. Vgl.

Kant (1968/1), S. 252, dazu des Weiteren Frevert (2009), S. 49-50.

153 Brecht (1993), S. 52.

154 Mauser (2000), S. 386.

155 Geitner (1985), S. 133.

51 Schrecken im Angesicht der Unsittlichkeit ausgelösten Ohnmacht. Um die daran beteiligten Abläufe im Körper zu beschreiben, stützen sich zeitgenössische Ärzte häufig auf die Medizin der frühen Neuzeit und argumentieren mit den vapeurs, den dort angesiedelten Dünsten und Dämpfen. Auch für die Analyse von Nervenkrankheiten sind diese im 18. Jahrhundert von Bedeutung. Sie gefährden das Gleichgewicht des Organismus und lösen Zustände der körperlichen wie geistigen Anomalität aus: „Die hitzige, leidenschaftliche Frau ist in Gefahr, zur vom Laster gezeichneten Kranken zu werden, deren Sinne von Dunst und Dampf umnebelt sind und deren geistige Gesundheit dadurch in Frage gestellt ist.“156 Aus dem Herzen oder aus der Gebärmutter steigen die vapeurs auf und verwirren den Geist,157 können jedoch ebenso die Sinne irritieren und zu deren Ausfall wie auch zu Anfällen durch die Beeinträchtigung der Leber führen.158

Die Ohnmacht als psychophysischer Ausnahmezustand passt mit ihren Symptomen des Bewusstseinsausfalls und des körperlichen Zusammenbruchs in diesen Katalog der möglichen Folgen eines Ungleichgewichts der Dämpfe. In Anlehnung an die traditionsreichen Beschreibungen der Hysterie erhält sie in diesem Rahmen die potenzielle Konnotation eines problematischen Geschlechtstriebs oder einer geistigen Störung. Den Grundstein der medizinischen Geschichte der hysterischen Erscheinungen legt Hippokrates bereits in der Antike, indem er den Uterus zur Quelle für verschiedene Frauenleiden erklärt. Als Folgen des Herumwanderns einer unruhigen und unbefriedigten Gebärmutter im Körper gibt er an: „die Frau wird ängstlich, wälzt sich ungeduldig herum, bekommt Ohnmachten“159. Mit der bereits erwähnten verstärkten Hinwendung des 18. Jahrhunderts zu den Nerven und ihrer Reizbarkeit überführen die Diagnosen der Zeit „das unbefriedigte Begehren der Hysteriker“160 bzw.

Hysterikerinnen oftmals in den Bereich einer nervösen oder geistigen Störung. Auch dabei wird die Verbindung zur weiblichen Sexualität hergestellt: „Die Ärzte der Aufklärungszeit waren überzeugt, Hysterikerinnen seien junge Mädchen, die nach einem Ehemann suchten, oder junge Witwen, die den ihren verloren hatten“161. Der Verdacht der sexuellen Ausschweifung gefährdet im Krankheitsfall eine zentrale

156 Ebd.

157 Vgl. Martus/Stockinger (2006), S. 84.

158 Diese Symptomatologie wird z. B. bei dem englischen Arzt Edward Jordan beschrieben, der die entsprechend englische begriffliche Wendung der Dämpfe, vapours, verwendet. Vgl. Schaps (1992), S.

35-36.

159 Hippokrates (1847), S. 263.

160 Bronfen (1998), S. 113.

161 Bronfen (1998), S. 127.

52 Facette des weiblichen Tugendgebäudes, das aus der Frau selbst heraus bedroht wird:

die sexuelle Unbedarftheit.162 Daraus ergibt sich eine doppelte Struktur von Zeichen und Inhalt: Ein unmoralischer Lebensstil bedingt den Verlust von Gesundheit, und die Erkrankung wiederum steht für die verwerflichen Taten der Frau. Über diese Zuordnung von pathologischen Zeichen zu organischen oder psychischen Ursachen hinaus und jenseits eines beobachteten Begehrens der Frau verletzt der Anfall mit seinen extremen Körperpositionen das Gebot der Mäßigung. Im vorhergehenden Kapitel wurde festgestellt, dass literarische Ohnmachten unter der Ägide eines Sinns für gutes Handeln mit der Tugendhaftigkeit problemlos vereinbar sind. In einen hysterischen Kontext eingebettet treten jedoch die negativen Aspekte des ohnmächtigen Zusammenbruchs hervor. Die moralisch positiven Voraussetzungen eines zarten Körperbaus schlagen damit in ihr Gegenteil um.

Ursula Geitner macht in ihrem Aufsatz zur passio hysterica deutlich, dass die nerven-schwache Frau keine Entdeckung des 19. Jahrhunderts und der Psychiatrie darstellt, sondern „spätestens seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts fester Bestandteil anthropologischer Selbstverständlichkeiten“163 ist. Die positiv besetzte Empfindungs-fähigkeit kann wie gesehen auch als problematische Bedingung für Exaltation und Krankheit dienen, deren Ursprung in ungezügelten Leidenschaften in Kombination mit der weiblichen erhöhten Empfänglichkeit für äußere Einflüsse zu suchen ist. Als körperliche Störung würde die Ohnmacht dann auf falsche Neigungen, eine verkehrte Lebensweise oder eine konkrete Verfehlung hindeuten. Sie geht dementsprechend ebenso in die Symptomatologie von hysterisch-exzessiven Anfällen wie in das Konzept der Tugend ein:

Die Symptome der Hysterie, der Nymphomanie und der vaporeusen »Zufälle« sind vielfältig und nahezu unübersehbar: Sie reichen von der Schwäche und den organischen Fehlern der sogenannten Geburtsglieder über die bleiche oder rasch wechselnde Gesichtsfarbe, Ohnmachtsanfälle, Convulsionen […].“164

162 Vgl. zu Krankheit und Sexualität Thums (2001), S. 99.

163 Geitner (1985), S. 130.

164 Geitner (1985), S. 134. Es ist interessant, dass Geitner die Ohnmacht in diesem Zusammenhang erwähnt und ihren tugendhaften Wert außer acht lässt. Sie bringt sie mit den literarischen Gegen-spielerinnen der tugendhaft-empfindsamen Protagonistinnen in Verbindung, die „von Ohnmachtsanfällen überlistet“ werden (S. 141). Inka Mülder-Bach argumentiert hingegen, die „aristokratische Intrigantin“ sei zu einer Ohnmacht nicht fähig (Mülder-Bach (2000), S. 527). Beide Seiten und Feststellungen tragen dem mehrschichtigen Gehalt der Ohnmacht Rechnung, das zum Beispiel im Konflikt mit erwähnten Gegenspielerinnen aufbricht. Innerhalb der Textanalysen in Kapitel VI. wird auf diese Konstellation zurückzukommen sein.

53 Wie innerhalb der literarischen Textbeispiele zu sehen sein wird, besteht neben einer unvorteilhaften Interpretation ihres Anfalls eine weitere Gefahr für die ohnmächtige fiktionale Frau. Aufgrund der abschließenden Bewusstlosigkeit ist sie ihres eigenen Körpers nicht mehr mächtig und befindet sich in einer Lage, die eine heteronomische Besetzung, z. B. in Form eines sexuellen Übergriffes, ermöglicht. Dabei wird der Kollaps unter Umständen sogar als Zeichen des Einverständnisses und der Hingabe gedeutet. Diese Konstellation steht in einem deutlichen Kontrast zur literarisch inszenierten instinktiven Tugendhaftigkeit und Sittlichkeit in ihren idealisierten Ausprägungen. Im Hinblick auf die Ohnmacht können die Begriffe des Anfalls, des Falls oder des Zusammenbruchs also eine je nach Kontext vielfältig bewertete Zuordnung erfahren. Sowohl ihre moralische, physische sowie räumliche Dimension spielt dabei eine Rolle.165 Der künstlerische Text macht sich diesen Facettenreichtum zunutze, und die Beliebtheit des Motivs lässt sich u.a. mit dieser Strukturanalogie des lebensweltlichen Phänomens zum künstlerischen Zeichen in seiner Mehrdimensionalität und Wandelbarkeit erklären. Sowohl der reale „gefallene“ Körper als auch die Vorstellung dessen bietet vielfache Ansatzpunkte für Betrachtungsweisen und Interpretationen.

Damit sind Affektäußerungen allgemein einerseits anschlussfähig an die Einholung des weiblichen Körpers in einen moralischen Kontext im Zuge der Empfindsamkeit, die altruistische Gefühle wie das Mitleid, die natürliche Empfindungsfähigkeit und die im Menschen verwurzelte Vorstellung eines moral sense propagiert. Andererseits sind sie jedoch ebenso einer potenziellen Problematisierung ausgesetzt, die das weibliche Einfühlungsvermögen an eine Balance bindet. Dem Eindruck der unangemessenen Leidenschaftlichkeit hat die Frau entgegenzutreten, wo ein positives und moralisch einwandfreies Beispiel gegeben werden soll. Als Moment des Ausdrucks von Gefühlen ist auch die Ohnmacht an die Frage nach der Mäßigung von Leidenschaften und Selbstbeherrschung sowie an einen tugendhaften Auslöser gebunden. Des Weiteren darf kein Zweifel an der Authentizität und der passiven Ergriffenheit aufkommen, um dem Verdacht der Künstlichkeit entgegenzuwirken. Deren Ablehnung sowie ein schwer zu fassendes Gleichgewicht von Spontanität und Kontrolle beinhaltet die Forderung nach Natürlichkeit im 18. Jahrhundert. Unreflektiertes und impulsives Handeln wird dabei idealisiert, und man versucht, es verträglich in die moralischen und zivilisatorischen Richtlinien einzupassen.

165 Zum Fall und seinen verschiedenen Referenzdiskursen vgl. Pethes (2009), S. 333-336.

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