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Luises Ohnmacht als anthropologisches, ästhetisches und funktionales

Im Dokument Zwischen Stabilität und Konflikt (Seite 152-156)

VI. Literarische Ohnmachten im 18. und 19. Jahrhundert

2. Die Ohnmacht im Drama des 18. Jahrhunderts: Bürgerlichkeit, Empfindsamkeit,

2.5. Luises Ohnmacht als anthropologisches, ästhetisches und funktionales

150 geschwätzigen und auf das Äußere bedachten Art einen pejorativen und verweiblichten Anstrich, der jedoch nicht auf vorbildliche Frauenfiguren wie Luise abzielt: „Wie wir beide zugleich auf das Strumpfband zu Boden fallen, wischt mir von Bok an der rechten Frisur allen Puder weg, und ich bin ruiniert auf den ganzen Ball.“ [KL, S. 96] Indem der Hofmarschall die Ohnmacht für sich funktionalisiert, verkommt sie zur Farce. Der Schrecken als Ursache sowie die Implikation z. B. der Tugendhaftigkeit sind von dieser Inszenierung ausgeschlossen. Zugleich bildet die „Oberflächlichkeit seines Sprechens“348 die mangelnde Verlässlichkeit seiner Affekte ab. Er ruft mit der Erwähnung des Puders seine maskenhafte Erscheinung auf, die auch sein Handeln als solche ersichtlich macht.

Im Zuge der Charakterisierung der Figuren eröffnet das Stück ein Spannungsfeld, das von den Attributen der Einfühlungsfähigkeit und emotionalen Transparenz bis zu deren Gegenteil der Gefühlshärte und Unaufrichtigkeit reicht. An seinen Extrempunkten stehen Luise und Ferdinand dem Präsidenten und Hofmarschall von Kalb gegenüber und stecken so die Grundkonstellation ab. Die Mitglieder des Hofes eröffnen die Möglichkeit eines kalkulierten Einsatzes von Affekten. Ferner sind sie in der Lage, Luises bewusstlosen Zusammenbruch in den Dienst der Intrige zu stellen. Damit machen sie sich ein Konfliktpotenzial der Ohnmacht zunutze, das eine Voraussetzung für eine tugendhafte Implikation darstellt: die Authentizität der verursachenden Emotionen und Affekte.

2.5. Luises Ohnmacht als anthropologisches, ästhetisches und funktionales

151 nähert, ihr jedoch im ersten Schritt ein sexuelles Verhältnis zu seinem Sohn unterstellt:

„(boshaft zu Louisen) Aber er bezahlte Sie doch jederzeit baar? Louise: (aufmerksam) Diese Frage verstehe ich nicht ganz.“ [Ebd.] Luise weist den Vorwurf der Untugend zuerst noch vorbildlich zurück und signalisiert damit ihr Nicht-Wissen, wie es auch Pamela zugute kommt. Dem folgenden expliziten Vorwurf durch Ferdinands Vater haben sie und ihr Bewusstsein jedoch nichts mehr entgegenzusetzen: „Eine lustige Zumutung! Der Vater soll die H u r e des Sohns respektieren. Louise: (stürzt nieder) O Himmel und Erde!“ [KL, S. 76] Im Text erfährt das Wort „Hure“ durch den erweiterten Zeichenabstand eine Markierung, die deutlich die Wahrnehmung des lesenden Publikums zu lenken in der Lage ist und auf eine emphatische Artikulation innerhalb der Aufführungssituation verweist. Mit Luises Reaktion, der Störung ihrer körperlichen Normalität, verdeutlicht sie auf räumlicher Ebene, wie der Vorwurf über sie herein-bricht. Begehren und Sexualität stehen ihren christlich geprägten Moralvorstellungen entgegen und entwickeln eine für sie physisch spürbare zerstörerische Gewalt.

Im Anschluss an Schillers Konzept lässt sich eine Anmut des Impulses und damit verbunden dessen Schönheit („Alle Anmuth ist schön“ [AW, S. 251]) konstatieren, da der Kollaps im unmittelbaren Zusammenhang mit der Tugendhaftigkeit des Mädchens steht. Das Stück verweist auf die ästhetische Dimension des Vorfalls im Nebentext, der eine gegenläufige Simultanität der Bewegungen des Liebespaars fordert: „Ferdinand (mit Louisen zu gleicher Zeit, indem er den Degen nach dem Präsidenten zükt […])“

[KL, S. 76]. Vor den Augen der Zuschauer bilden die beiden Figuren eine Formation aus Dahinsinken und bewaffnetem Aufbäumen. Mit dem Zusatz „den er aber schnell wieder sinken läßt“ [ebd.] erfährt sie einen prompten Abschluss und büßt ihre Dynamik ein. Folgt man Schillers Vortrag „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?“ aus dem Jahr des Erscheinens von „Kabale und Liebe“, besitzt das so entstandene dynamische Körperbild trotz der zeitlichen Begrenzung eine Eindrücklich-keit, die über die Wirkung von Worten hinausreicht und sich so als intensiver erweist:

„So gewiß sichtbare Darstellung mächtiger wirkt, als toder Buchstabe und kalte Erzählung, so gewiß wirkt die Schaubühne tiefer und daurender als Moral und Gesetze.“349 An dieses Konzept lassen sich Richardsons ut-pictura-poesis-Ästhetik sowie die Kombination aus statischer Räumlichkeit von Körpern in der Malerei und poetischer Prozessualität in der Tragödie bei Lessing anschließen.

349 Schiller (1962/2), S. 93.

152 Hat in der Aufklärung […] das Bild bloß didaktisch-illustrierende Funktion für die dahinter-stehende Idee zu erfüllen, um die intendierte Wirkung auf den Rezipienten zu erhöhen, so entwickelt Schiller (neben anderen Schriftstellern in der Zeit um 1800) ein neues Verhältnis von Bild und Idee: Das Bild ist nun nicht mehr nur „Instrument der Wahrheitsvermittlung“, sondern wird „originärer Wahrheitsträger“, der mit der Idee gleichberechtigt koexistiert. Somit erhält das Bild eine außersprachliche Mehrdeutigkeit, die über die Bedeutung des Signifikanten hinausweist […].350

Neben seiner subsidiären Funktion kann das Bild also einen eigenen Bedeutungs-horizont eröffnen und den sprachlich vermittelten Gehalt überbieten oder ihm zuwider-laufen. Damit schließt es an den körperlichen Ausdruck Luises an. Wie oben gesehen ist dieser in der Lage, ihre Bedenken verlässlich zum Vorschein zu bringen, während sie Ferdinand verbal von ihrer inneren Ruhe zu überzeugen sucht. In seiner Untersuchung zur Sprachlosigkeit von Schillers Protagonistin stellt Walter Müller-Seidel analog fest:

„Was sie im Innern bewegt, scheint sich der Mitteilbarkeit zu entziehen.“351 An der Stelle, wo Luise dieses Unvermögen zur sprachlichen Kommunikation überwältigt, mündet es im Zustand der Ohnmacht. Ihren Anfall schließt Ferdinand zuerst an ein bekanntes Interpretationsmuster an: „Der Schreken überwältigte sie.“ [KL, S. 78]

Schiller bestätigt diesen Wirkungszusammenhang in seiner medizinischen Dissertation im Zuge der anthropologisch üblichen Konstatierung der Verbindung von Seele und Körper: „Die Erstarrung der Seele unter dem Schreken, dem Erstaunen u.s.w. wird zuweilen von einer allgemeinen Aufhebung aller physischen Thätigkeit begleitet.“352 Dabei kommt auch die nicht an die Wortsprache gebundene physische Expressivität zum Stillstand und ermöglicht in „Kabale und Liebe“ zum einen den Rekurs auf Luises psychische Verfassung und lässt zum anderen Schlüsse auf weitere Figuren sowie auf die Konfliktkonstellationen zu. Ferner bildet der ohnmächtige Ausfall einen Katalysator für das problematische Verhältnis zwischen den an der Szene beteiligten Figuren und damit für die Intrige.

Nachdem Luise Ferdinand „halb todt in den Arm“ [KL, S. 78] gefallen ist, nimmt ihr ohnmächtiger Leib die Rolle eines umkämpften Guts ein, die sich bereits im beschriebenen Bewegungskomplex aus Dahinsinken und dem Ziehen des Schwerts ankündigt. Im bewusstlosen Zustand ist das Mädchen den Zugriffen der Gerichtsdiener des Präsidenten hilflos ausgeliefert, denen sich Ferdinand jedoch in den Weg stellt. Ihre Versuche, sich des leblosen Körpers zu bemächtigen, bilden in ihrer rhythmischen

350 Bartl (2005), S. 187.

351 Müller-Seidel (1955), S. 95.

352 Schiller (1962/1), S. 63.

153 Regelmäßigkeit den Rahmen für den verbalen Schlagabtausch zwischen von Walter und seinem Sohn. Die Gerichtsdiener „dringen auf Louisen ein“, wie in der Regieanweisung zu lesen ist, „greifen Louisen wieder an“ und „greifen hiziger an“. Schließlich schaltet sich Ferdinands Vater persönlich ein: „er faßt Louisen selbst, zerrt sie in die Höh und übergibt sie einem Gerichtsknecht.“ [KL, S. 80] Die Szene spitzt sich über den ohnmächtigen Leib der Protagonistin zu, schließlich ergreift Ferdinand Besitz von ihm,

„drükt einen Gerichtsdiener weg, fasst Louisen mit einem Arm, mit dem andern zükt er den Degen auf sie.“ [KL, S. 82] Das Hin- und Herreißen erlebt das Publikum als verstörenden und gewaltvollen Missbrauch des Mädchens, der Mitleid und Unbehagen hervorruft. Mit der Drohung, sie zu töten, und der Geste des intendierten Erstechens dreht sich die Rolle des Majors vom Beschützer zum Aggressor. Er begeht die Tat an dieser Stelle nicht, verweist jedoch auf Luises späteren Vergiftungstod. Ein „Rück- fall in standestypisches Verhalten, in aristokratisches Verfügen über den anderen Menschen“353 ist an dieser Stelle zu beobachten. Entsprechend tritt der Besitzanspruch mit seiner bildlichen und dynamischen Eindrücklichkeit gegenüber der empfindsamen Liebesrhetorik in den Vordergrund. Ferdinand treibt diese Verschiebung bereits im Vorfeld voran, indem er Luise zu seinem Eigentum erklärt: „Mein bist du, und wärfen Höll„ und Himmel sich zwischen uns“ [KL, S. 70]. Sein Treffen mit der für ihn vorgesehen Braut, Lady Milford, hat weitreichende Konsequenzen, und er muss eingestehen, dass „[s]eine Louise aufhörte, Ihrem Ferdinand alles zu seyn“ [ebd.]. Im selben Auftritt kündigen sich der Wandel seines Anspruchs auf die Protagonistin zum verhärteten Prinzip und damit der Übergang zur körperlichen Gewalt an. Die Schwert-szene bildet die nächste Stufe dieser Entwicklung, die in der Verabreichung des Gifts mündet: „Hier Louise! Deine Hand ist die meinige (er faßt diese heftig)“ [KL, S. 72].

Im vierten und vorletzten Akt nimmt Ferdinands Verhalten dann fanatische Züge an:

„Mich laß allein machen, Richter der Welt! (indem er schreklich die Hände faltet) Solte der reiche vermögende Schöpfer mit einer Seele geizen, die noch dazu die schlechteste seiner Schöpfung ist? – Das Mädchen ist mein! Ich einst ihr Gott, jezt ihr Teufel!“ [KL, S. 126]

Die Spuren dieser Haltung lassen sich bis zum Beginn des Dramas zurückverfolgen. In der Ohnmachtsszene brechen die Hinweise dann katalysiert durch den intriganten Präsidenten im Zuge der „Bewegungschoreographie[]“354 auf. Dabei nimmt der Kampf

353 Guthke (2009), S. 120.

354 Bartl (2005), S. 197.

154 um den ohnmächtigen Leib die Rolle einer antizipierenden mise en abyme ein, die Luises vielschichtigen Konflikt wie auch die über ihre Figur hinausreichende Konstellation veranschaulicht. Letztlich wird sie das Opfer Ferdinands wie auch seines mitleidlosen Vaters, der sie für seine Intrige instrumentalisiert und der mit seinem Sohn im Clinch liegt: „Weg von der Mäze, Junge – ohnmächtig oder nicht – Wenn sie nur erst das eiserne Halsband um hat, wird man sie schon mit Steinwürfen aufweken.“ [KL, S. 78] Vater Miller steht der Situation trotz seiner verbalen Selbstbehauptungsversuche machtlos gegenüber, wie der Nebentext anschaulich verdeutlicht: „wechselweis für Wut mit den Zähnen knirschend, und für Angst damit klappernd“ [KL, S. 76].

Die Erläuterungen zu Luises Ohnmachtsanfall und -zustand, die den zweiten Akt von Schillers Stück abschließen, machten deutlich, wie diese mehrere Funktionen im Text erfüllen. So können sie im anthropologisch-medizinischen Sinne und unter Rückgriff auf die Schriften des Autors selbst auf den Schrecken zurückgeführt werden, der die Beleidigungen des Präsidenten ablehnend quittiert. Des Weiteren vollziehen die beiden Szenen den Konflikt, der der Handlung zugrunde liegt, in komprimierter Form nach und setzen diesen körperdominiert in Szene. Die dabei zum Tragen kommenden ästhetisch-sinnlichen Effekte können an das Postulat Schillers angeschlossen werden, das Theater involviere „alle Kräfte der Seele, des Geistes und des Herzens“355. Mithilfe der bereits angesprochenen Schrift tritt der prekäre Charakter von Luises Ohnmacht verstärkt hervor. Er ist bereits im Zuge des Hin- und Herzerrens ihres wehrlosen Körpers ersichtlich.

Im Dokument Zwischen Stabilität und Konflikt (Seite 152-156)