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Ed. H. Der a k a d e m i s c h e G e s a n g v e r e i n führte Sonntags im Re-doutensaal die M e n d e l s s o h n ’ schen Chöre zur „Antigone“ des Sophokles auf – eine Aufgabe, die nicht blos durch ihren künstlerischen Gehalt, son-dern ganz vorzüglich auch durch ihren philologischen alten Adel sich für einen Universitätschor specifisch eignet. In der Composition der Sophok-leischen Chorstrophen hat Mendelssohn ein Unicum geliefert, das mit dem Gehalt des vollwichtigen K u n s t w e r k s den Charakter eines K u n s t -s t ü c k -s vereinigt. Al-s der ver-storbene König von Preußen in -seiner Pa-s- Pas-sion für ästhetische Leckerbissen Sophokles’ „Antigone“ und „Oedipus“ aufs Theater gebracht, und die Chöre im Geiste der griechischen Kunstanschau-ung und der griechischen Bühne componirt haben wollte, da war offenbar in der ganzen musikalischen Welt kein Componist als M e n d e l s s o h n , an den man denken konnte. Kein zweiter verband mit einer glänzenden musi-kalischen Begabung die classische Bildung, ja die philologische Kenntniß, die hiezu erforderlich schien. In dem feinen, geistreichen Anschmiegen an einen gegebenen Stoff stand Mendelssohn stets obenan, und wenn er die römischen und griechischen Dichter in der Ursprache las, werden ihm we-nige Componisten Gesellschaft geleistet haben. Bei Mendelssohn stand die harmonische, allseitig reiche Bildung im Gleichgewicht mit seinem musi-kalischen Schaffen; seine specielle Kunst, die Musik, war gleichsam nur die Spitze, die feinste Blüthe einer umfassenden und durchgebildeten Natur.

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So offenbart sie sich am entschiedensten in den griechischen Chören. Die Berliner Bühne machte eben (zu Anfang der Vierzigerjahre) den Versuch, den Haideboden, auf dem Hirsemenzel-Raupach unbeschränkt herrschte, zu einem poetischen Park umzuschaffen. Sie flüchtete in die wesenlose Phantastik T i e c k ’ scher Märchen, und griff endlich jahrhunderteweit zu R a c i n e ’ s „Athalie“, ja sogar zu Aeschylus und Sophokles zurück. Wäh-rend man die historische Tragödie – die einzige Richtung, nach der sich das höhere Drama weiter entwickeln kann und wirklich sich zu entwickeln strebte – durch die kleinlichsten Rücksichten verrammelte, wollte man ein längst Historischgewordenes wieder zum Leben erwecken. Anregend und genußreich für einen kleinen, auserwählten Kreis von Gebildeten, konnte für die Gesammtheit jene Erweckung doch nur ein kurzes Scheinleben sein. Als merkwürdigstes und bleibendes Resultat jener Berliner Auffüh-rungen des „Oedipus“ und der „Antigone“ müssen wir M e n d e l s s o h n ’ s Composition der Chöre ansehen. Ursprünglich für die wirkliche Bühnen-aufführung componirt, hatte Mendelssohn’s Musik nur eine nebensächliche Bedeutung; sie sollte in ungefährer Anlehnung an altgriechische Traditio-nen die theatralische Wiederbelebung des Sophokles möglich machen. Dies Verhältniß der Chöre zur Tragödie hat sich gegenwärtig umgekehrt. Man wurde von der Mißlichkeit der Aufführung antiker Tragödien auf unse-ren Bühnen überzeugt, und sucht nunmehr den musikalischen Genuß der Mendelssohn’schen Chöre daraus zu retten. Diese werden jetzt selbständig und als Hauptsache aufgeführt, während ein „verbindendes Gedicht“ an die Stelle der Tragödie tritt, das Verständniß nothdürftig zusammenzuhalten.

Mendelssohn’s Chöre zu den Tragödien des Sophokles sind vielleicht das leuchtendste Beispiel, was für Aufgaben ein durch tiefe und allseitige Bil-dung befruchteter musikalischer Geist vollbringen könne. Allein der Cha-rakter der A u f g a b e , des Problems (im Gegensatz zu vollständig freier, aus dem Innersten strömender Schöpfung) war daraus nicht zu tilgen. Wo immer der Componist seine Aufgabe erfaßte, stieß er auf einen Widerstreit zwischen den Bedingungen des antiken Dramas und der modernen Mu-sik. Diese wirkt nur in selbständiger, freier Entfaltung, jenes erheischt ein sklavisches Unterordnen der Musik unter die Declamation. Sollen die Worte des Chors in ihrer vollen Gedankenwucht wirken, ja überhaupt von der Bühne herab deutlich vernommen werden, so muß die Musik, auf die Schönheit ihrer eigenen Architektonik und Farbe verzichtend, langsam eintönig und äußerst schwach begleitet (Flöten und Harfen nach antikem Vorbild) einherschreiten. Damit würde die m u s i k a l i s c h e Bedeutung der Chöre auf Null herabsinken. Eine solche Verleugnung kann man der

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modernen Musik, kann man einem ihrer größten Meister kaum auferle-gen wollen; ein fortwährendes künstliches, ja künstelndes Vermitteln und Nachgeben wird demnach zur Norm. Mendelssohn hat durch bewunde-rungswürdige Mäßigung des musikalischen Elements und geistvolle An-empfindung griechischer Kunstweise dies ungewöhnliche Problem gelöst.

Die Schwierigkeit, der antiken Chorstrophe mit ihrem wechselvollen, com-plicirten Versmaß und ihrem beiwörterthürmenden Satzbau ein musikali-sches Kleid anzupassen, streift in der „Antigone“ wie im „Oedipus“ mitunter ans Unüberwindliche. Der Accent des musikalischen Abschnitts zerreißt oft den grammatisch und logisch zusammengehörigen Satz in zwei gegen-sätzliche Hälften, und umgekehrt. Beinahe jeder der Chöre bietet Beispiele dieses Kampfes zwischen declamatorischer und musikalischer Rhythmik.

Mit dieser äußern, sprachlichen Schwierigkeit verbindet sich die innere, die in dem überwiegend reflectirenden, Mäßigung und Weisheit lehrenden I n h a l t der Chöre liegt. Wo der Chor sich ausnahmsweise zu großartigerer leidenschaftlicher Bewegung erhebt, da steigert sich auch Mendelssohn’s Musik zu selbständiger Wirksamkeit, zu voller Pracht. So vor allem in dem Bacchuschor, dessen musikalischer Haupteffect allerdings in dem von Men-delssohn eigenmächtig wiederholten Aufruf: „Hör’ uns!“ liegt nebenbei eine merkwürdige Vorausnahme des „Hör’ uns!“ der Baalspriester im „Elias“.

Daß man eine Composition wie diese „Antigone“ contre-coeur blos auf Allerhöchsten Befehl hervorbringen könne, ist eine lächerliche Ansicht.

Wer die tiefe, innere Betheiligung, ja Begeisterung Mendelssohn’s an die-ser Arbeit nicht a u s ihr selbst erkennt, den werden dessen nachgelas-sene Briefe belehren. Die Idee ging allerdings vom König aus; Mendels-sohn wollte sich „anfänglich auf die Sache gar nicht einlassen; aber (so schreibt er an F. David) das Stück mit seiner außerordentlichen Schönheit und Herrlichkeit trieb mir alles Andere aus dem Kopf“. An den spätern

„Oedipus auf Kolonos“ scheint er schon mit geringerer Wärme gegangen zu sein; und als der König gar ein drittes Werk dieser Art, die Composition der Eumeniden des A e s c h y l o s , von Mendelssohn verlangte, lehnte die-ser entschieden ab. Daß diese Ablehnung ihren Grund wirklich nur in der

„sehr schweren, vielleicht unausführbaren“ musikalischen Behandlung dieser Chöre hatte, fällt uns zu glauben schwer; wir können in den hoch-dramatischen Strophen des Aeschylos für d e n Mann keine übermäßige Schwierigkeit erblicken, der die „Antigone“ und den „Oedipus“ bewältigte.

Wahrscheinlicher bedünkt uns, daß Mendelssohn, nachdem er zwei grie-chische Probleme so glänzend gelöst hatte, eben den Zug des Problemati-schen in solchen Wiederbelebungen deutlicher empfand und das

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bare einer Liebhaberei einsah, welche sich darauf steifte, ein geistvolles, anregendes Experiment zu einer consequenten Richtung auszudehnen. Er mochte fühlen, daß diese griechischen „Erweckungen“ doch nur den Genuß einer kleinen poetischen und philologischen Aristokratie, aber niemals das echte, verständnißinnige Entzücken des ganzen Volkes bilden können.*) Und für letzteres hatte Mendelssohn noch vollauf zu schaffen. Er war es satt, den musikalischen Hofgriechen des geistreichen Königs abzugeben, und schrieb – den „Elias“.

Die Aufführung der „Antigone“- Musik entsprach allen billigen Anforde-rungen. Wenn man die großen Schwierigkeiten der Aufgabe ermißt, muß man dem akademischen Gesangverein, der nicht aus geschulten, jahrelang zusammen übenden Sängern, sondern aus einer sich stets erneuernden Stu-dentenschaar besteht, das aufrichtige Lob zollen. Der tüchtige Chormeister des Vereins, Herr W e i n w u r m , legte das vollkommenste Verständniß des Werkes an den Tag, und wußte dessen Aufführung mit Sicherheit und Energie zu leiten. Die treffliche Declamation von Frau R e t t i c h und Herrn L e w i n s k y (denen sich Fräulein B o g n á r mit ihrem kleinen Part sorg-fältig anschloß) gereichte der Aufführung zur besonderen Zierde. Der Saal war in allen Räumen gefüllt.

Vom H o f o p e r n t h e a t e r haben wir selten Gelegenheit zu sprechen.

Die Dinge gehen da ihren gewohnten wenig erfreulichen Gang. Der

Rück-*) Wir möchten wissen, ob die Verfechter der gegentheiligen Meinung aufrichtig glauben, daß ein großes Publicum, oder auch nur eine Hälfte desselben, bei Versen wie folgende (wir wäh-len sie aufs Gerathewohl und aus der besten, der D o n n e r ’schen Uebersetzung) etwas sich zu denken oder etwas zu empfinden vermöge:

An der kyanischen Fluth des verschwisterten Meeres hin Dehnt sich Bosporos’ Strand und der thrakische

Salmydessos, wo Ares, im Land waltend als Gott, an Phineus’ zwei Söhnen Schaute die grause Wunde,

Nachdem die ruchlose Göttin blendend

Der Augen Sterne beiden – nicht mit dem Speere, nein Ergrimmt ausstach mit blut’gen Händen,

Mit ihres Webschiffes scharfen Spitzen.

Und es vergingen im Leiden die Elenden über ihr Elend, Weinend, entsprossen dem Unglücksbund

Der Mutter, die doch an dem uralten Geblüt Des Erechteus Theil hatte;

Und bei den väterlichen Sturmwinden aufwuchs in fernen Grotten Die Roß’ ereilende Boread’ auf steilen Höh’n,

Ein Gottkind. Doch auch sie bestürmte die Macht.

Der uralten Moira, Tochter! u. s. w.

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blick auf die Thätigkeit dieses Instituts in der verflossenen Saison ist wahr-haft beschämend. O f f e n b a c h ’ s „Rheinnixen“ als einzige Novität in einer ganzen Saison! An guten älteren Opern nichts zu neuem Leben erweckt!

Nicht einmal anstandshalber die zehnmal versprochene Aulische Iphige-nie. In diesem Einerlei gewinnt jede Unterbrechung des Alltäglichen den Anschein eines Ereignisses. Zwei solche merkwürdige Abende fielen in die verflossene Woche. Zuerst die Aufführung des fast zwei Jahre in Schlum-mer gelegenen „Propheten“. Herr A n d e r sang die Titelrolle mit dem zar-ten, empfindungsvollen Ausdruck und dem edlen, dramatischen Anstand, welchen hier bisher keiner seiner Tenorcollegen auch nur entfernt erreicht hat. Diese Vorzüge können zwar nicht ersetzen, was A n d e r ’ s Stimme an Frische und Kraft eingebüßt hat, aber sie lassen uns mehr oder minder die-sen Verlust vergesdie-sen. Das Publicum gestaltete das Wiederauftreten seines Lieblings in dieser berühmtesten seiner Rollen zu einem wahren Triumph.

Fräulein D e s t i n n sang zum erstenmal die Fides, – maßvoller, ruhiger und reiner als wir nach den übrigen Hauptpartien dieser Sängerin erwar-tet hatten. Störend war nur die absolute Unzulänglichkeit ihrer Stimme in der Tiefe. Das Publicum nahm die nicht hervorragende aber anständige, mit allem Aufgebote guten Willens ausgestattete Leistung sehr freundlich auf. – Fräulein F r i e d b e r g , welche als holländische Bäuerin ein neues Pas in dem Schlittschuhballet tanzte, übertrieb auf Kosten der Anmuth das charakteristische Element fast bis zum Ausdruck des Tölpelhaften. Geist-reiche Leute haben oft wunderliche Grillen.

Die zweite Abwechslung im Hofoperntheater verdanken wir Frau P e s c h k a -L e u t n e r , die als Königin Margarethe in den „Hugenotten“

gastirte. Frau Peschka war diesmal entschieden glücklicher, als in ihrem vorjährigen kurzen Gastspiel. Sie bewältigte die schwierige Coloraturpar-tie mit Leichtigkeit, Sicherheit und Geschmack. Für die mangelnde Kraft und Jugendfrische des (im Mezzavoce noch immer sehr angenehmen) Organs entschädigte das wohlthuende Ausklingen einer sicheren mu-sikalischen Bildung. Sollte Frau P e s c h k a , deren Leistung günstigste Aufnahme fand, die Stelle Fräulein K r o p p ’ s (allenfalls mit etwas er-weitertem Repertoire) hier einnehmen, so könnten wir zu dem Tausch uns nur gratuliren. Was die übrige Vorstellung betrifft, so bewährten Frau D u s t m a n n und Herr S c h m i d ihren wohlbegründeten Ruhm als Va-lentine und Marcell.

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Lesarten (WA Conc. II, 309–311 unter Mendelssohn’s Musik zu „Antigone.“)

1f.) Concert … Ed. H. ] entfällt

3) „Antigone“ des Sophokles ] gesperrt 10) aufs ] auf’s

27) jahrhunderteweit ] jahrhunderte weit 33) Gebildeten, ] ohne Komma

48) tiefe ] Tiefe

54) selbstständiger,] selbständiger, 58) langsam ] langsam,

78) selbstständiger ] selbständiger 80) liegt ] liegt,

89) Kopf“. ] Kopf.“

90 u. 97) „Oedipus ] „Oedipos 101) geistvolles, ] ohne Komma

109–121) Die … Marcell. ] entfällt 124) aufs ] auf’s

124) besten, der ] berühmten 127) Bosporos’ ] Bosporos 128) Gott, ] ohne Komma 131) nein ] nein,

138) aufwuchs, ] ohne Komma

Presse, 25. 3. 1864