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Lady Davers und die exzessiven Leidenschaften

Im Dokument Zwischen Stabilität und Konflikt (Seite 117-121)

VI. Literarische Ohnmachten im 18. und 19. Jahrhundert

1. Die Ohnmacht im Briefroman: Nähe und Distanz von Erleben und Rezeption

1.4. Lady Davers und die exzessiven Leidenschaften

115 Die Ausgangssituation der Protagonistin wendet sich mit der Bestätigung ihrer Tugendsignale in Form ihrer körperlichen, sprachlichen sowie schriftlichen Zeugnisse wie gesehen zu einem harmonischen Ende. Zusammen bilden die Briefe, die in der Lage sind, zwischenmenschliche Gefühle entstehen zu lassen, sowie Pamelas sublimierter Leib in einer wechselseitigen Annäherung einen schließlich unteilbaren Schriftkörper.

Die Verschränkung der beiden Konstituenten schlägt sich paradigmatisch im Motiv der weiblichen Ohnmacht nieder, die schriftlich und physisch eine Leerstelle bildet und damit die unumschränkte Übereinstimmung von Bewusstsein und Impuls sowie Vernunft und Emotion zum Ausdruck bringt. Als Signal für die Unschuld des Mädchens erörtert der Roman noch nach der Eheschließung die Grenzen des psychophysischen Ausfalls am Beispiel von Mr. B.s Schwester. Lady Davers stellt, wie er vor seiner Wandlung, ein negatives Gegenstück zu Pamela dar.

116 whether we were in Bed together“ [P, S. 415-416], wie Pamela vermutet. Ihr exaltiertes Gebaren („[i]n rushed she”, „crying out” [P, S. 416]) und die wütenden Verwünschungen gipfeln schließlich in einem heftigen Gefühlsausbruch, „in a violent Burst of Passion“ [P, S. 420]. Sie beschimpft Pamela als „Harlot“ [P, S. 414],

„Strumpet“ [P, S. 420] und „Slut“ [P, S. 423], also als Hure, und ihr Bruder deutet ihre Attacken als Wahnsinn: „The Woman‟s mad, I believe“, „see how frantickly this Woman of Quality behaves“ [P, S. 416]. Als er sie zur Erholung aus dem Zimmer führt, stellt sich im ersten Schritt keine Besserung ein: „she could not speak for Passion“

[ebd.]. Wie bei Mr. B.s Auseinandersetzung mit Pamelas Briefen zeigt auch Lady Davers Anzeichen einer psychosomatischen Krankheit, während sie gegen die Beziehung ankämpft. Ihre Magd berichtet: „Her Ladyship has been ill all Night“ [ebd.].

Das Krankheitsbild steigert sich zu schmerzhaften Krampfzuständen, die Mitleid bei B.

hervorrufen: „She is a strange Woman, said he: How I pity her! – She has thrown herself into a violent Fit of the Colick, thro‟ Passion: And is but now, her Woman says, a little easier” [P, S. 417].

Die leidenschaftlichen Reaktionen Lady Davers„ steigern sich zum pathologischen Exzess, und dieser unterscheidet sich in seiner Beschreibung deutlich vom Tugend beweisenden Dahinsinken im Zuge von Pamelas Ohnmachten („I fainted away” [P, S.

63, 177 und 204]). Die Formulierung B.s, „[s]he has thrown herself“ [Hervorhebung C.E.], fällt dabei ins Auge. Sie verlegt den Auslöser des Anfalls in die Figur selbst und signalisiert eine fehlende Einwirkung von außen. Diese Perspektive verweist ex negativo auf eine Facette der Zusammenbrüche der Protagonistin, die als Abwehr-reaktionen auf die unsittlichen Annäherungsversuche identifiziert wurden und damit als instinktiv tugendhaftes Verhalten. In den entsprechenden Szenen fehlt in keinem Fall eine Ursachenerörterung, und der Eindruck einer eigens produzierten Störung ist damit auszuschließen: „I fell into a Fit with my Fright and Terror” [P, S. 32], „[Mrs. Jervis:]

You see how, by her Fit, she was in Terror” [P, S. 35], „when my Fright let me know it, I was ready to die; and […] fainted away” [P, S. 63], „I fainted away, with Dejection, Pain and Fatigue” [P, S. 177], „With Struggling, Fright, Terror, I fainted away” [P, S.

204]. Passivität beim Erleiden des Phänomens ist also Bedingung, da sonst wie gesehen eine Verbindung zur geäußerten „Madness“ (wenn auch nicht im Sinne einer dauerhaften mentalen Erkrankung) und zum Anomalen („strange“) hergestellt werden kann, für die wiederum die Figur selbst verantwortlich ist. In einem heftigen Streit mit Lady Davers bringt Mr. B. die moralische Überlegenheit Pamelas sowie ihrer

117 unverschuldeten Ohnmachten zum Ausdruck: „For Beauty, Virtue, Prudence, and Generosity too, I will tell you, she has more than any Lady I ever saw. Yes, Lady Davers, she has all these naturally; they are born with her” [P, S. 423].

Damit stehen Lady Davers„ Anfall und ihr Agieren Pamelas Ohnmachten sowie ihrer Tugendhaftigkeit diametral gegenüber, die weder maßlos noch entgrenzt erscheinen.

Schließlich kann der Einfluss des vorbildlichen Wesens der Protagonistin auch B.s Schwester auf den rechten Weg führen. Durch Ruhe und ihre folgende Einsicht („I have indeed gone too far. I was bewitched!“ [P, S. 433]; „I am convinced it was wrong. I am asham‟d of it myself” [P, S. 436]) stellt sich eine Besserung ihres Zustands ein. Sie hat im Roman damit neben der Funktion eines Gegenstücks zu Pamela eine weitere wichtige Rolle in Bezug auf die anderen Figuren inne. Die folgende These zu wahnsinnigen Frauen in der Literatur beschreibt diese:

In the eighteenth-century literature of sensibility, such women may have served simply as indexes for the demonstration of individual sympathy: the personae or narrators using them as subjects provoking a response in which their own capacity to feel operated as a prime concern.291

Wie oben gesehen löst der Krampfanfall der Lady bei Mr. B. eine emotionale Reaktion aus, die ihn als Mitleid empfindendes Subjekt identifiziert: „How I pity her!“ [P, S.

417]. Seine Entwicklung ist damit abgeschlossen und der Kontrast zum Ausgangspunkt deutlich ersichtlich: Pamela bedauert er bei ihren Ohnmachten zuerst nicht, er ist vielmehr um seinen Ruf besorgt. Der Roman führt auch nach dem Ende ihres Leidenswegs die Charakterisierung der Figuren im Hinblick auf ihren sittlichen Status über die jeweils anderen fort. Anhand des Standesbewusstseins und der Maßlosigkeit Lady Davers„, die sich in ihrem rasenden Anfall auch körperlich manifestiert, verdeutlichen die Briefe die gefestigte Moralität B.s und der Protagonistin. Im Kontext der intendierten Funktion der schriftlichen Zeugnisse als Anleitung zur Bändigung von übermäßigen Leidenschaften bildet Davers – wie ihr Bruder – ein abschreckendes Beispiel mit glücklicher Läuterung. Sie tritt schließlich in ein bewundernd-harmonisches Verhältnis zu Pamela und ihrem Ehemann. Die positive Besetzung des Verhaltens der Hauptfigur und ihrer Eigenschaften bestätigt das Ideal der tugendhaften, gemäßigten und enthaltsamen Frau und stellt mit der Liebe und dem sozialen Aufstieg einen individuellen Nutzen in Aussicht.

291 Martin (1987), S. 4.

118 In seinem Roman führt Richardson den Lesern den Nutzen eines tugendhaften Lebenswandels vor Augen. Er dokumentiert den gesellschaftlichen Aufstieg seiner titelgebenden Protagonistin und beweist ihre Aufrichtigkeit und Authentizität anhand ihrer Ohnmachten und Briefe, die sich gegenseitig stützen. Im Zuge dieses Zusammen-spiels von Körper und Schrift sowie von Sprechen und Handeln steht ihr ohnmächtiger Kollaps unter dem Vorzeichen eines tugendhaften Wesens. Bewusstes Handeln und unbewusste Impulse gehen darin auf und konstituieren eine moralische Ganzheit, die die Rezipienten als solche erkennen sollen. Der körperliche Ausdruck, auch z. B. in Form der Krankheit Mr. B.s, geht in diesen Code ein, nachdem die Figuren ihre Standhaftigkeit und Authentizität bewiesen bzw. eine Läuterung durchlaufen haben.

Affirmation und Abgrenzung sowie Konstanz und Wandel bilden damit die Mittel zur Generierung und Festigung von positiv bewerteten und schließlich belohnten Charakter-modellen. Über die Perspektive der schreibenden Protagonistin und die unsittlichen Absichten Mr. B.s tritt jedoch die Phänomenalität des weiblichen Körpers auf den Plan.

Sie stellt ein Element des ohnmächtigen Zusammenbruchs dar und steht blitzlichtartig der Transparenz auf die tugendhaften Beweggründe Pamelas gegenüber. Der Roman eröffnet also eine Facette der weiblichen Ohnmacht, die mit dem tugendhaften Kontext und dem Anspruch der moralischen Leserbildung nicht vereinbar ist. Besonders in der sprachlich konstituierten virtuosen Bildlichkeit treten die Materialität der Physis und die Schrift im Zeichen des Unwissens auseinander und spalten das tugendhafte Subjekt, das in der Schlüsselloch-Szene als begehrt und begehrenswert ersichtlich wird. Der Vorwurf der Fingierung und Willkürlichkeit beschwört diesen Effekt ebenfalls, dient hier im zweiten Schritt jedoch der Bestätigung der umfassenden Unfehlbarkeit. Auf Handlungsebene stellen sich in der Rückschau die fetischisierte Besetzung Pamelas durch B. sowie das männliche Begehren als Charakterproblem und fehlende moralische Integrität heraus. Die Belohnung eines harmonischen Verhältnisses unter den Figuren und des sozialen Aufstiegs festigt diese Perspektive.

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