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Anders als in den meisten osteuropäischen Ländern erfolgte der Z erfall der kommu- nistischen Ordnung in Jugoslawien nicht gleichmäßig. Die größte und die kleinste Republik - nämlich Serbien und Montenegro - haben die traditionelle sozialisti- sehe Herrschaft im wesentlichen beibehalten, so daß hier von einem Systemwandel nicht die Rede sein kann. A lle übrigen Republiken haben die kommunistische H err- schaft abgeschültelt, stehen jedoch auf unterschiedlichem Niveau, was den Prozeß demokratischer Transformationen anbelangt.

Die Zersetzung des Bundesstaates und damit der Zentralgewalt ist fast vollstän- dig. Die Präsidenten der sechs Republiken verkörpern bei ihren periodischen G ip- feltreffen zumindest noch eine potentielle Zentralgewalt, auch wenn diese nicht durch gemeinsame Beschlüsse realisiert wird.

Die Republikführungen haben unterschiedliche Vorstellungen über die Grundla- gen des künftigen Zusammenlebens in Jugoslawien entwickelt. Slowenien und Kroatien als die höchstentwickelten und im Demokratisierungsprozeß am weitesten vorangeschrittenen Teilgebiete votieren für eine Konföderation souveräner Staaten, die durch einen gemeinsamen M arkt sowie Z o ll- und Währungsunion verbunden sind. Eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik soll die Staatsgrenzen der Mitgliedsländer schützen. Parallel zur relativ kleinen Bundesarmee soll jedes Land nationale Streitkräfte besitzen.1

Serbien und Montenegro setzen sich für einen jugoslawischen Bundesstaat ein, in dem es keine souveränen Republiken gibt. Dennoch sollen die Teilstaaten neben der Bundesarmee eigene Streitkräfte unterhalten und das Recht haben, in der Außen- p o litik eigenständig aufzutreten, wenn es um ihre regionalen, nationalen oder kultu- rellen Interessen geht. Trotz weiterer den Gliedstaaten zugestandener Selbstän- digkeitsverzierungen handelt es sich bei diesem M odell um einen Bundesstaat, der keine klar ausgeprägten föderativen Elemente aufweist.2

Die Republiken Bosnien-Hercegovina und Makedonien vermeiden eine Stellung- nähme zu den oben skizzierten Vorschlägen, statt dessen sollen ihre Bürger in einem Referendum für die eine oder andere Lösung votieren. Slowenien hat ein derartiges Referendum bereits im Dezember 1990 durchführen lassen, Kroatien folgte diesem Beispiel vor wenigen Wochen. Das Ergebnis war eine überwältigende M ehrheit fü r die konföderative Lösung. Serbien und Montenegro vertreten den Standpunkt, ein Referendum, das den Bürgern die Wahl zwischen Bundesstaat und Staatenbund lasse, sei unzulässig, weil es künstlich die unbestrittene Existenz Jugoslawiens als Völkerrechtssubjekt in Frage stelle.

Die Standpunkte Sloweniens und Kroatiens auf der einen und Serbiens und Mon- tenegros auf der anderen Seite sind unvereinbar. Ein wie auch immer gearteter Kompromiß erscheint undenkbar.

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1 Danas, 30.4. 1991.

2 So ist z. B. eine effektive Beteiligung der Republiken am politischen Entscheidungsprozcß nicht gesichert.

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Dennoch versuchen die in den K o n flikt involvierten Partner D ruck auszuüben, um eine Lösung in ihrem Sinne herbeizuführen. Kroatien und Slowenien drohen für den Fall des Nichtzustandekommens einer Konföderation, spätestens am 30. Juni 1991 alle notwendigen Schritte einzuleiten, um sich aus der jugoslawischen Fodera- tion herauszulösen und sich als unabhängige Nationalstaaten zu konstituieren. Beide Republiken betonen immer wieder, daß jede Lösung unterhalb der Ebene des kon- föderativen Konzepts eine Illusion und auch ein Weg in ausweglose K o n flikte sei.3 Die serbischen Drohungen für den Fall des Nichtfortbestehens der Föderation sind erheblich massiver und richten sich gegen Kroatien, aber auch gegen die Repu- blik Bosnien-Hercegovina. Serbien geht davon aus, daß alle Serben in Jugoslawien

- d. h. auch die 2,2 M illionen, die außerhalb ihrer Heim atrepublik ansässig sind - das Recht haben, in einem Staat zu leben. Sollte es zu einer staatlichen Neuordnung kommen, dann stellen sich auch die Fragen nach den staatlichen Grenzen Serbiens neu. Die bisherigen Republikgrenzen seien rein administrativer N atur und könnten im Falle einer Auflösung des jugoslawischen Staates nicht Bestand haben. Für die beträchtlichen serbischen Minderheiten in Kroatien (12% der Bevölkerung) und in Bosnien-Hercegovina (32% der Bevölkerung) müsse die M öglichkeit des Anschlus- ses an das M utterland Serbien gefunden werden. Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, hat die serbische Minderheit in Kroatien bewaffnete K onflikte provo- ziert, bei denen es Tote und zahlreiche Verletzte gab. Die illegale Konstituierung des

״ Serbischen Autonomen Gebiets K arjina“ und dessen proklamierte Abspaltung von Kroatien war ein weiterer Schritt. Auch die 20 mehrheitlich von Serben bewohnten Landkreise in Bosnien-Hercegovina, in denen bisher Ruhe herrschte, haben sich zu einem ״ Autonom en Gebiet“ konstituiert.

In der Existenz umfangrcichcr scrbischcr Minderheiten in Kroatien und Bosnien- Hercegovina liegt ein K onfliktherd, der die Gefahr schwerer gewaltsamer Ausein- andersetzungen in sich birgt. Eine Lösung durch territoriale Um verteilung erscheint ausgeschlossen, da die mehrheitlich von Serben bewohnten Gebiete starke Minder- heiten anderer Nationen aufweisen. Im Falle der serbischen M inderheit in Kroatien liegen die fraglichen Territorien z.T. weit voneinander entfernt. Zudem besteht keine Verbindung zur Republik Serbien. Kroatien hat deutlich gemacht, daß es nicht bereit ist, auch nur einen Quadratkilometer seines Territorium s abzugeben. Die Existenz der Republik Bosnien-Hercegovina erscheint ohne die ״ serbischen Ge- biete“ nicht denkbar. Gerüchte über eine serbisch-kroatische Einigung zu Lasten von Bosnien-Hercegovina sind derzeit nicht nachprüfbar. Doch auch eine derartige

״ Lösung“ würde ein erhebliches Gewaltpotential in sich bergen, weil sich die bosni- sehen Muslime (42% der Bevölkerung) existentiell bedroht sähen.

Der in Jugoslawien zumindest partiell vor sich gehende Systemwandel bedeutet eine Neugliederung oder den völligen Zerfall des Staates. Friedliche Lösungen scheinen sich dabei nicht abzuzeichnen. Selbst eine Ablösung der kommunistischen Herrschaft in Serbien - etwa durch die radikalen Nationalisten unter Führung von Vük Draskovic - würde das vorhandene Gewaltpotential keineswegs mindern.

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נ Vgl. Danas, 26.2. 1991 u. Delo. 28.2. 1991.

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Die katastrophale Wirtschaftslage als limitierender Faktor

1990 war ein schwarzes Jahr fü r den jugoslawischen Außenhandel: Das Handelsbi- lanzdefizit erreichte die Rekordhöhe von 4,5 M rd. D ollar, die Leistungsbilanz wies einen Negativsaldo von 2,9 M rd. Dollar auf. Das Bruttosozialprodukt sank um 7,6 % und lag damit auf dem Niveau von 1979. Die Industrieproduktion ging um 10%

zurück, die Jahresinflationsrate betrug 75%. Es gab 1,4 M illionen registrierte A r- beitslose, und 25% der Bevölkerung lebten am Rande des Existenzminimums.

Insgesamt steht Jugoslawien an der Schwelle zum sozialen A u fru h r. Den Republik- führungen gelingt es nicht länger, die berechtigte Unzufriedenheit der Bevölkerung mit nationalistischen Parolen zu übertönen. Das Rezept, den sozialen Frieden durch großzügige Ausgaben der öffentlichen Hand zu erkaufen, ist nicht länger praktikabel.

Im ganzen Land sind die Kassen leer, die Reservefonds erschöpft. A u f dem nach wie vor dominierenden gesellschaftlichen Sektor der Wirtschaft sind derzeit 6,4 M illionen Arbeitnehm er beschäftigt. Nicht weniger als 3,5 M illionen schweben in der Gefahr, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, weil ihre Unternehmen insolvent sind, chronische Verluste einfahren oder vor dem Konkurs stehen. Entsprechend explosiv ist die Situation. Streiks sowie wirtschaftlich und sozial motivierte Demonstrationen gehö- ren fast überall zum A llta g .4 In Serbien haben 700000 A rb e ite r der M etall- und Textilindustrie die A rb e it niedergelegt, um ihre seit zwei Monaten ausstehenden Löhne einzufordern. Doch auch die hochentwickelten Republiken Slowenien und Kroatien kämpfen mit schwerwiegenden wirtschaftlichen Problemen, wie drasti- schem Rückgang der industriellen Produktion, Arbeitslosigkeit und steigender Zahl von Firmenkonkursen.

Nach den Worten von Dagmar Schuster, Präsident der jugoslawischen Wirtschafts- kammer, hat der letzte A k t der Tragödie der Wirtschaft in allen Teilen Jugoslawiens begonnen. Die Zeit bis zum völligen Zusammenbruch der W irtschaft beziffert er auf wenige Monate.5 Eine schwere zusätzliche Belastung stellt die Nettoauslandsver- schuldung in Höhe von 17 M rd. Dollar dar. Die Deviseneinnahmen aus dem Touris- mus werden in diesem Jahr drastisch zurückgehen, wegen der nationalistischen U nru- hen in Kroatien sind ausländische Besucher in diesem Jahr ausgeblieben.

Die katastrophale Wirtschaftslage stellt einen limitierenden Faktor fü r die wider- streitenden politischen Am bitionen der einzelnen Republiken dar. Slowenien und Kroatien haben nicht nur die Märkte des Clearing-Bereichs (Sowjetunion, ČSFR, D D R ) eingebüßt, sondern auch einen erheblichen Teil des serbischen und des monte- negrinischen Marktes. Folglich haben die Führungen beider Republiken erkannt, daß ihre ursprüngliche Option der Sezession aus dem jugoslawischen Staatsverband an wirtschaftlichen Gegebenheiten zu scheitern droht. Weil sie den jugoslawischen M arkt dringend brauchen, streben sie nach einer Konföderation m it Z o ll- und Wäh- rungsunion.

Die serbische Führung kämpft u. a. deswegen für die Beibehaltung der Föderation, weil ein ״ Großserbien“ ohne die höher entwickelten Republiken Slowenien und Kroatien nur schwer lebensfähig wäre.

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­י Neue Zürcher Zeitung v. 6.3. 1991 u. Ekonoska Politika v. 14. 1. 1991.

5 Ekonomska Politika. 15.4. 1991 .

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Insgesamt gesehen haben die Führungen aller Republiken ein Problem gemein- sam: Da sie die wirtschaftlichen Probleme in ihrem Herrschaftsbereich absolut nicht lösen können, vermindert sich die Legitimationsbasis gegenüber ihren Wählern zuse- hends. Schwere soziale Unruhen erscheinen vorprogram m iert, w om it ein weiterer Faktor der Instabilität ins Spiel kommt. Es kann sehr rasch passieren, daß Präsident Milosevic in Serbien primär aufgrund wirtschaftlicher Probleme scheitert. Doch auch die unmittelbaren Kontrahenten sind kaum in einer besseren Position. Die Populari- tat von General Tudjman schwindet wegen der drückenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme; der in Slowenien regierende D EM O S-Block verliert aus demsel- ben Grund immer mehr Anhänger. Es kann also sein, daß der eine oder andere A kteur im gegenwärtigen K o n flikt von der Bühne verschwindet, was jedoch eher zusätzliche Instabilitäten heraufbeschwören dürfte.

Zu den nationalen kommen somit soziale K o n flikte , die den Systemwandel mögli- cherweise beschleunigen, aber auch zum Hemmschuh werden können. Ein System, das mit elementarer wirtschaftlicher Not zu kämpfen hat, läßt sich nicht kurz- oder m ittelfristig in einen prosperierenden demokratischen Rechtsstaat umwandeln.

Unruheherd Kosovo

Die durch serbische Nationalisten provozierten bewaffneten Zusammenstöße in Knin, Pakrac und Plitvice haben den Kosovo-K onflikt in den Hintergrund gedrängt, ohne ihm das Geringste von seiner Brisanz zu nehmen. Die gewaltsame Aufhebung der Autonomie Kosovos, die Auflösung von Parlament und Regierung und die Beseitigung der albanischsprachigen Medien sowie der massive Einsatz von Polizei und M ilitä r haben den Widerstandswillen der Albaner nicht brechen können. Da die Albaner 90 Prozent der Bevölkerung Kosovos stellen, war der von ihnen initiierte Boykott der Wahlen vom Dezember 1990 fast vollständig. Die serbische Herrschaft in der Provinz ist ohne jede Legitimation und kann sich nur auf nackte Gewalt stützen.

Die fortgesetzten Menschenrechtsverletzungen in Kosovo, die nicht nur von allen europäischen Institutionen, sondern wiederholt auch vom amerikanischen Kongreß angeprangert wurden,6 haben nicht nur Jugoslawiens Vollmitgliedschaft im Europa- rat, sondern auch die assoziierte Mitgliedschaft in der EG unmöglich gemacht.

Durch die jüngsten politischen Umwälzungen im M utterland Albanien hat der Kosovo-Konflikt eine neue Dimension erhalten. Die Wiedervereinigung Albaniens mit Kosovo und den albanisch besiedelten Territorien in Westmakedonien und dem südlichsten Zipfel Montenegros steht auf der Tagesordnung. In der gesamten Enver- Hoxha-Ara und auch in den ersten fü n f Jahren der Herrschaft Ramiz Alias war die Wiedervereinigung ein Tabuthema. Jetzt sprechen die führenden Intellektuellen in Tirana offen darüber, während sich Ramiz A lia ausschweigt. In einem Interview erklärte Ibrahim Rugova, Vorsitzender der Demokratischen Liga von Kosovo - der weitaus stärksten Partei in der Provinz - die Wiedervereinigung sei nur noch eine Frage der Zeit. Die Republik Serbien habe den Albanern so viel Unrecht zugefügt, daß sie einen Verbleib in Jugoslawien nicht länger in Erwägung zögen.

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6 Vgl. Jens Reuter, Menschenrechte in Jugoslawien, in: SÜDOSTEUROPA Nr. 11/12 1989.

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Die sezessionistisehen Kräfte in Kosovo haben durch die Reformen im M utter- land großen A u ftrie b erhalten. Die ehemals letzte Bastion des Stalinismus in Europa ist durch erhebliche Liberalisierungen attraktiv geworden, die Hoffnungen auf ein demokratisch und freiheitlich geprägtes Leben in einem wiedervereinigten Albanien sind gestiegen.

Durch Systemwandel nicht in Kosovo selbst, sondern im benachbarten M utter- land ist ein erhebliches zusätzliches K onfliktpotential entstanden. Die Gefahr krie- gerischer Auseinandersetzungen zwischen Serbien und Albanien kann nicht mehr ausgeschlossen werden. Serbien w ird unter keinen Umständen bereit sein, auf Ko- sovo zu verzichten, während die albanischen Wünsche nach Wiedervereinigung eine erhebliche Dynam ik entfalten werden.

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Der Wettlauf nach Europa

Im Januar 1990 verabschiedete das jugoslawische Parlament eine Deklaration über die Einbeziehung der SFRJ in die europäischen Integrationsprozesse. Das Doku- ment bezeichnet folgende Ziele jugoslawischer Außenpolitik:

1. Assoziierte Mitgliedschaft in der EG 2. Vollmitgliedschaft in der EFTA

3. Mitgliedschaft im Europarat 4. Vollmitgliedschaft in der O EC D

Parallel zu diesen Bestrebungen der offiziellen jugoslawischen Außenpolitik wa- ren auch die sezessionswilligen Republiken Slowenien und Kroatien bestrebt, Fäden nach Brüssel zu spinnen und die Einbeziehung ihrer künftigen Nationalstaaten in die europäischen Integrationsprozesse vorzubereiten. Da die beiden Republiken die gleichen Ziele verfolgten wie die Föderation, war bei ihnen keinerlei Interesse mehr an einer Einbeziehung des jugoslawischen Gesamtstaates in die europäischen Inte- grationsprozesse gegeben. Vielm ehr waren und sind sie bemüht, den Nachweis zu führen, daß die Vorbedingungen fü r eine Integration - Errichtung eines demokrati- sehen Rechtsstaats, funktionierende M arktwirtschaft und Respektierung der Men- schenrechte — nur auf ihrem Territorium e rfü llt sind, während die übrigen Teile Jugoslawiens als hoffnungsloser Fall anzusehen sind.

Aus dieser Konstellation ergibt sich das wesentliche Dilemma gegenwärtiger ju- goslawischer Außenpolitik. Da das Land keine parlamentarische Demokratie mit funktionierender M arktwirtschaft ist, und da die Menschenrechte keineswegs in allen Landesteilen respektiert werden, ist an die Mitgliedschaft in den wesentlichen europäischen Institutionen gegenwärtig nicht zu denken. Die Teilrepubliken hinge- gen können sich dem europäischen Integrationsprozeß nicht anschließen, weil man dies in Brüssel nicht w ill.

Dennoch werden Slowenien und Kroatien nicht müde, auf die erfolgreiche Instai- lierung der parlamentarischen Demokratie auf ihrem Territorium zu verweisen. Ge- wissermaßen als Belohnung beanspruchen sie eine künftige EG-Mitgliedschaft nach erfolgter Sezession aus dem jugoslawischen Staatsverband. Bisher war die Gemein- schaft nicht bereit, Zusicherungen dieser A rt zu geben. Schließlich wollte und w ill

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sie sich nicht dem V orw urf aussetzen, der Spaltung Jugoslawiens Vorschub zu lei- sten.7

Aus Brüssel, Straßburg und Luxemburg geht immer wieder ein und dieselbe Botschaft an die politisch Verantwortlichen in der SFRJ, daß nämlich nur ein ein- heitliches und demokratisches Jugoslawien die besten Aussichten hat, sich harmo- nisch ins neue Europa zu integrieren.8

Dieser Standpunkt w ird mehr und mehr zur Zielscheibe der K ritik . Nicht nur Journalisten, auch P olitiker stellen die Frage, ob die Haltung der EG den neuen Realitäten in Jugoslawien noch entspricht. Auch die P olitik Brüssels ist in ein D i- lemma geraten: Das Festhalten am einheitlichen Jugoslawien wird mehr und mehr zum Beharren auf einer Fiktion. H ält man daran fest, läßt sich kaum noch eine effiziente Jugoslawienpolitik betreiben. G ibt man die Fiktion auf und unterstützt einzelne Republiken, muß man sich auch von dem langgehegten Idealbild eines einheitlichen und demokratischen Jugoslawien als Faktor der Stabilität auf dem Balkan trennen. Auch das wäre sicherlich ein schmerzlicher Prozeß.9

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Zukunftsperspektiven

Der von Slowenien und Kroatien angestrebten friedlichen und einvernehmlichen Auflösung Jugoslawiens in drei oder mehr Nachfolgestaaten stehen schwerwiegende Hindernisse entgegen. Aus serbischer Perspektive wären die in einer Konföderation vereinigten Staaten füreinander Ausland, und daher wäre der Gedanke unerträg- lieh, daß die M utterrepublik den engen Kontakt zu den 2,2 M illionen in anderen Republiken lebenden Serben verliert. Serbien wird sich einer solchen Lösung mit allen Kräften widersetzen.

Daraus folgt: Eine Entlassung Sloweniens aus dem jugoslawischen Staatsverband erscheint allenfalls denkbar, da diese Republik national homogen ist und über keine serbische M inderheit verfügt. Kroatien und Bosnien-Hercegovina hingegen können auf ein derartiges Entgegenkommen nicht rechnen. Ih r einvernehmliches Ausschei- den aus Jugoslawien liegt nicht im Bereich des Möglichen.

Ein unfriedliches Ausscheiden im Wege der Sezession würde im Falle Sloweniens wohl noch hingenommen werden, im Falle Kroatiens nicht. Im Innern Jugoslawiens ist keine politische Kraft vorhanden, die eine gestaltende und ordnende Funktion für das ganze Land übernehmen könnte. Auch eine gewaltsame Lösung im Wege des Staatsstreichs ist unwahrscheinlich, da die schweren Probleme Jugoslawiens mit militärischen M itteln nicht gelöst werden können. Auch von außen kann die jugosla- wische Krise nicht bewältigt werden, wenngleich die Europäische Gemeinschaft im Zusammenspiel m it den Vereinigten Staaten m ittelfristig in die Rolle einer Ord- nungsmacht hineinwachsen könnte.

7 Ders. Jugoslawien im Umbruch, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zum PAR LAM EN T В 45/90 v. 2. 11. 1990.

8 Ders. Die jugoslawische Krise - Konfliktlinien und Perspektiven, in: Blätter für deutsche und internationale Politik Nr. 8/1991.

’ Ebenda.

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Die politische Linie der Gemeinschaft, die auf die Erhaltung des jugoslawischen Staates und seine möglichst vollständige Demokratisierung abzielt, muß neu über- dacht werden. Doch wenn man darangeht, die Unterstützung einer ״ kleinjugoslawi- sehen" Lösung ins Auge zu fassen, muß sorgfältig bedacht werden, daß man nicht gerade dadurch das Risiko gewaltsamer Auseinandersetzungen noch erhöht. Es ginge also prim är darum, Serbien und seinem amtierenden Präsidenten unmißver- ständlich klarzumachen, daß gewaltsame Lösungen von Europa nicht toleriert wer- den.

Jugoslawien in seiner jetzigen Form ist folglich ein Krisenherd, der nur schwer ruhigzuhalten sein wird. A u f der anderen Seite ist klar, daß ein in mehrere Staaten zerfallenes Jugoslawien nicht etwa ein H ort der Stabilität sein würde. Neben den inneren K onflikten um ein Großserbien würde ein in Kleinstaaten zersplittertes Jugoslawien territoriale Forderungen von Nachbarländern wie Albanien und Bulga- rien geradezu heraufbeschwören. Eine befriedigende Lösung für das jugoslawische Problem ist nicht in Sicht.

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Die außenpolitische Zusammenarbeit