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(Franz S c h u b e r t. J. Fr. R e i c h a r d t.)

Ed. H. „Was ein Mann für Andere bedeutet, der beste Theil seines Le-bens bleibt in dieser Form für die nächsten Geschlechter, vielleicht bis in die fernste Zukunft. Und sowol die, welche ein gutes Buch schreiben, als auch solche, deren Leben und Thun im Buche dargestellt wird, sie behar-ren in der That lebendig unter uns. Wir dürfen sagen, im Buche dauert das geistige Leben des Einzelnen, und nur der Geist, welcher eingebucht ist, hat sichere Dauer auf Erden.“ Es fügte sich hübsch, daß wir in der Lectüre von F r e y t a g ’ s anmuthiger Erzählung „Die verlorne Handschrift“ gerade bei den oben angeführten Worten hielten, als man uns zwei neue Biographien überbrachte: Franz S c h u b e r t ’ s und J. Fr. R e i c h a r d t ’ s . Grundverschie-den in jedem Bezug, treffen doch beide Tondichter in dem gleichen Anspruch zusammen, als Menschen wie als Künstler „lebendig unter uns zu beharren.“

Für Beide geht dieser Anspruch jetzt gleichzeitig in Erfüllung, ihr Leben und Thun liegt zum „erstenmal zu sicherer Dauer eingebucht“ vor uns.

Wir können hier nur die Absicht haben, unsere Leser auf K r e i ß l e ’ s

„Schubert“ und S c h l e t t e r e r ’ s „Reichardt“ aufmerksam zu machen; eine eingehend kritische Beurtheilung der beiden – überdies sehr umfangrei-chen – Novitäten gehört in ein Fachblatt. Das Schubertbuch steht uns na-türlich näher; nicht nur behandelt es den ungleich größeren Künstler, den Wiener obendrein – auch der Verfasser, Herr Dr. K r e i ß l e v o n H e l l -b o r n , ist Einer von den Unsern und im musikalischen Centrum Wiens als ausübender und schriftstellernder Musiker vortheilhaft bekannt.

November 1864

Als B e e t h o v e n die Augen schloß, ging es seinen Verehrern wie R a -h e l , die bei der Nac-hric-ht von G o e t -h e ’ s Tod gestand, sie -habe nie im Ernste daran gedacht, daß auch Goethe sterben könne. Ehe man sich des Schlages nur recht bewußt, des Verlustes völlig klar geworden, war, ein Jahr nach B e e t h o v e n , auch derjenige erblaßt, der inzwischen still und unerkannt dessen Erbschaft angetreten hatte: F r a n z S c h u b e r t. We-nige Schritte nur liegen zwischen ihm und Beethoven – in der Kunst, wie auf dem Friedhof. Was in Wahrheit Schubert’s Leben ausmachte, ruht in seinen Tondichtungen; in solcher Fülle liegt es vor uns ausgebreitet, daß es noch kaum überblickt, geschweige denn durchforscht ist. Seine äußeren Schicksale hingegen, die allereinfachsten, die nur immer ein großes See-lenleben einrahmen können, sind mit wenigen Worten erzählt. Du kennst, musikliebender Leser, das bescheidene, einstöckige Haus in der Vorstadt Lichtenthal, an welchem seit Kurzem eine Gedenktafel die Vorübergehen-den belehrt, daß hier am 31. Jänner 1797 Franz Schubert geboren wurde.

Hier wuchs er im Kreise seiner Eltern und Geschwister in gar beschränk-ten Verhältnissen auf. Sein Vater hatte eine kleine Schullehrerstelle und – neunzehn Kinder. Zum Glück sind die Schullehrer meistens die wahren musikalischen Missonäre im Land und jedes Schulhaus eine kleine Wegka-pelle musikalischer Andacht. Im Schubert’schen Hause waren Vater und Brüder wackere Musiker – ihre sonntägigen Gesammt-Productionen mah-nen fast an Sebastian Bach und seine Söhne – der junge Franz wurde denn recht eigentlich „von Haus aus“ musikalisch. Seine hübsche Sopranstimme ertönte bald in der kaiserlichen Hofcapelle und verschaffte ihm einen Zög-lingsplatz im „Convict“. Diese Anstalt, den allgemeinen gelehrten Studien gewidmet, war damals für die Zöglinge beinahe eine Conservatorium in kleinem Styl, gleichsam ein letzter, weltlicher Nachklang jener segensrei-chen Sängerschulen, in welsegensrei-chen früher Domcapitel und Klöster für die He-ranbildung junger Sänger sorgten. Componirt hat der junge Schubert schon im Convict sehr eifrig, er hatte da immer viel mehr Ideen als Notenpapier.

In seinem sechzehnten Jahre kehrte Schubert ins väterliche Haus zu-rück und trat bei seinem Vater als Schulgehilfe ein. Drei Jahre hielt Pega-sus im Joche aus, ruhig, wenn auch nicht willig. Und welch ein Joch es für diese hochfliegende Künstlernatur war, kleinen Kindern nicht ohne Bei-hilfe handgreiflicher Ermahnungen das ABC einzuüben, läßt sich denken.

Sein Kopf summte schon wie ein Bienenstock von süßen, blüthenduftigen Melodien. Endlich ward ihm der geistige Druck doch zu unerträglich, und er gehorchte der innern Stimme, die ihn zur Tonkunst rief. Hier, dünkt uns, liegt der einzige entscheidende Abschnitt in Schubert’s kurzer Laufbahn.

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Alles was nun folgt, ist einheitliche „zweite Periode,“ ihr Inhalt ein ununter-brochener Strom musikalischen Schaffens. Das freundschaftliche Zusam-menleben mit B a u e r n f e l d und Moriz S c h w i n d , der Verkehr mit dem ältern Dichter M e y e r h o f e r übte fördernden Einfluß auf Schubert. Es ist bekannt, daß der hochgebildete Opernsänger Michael V o g l Schubert’s Lie-der zuerst in größere Kreise einführte, sowie daß im Jahre 1821 die Her-ausgabe des „Ersten Werkes“ (Erlkönig) durch Leopold v. S o n n l e i t h n e r angeregt und ermöglicht worden ist. Früher hatte Schubert seine Lieder in Privatkreisen selbst vorgetragen. Wir möchten den Vortheil betonen, der ihm (namentlich im Vergleich mit Beethoven) daraus zu statten kam, daß er selbst Sänger war und deshalb auch stets sangbar schrieb. Der Erfolg jener ersten Publication war sehr günstig, und bald sah sich Schubert in den Stand gesetzt, unabhängig, wenngleich sehr eingeschränkt, zu leben.

In Geldsachen zeitlebens ein Kind, hat Schubert leider nie verstanden, aus seinen Werken, die bei der unendlichen Leichtigkeit seines Produci-rens ihm eine sorgenfreie Existenz hätten bereiten können, angemessenen Vortheil zu ziehen. Lectionen geben war ihm, gerade wie Beethoven, unbe-zwinglich verhaßt. Ein öffentliches Musikamt hat er nie bekleidet, wenn auch zweimal angesucht. Es war eine Musikdirectors-Stelle in Laibach und die Stelle eines Vice-Hofcapellmeisters in Wien, um die er sich erfolglos bewarb. Eine zeitlang fungirte Schubert als Correpetitor am Hofopernthea-ter; „ich passe nicht dazu,“ pflegte er selbst zu sagen. Mit Ausnahme eines Sommeraufenthaltes beim Fürsten Eszterhazy in Ungarn und mehrerer Streifzüge durch Oberösterreich und Salzburg lebte Schubert stets in Wien.

Aus jener Villeggiatur in Zélez, die das Herz des jugendlichen Tondichters nicht unbehelligt gelassen – auch eine flüchtige Aehnlichkeit mit dem com-tessenschwärmenden Beethoven – stammen in Sch.’s Werken die häufigen reizenden Anklänge an ungarische National-Melodien. Ganz in seinem Le-benselement fühlte sich aber Schubert, wenn er mit V o g l Oberösterreich und Salzburg durchzog, beide singend und spielend, in den besten Fami-lien, in den stattlichsten Klöstern mit Jubel empfangen und festgehalten.

„Als wenn das Sterben das Schlimmste wäre, was uns Menschen begegnen kann,“ schreibt Schubert einmal von solch einem fröhlichen Ausfluge mit Beziehung auf seinen eben von schwerer Krankheit genesenen Bruder Fer-dinand. „Könnte er nur einmal diese göttlichen Berge und Seen schauen, deren Anblick uns zu erdrücken und zu verschlingen droht, er würde das winzige Menschenleben nicht gar so sehr lieben, als daß er es nicht für ein großes Glück halten sollte, der unbegreiflichen Kraft der Erde zu neuem Leben wieder anvertraut zu werden.“ Schubert selbst sollte „diese

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chen Berge und Seen“ nicht wieder schauen. Von heftiger, kurzer Krank-heit hingestreckt, endete Schubert, 32 Jahre alt, am 19. November 1828.

Die Umrisse von Schubert’s Leben, wie wir sie hier flüchtig gezeichnet, mit allem noch erreichbaren Detail auszufüllen und dies Detail urkundlich festzustellen, war das Ziel, welches Herr v. K r e i ß l e sich in seiner Schu-bert-Biographie gesteckt, und dem er mit rühmenswerther Ausdauer und Gewissenhaftigkeit zugestrebt hat. Von dem zweiten Theil der Aufgabe, der ästhetisch kritischen, ganz abgesehen, stößt schon jenes rein biographische Unternehmen auf große Schwierigkeiten. Sie liegen hauptsächlich in dem so einfachen bescheidenen Verlauf dieses Künstlerlebens.

„In Schubert’s Leben,“ sagt sein Freund A. S c h i n d l e r ganz richtig,

„gab es nicht Berg, nicht Thal, nur gebahnte Fläche, auf der er stets in gleichmäßigem Rhythmus sich bewegte. Auch sein Gemüthszustand glich einer spiegelglatten Fläche und war durch äußerliche Dinge nur schwer zu irritiren. Seine Tage flossen dahin, wie es dem arm Geborenen und arm Gebliebenen in bürgerlicher Sphäre geziemt.“ Nur Jemand, der Schubert in persönlich intimen Verkehr nahe gestanden, und der zugleich ein Stück Poet ist, wäre vielleicht im Stande, uns den stillen, räthselvollen und doch so liebenswürdigen Mann so zu schildern, daß er uns Andern lebendig würde. Und dennoch haben zwei Männer, in welchen beide Bedingungen zusammentreffen, es wiederholt abgelehnt, sich an S c h u b e r t ’ s Biogra-phie zu versuchen: B a u e r n f e l d und Franz v. S c h o b e r. Auch Herr v.

K r e i ß l e verhehlt sich diese Schwierigkeit nicht, doch konnte sie ihn „in keiner Weise abhalten, den verpönten Versuch mit verstärkter Kraft zu wagen.“

„Es ist,“ fährt er in der Vorrede fort, „meine auf Erfahrung gestützte Ueberzeugung, daß in nicht ferner Zeit bei dem allmäligen Heimgang der noch lebenden Zeugen von Schubert’s äußerer Existenz eine Biographie dieses Tondichters schlechterdings zu den Unmöglichkeiten gehören wird, und daß fürder, ungeachtet so mancher unvermeidlicher Lücken, kaum ein Mehreres geboten werden dürfte, als in dieser Darstellung enthalten ist.“ Wir geben dem Verfasser hierin vollständig Recht und können ihm nur dankbar sein, daß er die erhebliche Mühe auf sich genommen, Alles zu sammeln, was an mündlichen und schriftlichen Mittheilungen über Schubert, an Briefen und sonstigen Behelfen aufzutreiben war. Was seine Arbeit zur genauen Feststellung von Schubert’s äußeren Erlebnissen und zur Chronologie seiner Werke beibringt, ist höchst schätzbar und macht dieselbe zu einem unentbehrlichen Nachschlagebuch für Alle, die sich in dem Gebiet dieser Thatsachen orientiren wollen. Daß uns Schubert’s volle

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charakteristische Persönlichkeit durch K r e i ß l e ’ s umfangreichen Band nicht lebendiger geworden ist, als sie es uns aus den bekannten Aufsät-zen von B a u e r n f e l d , S c h i n d l e r und M e y e r h o f e r , endlich aus den in K r e i ß l e ’ s früherer „Skizze“ veröffentlichten 3–4 Briefen Schubert’s bereits war, können wir nicht leugnen. Desgleichen sei offen gestanden, daß des Verfassers Urtheile über Schubert’sche Compositionen sich in zu allgemeinen, allerdings von wärmster Bewunderung dictirten Ausdrücken bewegen, um zur tieferen Erkenntniß dieses Tondichters oder einzelner sei-ner Werke beizutragen. Die Aufnahme aller Aussprüche R. S c h u m a n n ’ s über Schubert war jedenfalls ein glücklicher Gedanke.

Offenbar war es dem Verfasser zunächst darum zu thun, ein möglichst reiches Material zu sammeln und sicherzustellen. Und diese Aufgabe hat er mit der Genauigkeit eines musterhaften Registrators gelöst. Niemand, der von dem Werth solcher Arbeit und von deren Schwierigkeit einen Begriff hat, wird K r e i ß l e ’ s Thätigkeit unterschätzen.

Die Sorgfalt, nichts von dem gesammelten Material verlorengehen zu lassen, hat den Verfasser sogar verleitet, mitunter sehr überflüssige Dinge aufzunehmen, wenn sie ihm nur irgend einen Zusammenhang mit Schu-bert zu bieten schienen. Es werden uns die „Personalien“ und Familien-Verhältnisse keines Menschen erspart, der je in Berührung mit Schubert gekommen, so daß das Buch von unbekannten und unbedeutenden Statis-ten förmlich wimmelt. Darf das Interesse, welches speciell die ältere Wie-ner GeWie-neration für derlei haben mag, hierin wirklich entscheidend sein?

Noch freigebiger ist der Verfasser mit dem Abdruck von Briefen. Wenn wir ihm den Abdruck jedes nur auffindbaren Briefes von S c h u b e r t ’ s Hand zugestehen, so zeigen wir uns wol liberal genug. Auch die Briefe von S c h w i n d und B a u e r n f e l d möchten wir, obwol sie überaus häuslichen Inhalts sind, nicht missen, da uns die Persönlichkeit dieser Briefsteller und die Art ihres Verkehrs mit Schubert interessirt.

Was soll uns hingegen der v o l l s t ä n d i g e Abdruck der zahlreichen, rein geschäftlichen Briefe von den Musikverlegern P r o b s t , S c h o t t , B r ü g g e m a n n , P e t e r s etc., deren Inhalt sich mit den zwei Worten wie-dergeben ließ: Der Verleger N. N. nahm die ihm offerirten Schubert’schen Compositionen an, oder er nahm sie nicht an. Was sollen uns ferner ganz unbedeutende Briefe dritter Personen an dritte Personen, z. B. des Herrn J e n g e r an Frau P a c h l e r oder das Schreiben S c h o b e r ’ s an S p a u n (S. 228), welches nur in den ersten Zeilen Schubert’s erwähnt, in seinem ganzen weitern Verlauf aber nur von Bagatellen handelt, die keinen Men-schen außer Herrn v. S p a u n interessiren können. Ueberdies sind diese

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Briefe nicht etwa (wie bei J a h n) in den Anhang verwiesen, sondern durch-weg in den Text aufgenommen, dessen Fortgang dadurch auf das ermü-dendste gehemmt wird.*) Da der Werth eines Buches doch nicht genau mit dessen Papiermasse zunimmt, wird man Kreißle’s neue Schubert-Biogra-phie im Vergleich mit dessen früherer „biographischen Skizze“ kaum in d e m Maße reichhaltiger finden, als sie dicker ist. Ein wesentlicher Fort-schritt der neuen Bearbeitung liegt hingegen in der besseren Anordnung und Eintheilung, in den Notizen über die Entstehung und erste Aufführung der wichtigsten Schubert’schen Werke, endlich und ganz vorzüglich in der Beigabe eines vollständigen chronologischen Verzeichnisses der Composi-tionen Schubert’s. Diese Vorzüge werden K r e i ß l e ’ s Buch überall eine freundliche, achtungsvolle Aufnahme sichern, umsomehr, als auch die ge-schmackvolle Ausstattung desselben der bewährten Firma G e r o l d alle Ehre macht.

Es bleibt uns nur mehr wenig Raum, um dem Leser von dem biogra-phischen Denkmal zu erzählen, das der verdienstvolle Augsburger Dom-capellmeister H. M. S c h l e t t e r e r dem beinahe verschollenen Lieder-Componisten R e i c h a r d t gesetzt hat. Gestehen wir es nur, die erste Empfindung, mit der wir das Buch betrachteten, war – Schrecken. Ein gro-ßer dicker Lexikonband, den man beim Lesen wie eine Altarbibel auf den Tisch breiten muß, und als Titelblatt: „Johann Friedrich Reichardt. E r s -t e r Band“! Werden denn die deu-tschen Gelehr-ten nich-t müde, sich selbs-t um die wohlverdienten Früchte ihrer Arbeit zu bringen? Mit eigener Hand decimiren sie ihren Leserkreis durch jene mißverstandene Gründlichkeit, die oft nur in dem Unvermögen besteht, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden, jenes kurz und dieses gar nicht zu sagen! Schon J a h n ’ s

„Mozart“ mußte sich den Vorwurf allzugroßer Breite gefallen lassen, und doch handelte es sich da um M o z a r t und um weit mehr als seine Person.

Wenn nun vollends N o h l blos für Beethoven’s „J u g e n d j a h r e“ einen starken Band braucht, K r e i ß l e über 600 Seiten für Schubert, S c h l e t -t e r e r endlich noch eine corpulen-tere Arbei-t über Reichhard-t als „Ers-ter Band“ bezeichnet u. s. f., dann kann es nicht Wunder nehmen, wenn sol-che Büsol-cher nicht über den engen Kreis von Musikgelehrten hinaus ins große Publicum dringen, dem sie doch wol zugedacht sind. Und gerade

*) Ein anderer Zug von „Gründlichkeit“, auf den wir gerne verzichtet hätten, findet sich Seite 139, wo uns der Verfasser in Einem Athem von der „poetischen Flamme“ Schubert’s für die Comtesse Eszterhazy und von dem „Verhältniß“ erzählt, das Schubert im Eszterhazy’schen Hause „mit einer Dienerin daselbst“ anknüpfte!

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R e i c h a r d t (geboren 1751, gestorben 1814) ist durch seine interessante Persönlichkeit und seine überaus reichen Erlebnisse wie geschaffen, ein großes Publicum zu fesseln! Die wichtigsten und buntesten Constellationen der musikalischen, literarischen und politischen Geschichte gruppiren sich auf das anschaulichste um diesen beweglichen, geistreichen Mann. Er ist der rechte Romanheld der neueren Musik, ohne Beihilfe von Elise P o l k o und Heribert R a u. An die Grenzscheide der alten und neuen Zeit gestellt, persönlich befreundet mit allen namhaften Componisten Deutschlands und Frankreichs, von Emanuel Bach, Gluck und Gretry bis auf Beetho-ven, Cherubini und B o y e l d i e u , der Schwiegersohn Franz B e n d a ’ s und Schwiegervater Heinrich S t e f f e n s ’ , in lebhaftem Verkehr mit K a n t , H a m a n n und L a v a t e r , sowie mit G o e t h e , S c h i l l e r und allen Ko-ryphäen der Weimarer Glanzepoche, Capellmeister Friedrich’s des Großen und König Jerome’s von Westfalen, Virtuose, Componist, Dirigent, Theo-retiker, Journalist, endlich gar königlicher Salinen-Director, ist Reichardt ein lebendiges Stammbuch seiner Zeit. Er war Augenzeuge der französi-schen Revolution in Paris und erlebte, immer gleich frifranzösi-schen Geistes, die Befreiung Deutschlands von der napoleonischen Herrschaft. Seine Briefe aus Paris (1802) wie die späteren aus Wien (1809) zählen zu den wichtigs-ten und interessanteswichtigs-ten Aufschlüssen über die musikalischen wie über die gesellschaftlichen Verhältnisse jener Zeit.

Als Tondichter können wir Reichardt unmöglich so hoch stellen, als sein enthusiastischer Biograph es thut, doch bleibt ihm in seinen Liedern und Opern der Vorzug einer damals ungewöhnlichen Bildung und das geschichtliche Verdienst fruchtbarer Anregung. Reichardt erscheint uns ungleich bedeutender durch die Totalität seiner Persönlichkeit, als durch seine Compositionen. Er war der erste deutsche Musiker, der mit entschie-denem Beruf schriftstellerisch thätig war, und der hiedurch prophetisch auf die verwandten Künstlernaturen C. M. W e b e r und R i c h a r d W a g n e r hinweist. Kurz es trifft bei Reichardt Alles zusammen, was einen biogra-phischen Stoff anziehend, reichhaltig und bedeutsam machen kann.*) Wir haben S c h l e t t e r e r ’ s ersten Band (der leider nur bis zum Jahre 1794 reicht und sich auf die Würdigung des „Musikers“ beschränkt) mit warmem

*) R e i c h a r d t hat eine Selbstbiographie geschrieben und den Anfang derselben (die ersten 15 Lebensjahre umfassend) in der Berliner Musikalischen Zeitung von 1805 veröffentlicht.

Die Fortsetzung des Manuscripts erhielt S c h l e t t e r e r von der Tochter Reichardt’s, der Frau Hofräthin v. R a u m e r in Erlangen, und konnte somit dies höchst interessante Schriftstück hier zum erstenmal vollständig veröffentlichen.

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Interesse und mit aufrichtigster Achtung für den Forscherfleiß und die Ge-wissenhaftigkeit des Autors gelesen. Wenn wir auch im freundschaftlichen Interesse für den Verfasser den Wunsch nach einer bündigeren Abfassung des zweiten Bandes nicht zurückhalten konnten, das Erscheinen dieser Fortsetzung erwarten wir mit Zuversicht und lebhaftem Antheil.

Neue Freie Presse, 1. 12. 1864

Musik.

(Concerte. Liedertafel. Fräulein Artôt als Margarethe.)

Ed. H. Ein schönes Fest möchten wir das „Gesellschafts-Concert“ vom letzen Sonntag nennen. Nicht blos in dem allgemeinen Sinn, der jeden Ort, wo Schönes in schöner Weise vorgeführt wird, zum Festsaal erhebt, son-dern in dem specielleren der festlichen Begrüßung eines verehrten Gastes.

F r a n z L a c h n e r war von München eigens hiehergekommen, um seine

„zweite Orchester-Suite in E-moll“ zu dirigiren; mit lang anhaltendem Bei-fall begrüßte das Publicum sein Erscheinen. Dieser Willkomm – Lachner hätte ihn überall verdient und gefunden – hatte in Wien doch noch eine in-timere Färbung und Bedeutung. Nicht allzu viele von den Zuhörern moch-ten aus eigener Erinnerung der Zeit gedenken, wo Lachner in Wien thätig war, aber der Beifall klang, als wüßten sie’s Alle und fühlten es lebhaft durch.

Vor 40 Jahren war Lachner als junger Musiker, unbemittelt und unbe-kannt, aus Baiern nach Wien gewandert. Ein günstiger Stern hat ihn ge-leitet, und in Lachner’s schneller Carrière uns doch endlich wieder einmal sehen lassen, „wie sich Verdienst und Glück verketten“.

Nicht lange nach seiner Einwanderung ward L a c h n e r Capellmeister am Kärntnerthor-Theater (1826), das er erst 1834 verließ, um einem Ruf nach Mannheim und bald darauf nach München zu folgen.

Während des Decenniums 1824–1834 war Lachner einer der thätigs-ten und beliebtesthätigs-ten Musiker in Wien. Mehrere Akademien veranstal-tete Lachner selbst (im kleinen Redoutensaal), um seinen Compositionen Bahn zu brechen. Bald bedurfte es aber nicht mehr der eigenen Initiative:

Lachner’sche Lieder erklangen fast in allen Akademien und die „Preis-Symphonie“ (1835) erhob ihn vollends zum Hausheiligen der „Spiritual-Concerte“. Was Lachner seither in München für die Pflege classischer Mu-sik gewirkt hat, durch seine eminente Dirigenten-Thätigkeit wie durch das

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Ansehen seines Namens, ist bekannt. Seine eigene Schöpferkraft jedoch schien versiegt, wenigstens lag sie in jahrelangem festen Schlummer. Da sehen wir sie plötzlich in neuer, ungeahnter Frische sich erheben und die Welt mit einer Nachblüthe überraschen, welche die Ernte seiner jüngeren Jahre in Schatten stellt. Diese Nachblüthe sind Lachner’s zwei O r c h e s -t e r-S u i t e n , die ganz Deutschland mit aufrichtiger Freude begrüßt hat.

Wenn man erwägt, wie viel schwieriger, begehrlicher und verwöhnter das musikalische Publicum seit 30 Jahren geworden ist, so darf man die Auf-nahme der zwei Lachner’schen Suiten wol als den bedeutendsten Erfolg bezeichnen, welchen der Componist überhaupt errungen.

Die neue „Suite“ in E-moll ist der ersten in D-moll (die im vorigen Jahre D e s s o f f zur Aufführung brachte) sehr nahe verwandt. An Kraft und Ori-ginalität der Erfindung, an Schwung der Durchführung erreicht sie, unse-res Erachtens, ihre Vorgängerin nicht, an Wohlgestalt der Form und

Die neue „Suite“ in E-moll ist der ersten in D-moll (die im vorigen Jahre D e s s o f f zur Aufführung brachte) sehr nahe verwandt. An Kraft und Ori-ginalität der Erfindung, an Schwung der Durchführung erreicht sie, unse-res Erachtens, ihre Vorgängerin nicht, an Wohlgestalt der Form und