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Tugend, Schrift und Körper in Samuel Richardsons „Pamela; or, Virtue

Im Dokument Zwischen Stabilität und Konflikt (Seite 99-102)

VI. Literarische Ohnmachten im 18. und 19. Jahrhundert

1. Die Ohnmacht im Briefroman: Nähe und Distanz von Erleben und Rezeption

1.1. Tugend, Schrift und Körper in Samuel Richardsons „Pamela; or, Virtue

„Pamela; or, Virtue rewarded“

Der Titel von Richardsons zweiteiligem Werk beinhaltet bereits sein im Vorwort dargestelltes didaktisches Programm. Der Leser wird Zeuge, wie die vorbildliche Protagonistin (Pamela) für ihre Tugendhaftigkeit belohnt wird (Virtue rewarded).

Außerdem kündigt der Text eine individuelle und psychologisch geprägte Perspektive mit moralischem Nutzen an, wie sie z. B. im anthropologischen Roman deutscher Prägung Verwendung findet:273 Vom Einzelfall der Hauptfigur gelangen die Rezipienten zum weiteren, allgemeingültigen und exemplarischen Referenzbereich der moralischen Vorbildlichkeit, die sich auszahlt. Das verbindende Wort „oder“ suggeriert eine Austauschbarkeit der beiden Elemente, die keinen Zweifel am positiven Ausgang der Geschichte für Pamela lässt. Sie steht für den Erfolg der Tugend, und dieser spricht für sie. Um ihren Hausherren Mr. B. zur Absage an den Libertinismus zu bewegen und eine auf gegenseitige Liebe basierende Ehe mit ihm zu schließen, muss sie seine unsittlichen Bedrängungen und Intrigen überstehen. Das Prinzip der Erprobung und Gefährdung der Unschuld zu deren letztendlicher Bestätigung bildet ein verbreitetes literarisches Mittel der Zeit: „Only after undergoing her trial could the sentimental object of adoration be elevated to her proper sphere.”274 Auch aus thematischer Sicht steht Richardson für einen Trend in der Literatur der Zeit, der im ersten Teil dieser Arbeit bereits angeführt wurde: die persönliche und gesellschaftliche Entwicklung der Frau, die z. B. pädagogische Schriften in der außerfiktionalen Welt verhandeln. Pamela bestreitet ihren Leidensweg begleitet durch Zusammenbrüche und das Schreiben von Briefen. Die stetig steigende Frequenz, in der beide produziert werden, spiegelt ihre Rolle als Motor dieser Entwicklung wider. Je eiserner die Protagonistin ihre Unschuld verteidigt, desto mehr qualifiziert sie sich zur Ehefrau eines höheren Stands. Als Abwehrreaktion gepaart mit Angst und Schrecken dokumentieren ihre Ohnmachten ihre moralische Verfassung. Ihr Sprechen und Schreiben, die auf unterschiedlichen zeitlichen Ebenen stattfinden, vollziehen diese Beweisgeste nach. Indem Pamela Werte christlicher Prägung verteidigt, ist ihr die Unterstützung Gottes sicher, und ihre Ohnmacht kann zum Schutz gegen den Angreifer dienen, der auf den Weg der Läuterung gebracht wird. Ambivalenzen bei der Darlegung des modellhaften Werdegangs, die sich an der Ohnmacht herauskristallisieren und die die Literaturkritik

273 Vgl. zum anthropologischen Roman in Deutschland z. B. Schings (1980) sowie Engel (1993), S. 91-102.

274 Flynn (1982), S. 100.

98 zu Sprache bringt, versucht Richardson bereits im Text aufzulösen. Er lässt seine Figuren Zweifel an Pamelas Unfehlbarkeit äußern und widerlegt diese mithilfe von perspektivischer Vielfalt und der Ausstellung von B.s pervertiertem Wertekosmos.

Strukturieren lässt sich der Text jenseits seiner vorgegebenen Zweiteilung anhand des Moments des Sinneswandels Mr. B.s. In der Folge verläuft das weitere Zusammenleben der beiden weitgehend konfliktfrei, und die Briefe Pamelas arbeiten sich an ihrer neuen gesellschaftlichen Rolle ab. Dabei erhält das Mädchen kaum mehr Gelegenheit zu einem ohnmächtigen Zusammenbruch. Nachdem sie den Status der Ehefrau erreicht und den gesellschaftlichen Aufstieg vollzogen hat, steht sie nicht mehr unter Beweisdruck.

Zwar gelten fraglos auch für verheiratete Frauen spezifische Normen, die Sanktionierung durch die Ehe absorbiert jedoch teilweise die Handlungserwartungen.

Entsprechend wird sich die Analyse auf den so definierten ersten Komplex konzentrieren und abschließend lediglich ein einzelnes Beispiel aus den weiter-führenden Briefen anführen.

Pamelas zahlreichen Ohnmachten gehen fast ausnahmslos die Zudringlichkeiten Mr. B.s voraus. Er ist der Sohn ihrer ehemaligen Herrin, nach deren Tod die Protagonistin als Hausangestellte im Besitz der adeligen Familie bleibt. Seine unsittlichen Avancen quittiert sie mit deutlichen Reaktionen des Grauens sowie mit Angst und Schrecken. Sie erklärt sich in den Briefen an ihre Eltern sowie in ihren späteren Tagebuch-aufzeichnungen nicht bereit, auf diese einzugehen. Bereits ihre Reaktion auf den ersten Bedrängungsversuch Mr. B.s verdeutlicht ihren Unwillen:

[H]e put his Arm about me, and kiss‟d me! Now you will say, all his Wickedness appear‟d plainly.

I struggled, and trembled, and was so benumb‟d with Terror, that I sunk down, not in a Fit, and yet not myself; and I found myself in his Arms, quite void of Strength, and he kissed me two or three times, as if he would have eaten me. – At last I burst from him, and was getting out of the Summer-house; but he held me back, and shut the Door. [P, S. 23]

Die unangemessene Distanzlosigkeit Mr. B.s in Form von Umarmungen und Küssen, die Pamela hier im Brief an ihre Eltern rekapituliert, bildet an dieser frühen Stelle des Romans den Beweis für die unmoralischen Absichten ihres Angreifers. Dabei markiert die Formel „Now you will say“ eine nicht nur subjektiv empfundene Überschreitung der sittlichen Grenzen, sondern einen objektiv evidenten unmoralischen Akt. Sie selbst muss die unerhörte Annäherung nicht bewerten, es bedarf nicht mehr als der Beschreibung des Umarmens und Küssens, die sie jedoch emphatisch mit einem Ausrufezeichen versieht, um so ihre eigene Bestürzung ersichtlich zu machen. Das

99 zuvor gegenüber dem Adeligen gehegte ängstliche Misstrauen der Eltern („Oh! That fatal Word, that he would be kind to you, if you would do as you should do, almost kills us with fears.“ [P, S. 14]), muss nun der unumstößlichen Erkenntnis weichen. Sein Handeln transportiert sein Wesen deutlich und zweifelsfrei, „plainly“. Pamela überträgt dieses Prinzip auf sich selbst, indem sie ihre körperlichen Reaktionen nacherzählt, anstatt ihr Urteil zu versprachlichen: Sie setzt sich zur Wehr, zittert und sinkt betäubt zusammen. Unwillen und Angst als natürliche Konnotationen erschließen sich dabei dem Leser. Grauen und Schrecken lösen ihre Benommenheit aus, die sie ausdrücklich nennt und so hervorhebt („so benumb‟d with Terror”). Pamelas Körper und seine affektive Expressivität nehmen so von Beginn an die Rolle eines Beweismittels ein. Der im Zusammenhang mit den folgenden Ohnmachten immer wiederkehrende Konnex von Angst, Schrecken und Grauen bei den Übergriffen auf die Protagonistin bilden den Nenner ihrer Tugendhaftigkeit und deuten sich hier bereits an. Dass es dabei nicht zu einem Ausfall der Sinne kommt, die bestürzende Wirkung jedoch durchaus mit „and yet not myself” evident wird, kann auf pragmatische Überlegungen zurückgeführt werden:

Sie könnte die weiteren unerhörten Küsse und die Rücksichtslosigkeit Mr. B.s nicht schriftlich nachvollziehen, hätte sie sie nicht zumindest im betäubten Zustand erlebt.

Denn trotz ihrer schwachen Verfassung lässt dieser nicht von ihr ab („he kissed me two or three times, as if he would have eaten me”). Mit der Metapher des Gefressenwerdens nimmt Pamela eine antizipierende monströse und gewalttätige Zuordnung Mr. B.s vor, die zugleich das von ihr empfundene Ausmaß der Gefahr für ihre Unschuld veranschaulicht. Ihr Vater hatte ihr zuvor noch geraten: „resolve to lose your Life sooner than your Virtue.“ [P, S. 20] Damit übersteigt ein sexueller Übergriff in seiner Tragweite für Pamela sogar den Tod. Die folgende, durch einen Gedankenstrich eingeleitete Selbstermächtigung („– At last I burst from him”) trägt dieser Bedeutung Rechnung und steht zugleich für das sich plötzlich entreißende Mädchen und den Bruch zwischen Benommenheit und Aktivität. Den Übergriff kann sie so abwenden. Nicht wörtlich konkretisierbar ist dieser Zusammenhang dann, wenn er an die Voraussetzung des nicht vorsätzlichen Handelns geknüpft ist und Pamela impulsiv vor den unmoralischen Avancen flieht. Wie eine Ohnmacht vollzieht sich dies unreflektiert und von Grund auf tugendhaft. Das typographische Zeichen komprimiert ihr Erleben und vermittelt es dem Publikum auf ebenso kompakte und unmittelbare Weise. Bei der Darstellung der moralischen Verfassung der Protagonistin spielen also sowohl der

100 Figurenkörper als auch der Schriftkörper eine entscheidende Rolle, nicht nur im Hinblick auf dessen sprachliche Vermittlungsfunktion.

Mit der emotionalen und affektiven Besetzung auch des Satzzeichens verschmelzen körperliche und schriftliche Reaktion in ihrer Impulsivität und stellen zur gleichen Zeit komplementäre Elemente dar. Sie bilden die Rückversicherung für das jeweils andere Element und setzen eine Bewegung der gegenseitigen Bestätigung in Gang. Als eine Einschränkung der Glaubwürdigkeit stellt sich jedoch heraus, dass allein Pamela die Beweise liefern kann: „Daß der introspektive Briefroman eine facettierte und nuancierte Charakterdarstellung besonders begünstigt und direkt wertende Erzählereingriffe ausschließt, wird für den um moralische Eindeutigkeit besorgten Autor zum Problem.“275 Indem der Brief die physische Expressivität transparent macht, also diese in ein Zeichen überführt sowie das emotionale und affektive Erleben der Protagonistin an die Schrift knüpft, sucht er jedoch seinen mangelnden Einfluss zu kompensieren und den Leser direkt in das Geschehen einzubeziehen. Außerdem bildet die Läuterung Mr.

B.s ein Zeugnis für die Aufrichtigkeit Pamelas. Das tugendhafte Ineinandergreifen von geistiger und körperlicher Unschuld schützt sie vor dem Tod, da wie gesehen ihre Tugend eine höhere Priorität als ihr Überleben hat. Anhand ihrer Briefe stärkt und bestätigt sie ihre moralische Integrität und verteidigt sich außerdem aktiv selbst. Eine Gefahr stellen damit nicht nur die sexuellen Übergriffe B.s dar, sondern auch ein Schreibverbot, das sie fürchtet: „So I resolv‟d to hide a Pen of my own here, and another there, for fear I should come to be deny‟d, and a little of my Ink in a broken China Cup, and a little in another Cup; and a Sheet of Paper here-and-there among my Linen“ [P, S. 112]. Pamelas physische Reaktionen sollen zusammen mit dem schriftlichen Nachvollzug als nachahmungswürdiges Beispiel für die Leser dienen. Die dritte Kommunikationsform, die ihr zur Verfügung steht, das Sprechen, zahlt ebenso auf dieses Ziel ein und vervollständigt das umfassend tugendhafte Bild.

1.2. Sprechen und Handeln zwischen Täuschung und Selbstermächtigung

Im Dokument Zwischen Stabilität und Konflikt (Seite 99-102)