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Systematik und Geschlossenheit der Ideenlehre

Im Dokument DIALEKTIK DES ANFANGS (Seite 143-146)

4. Platon: Parmenides

4.3 Parmenides, Erster Teil: die Relation zwischen Ideen und Einzeldingen

4.3.2 Systematik und Geschlossenheit der Ideenlehre

Während andere Dialoge damit beschäftigt sind, bezüglich der Ideenlehre überhaupt deren Umriss abzugrenzen, ihre Notwendigkeit zu untermauern, und ihre explanatorische Kraft dar-zustellen, ist Platons Vorgehen im Parmenides auffällig auf Systematik ausgelegt. Dass die Ideenlehre als Theorie grundsätzlich etabliert ist, ist hier nicht die Fragestellung, sondern die Voraussetzung; dadurch erhält die Frage ihren Raum, wie genau die Theorie funktioniert. Aus-gehend von scheinbar nur auf die Natur der Begriffe selbst begrenzten Fragestellungen, wie etwa, was folgt, wenn Seiendes Vieles ist, oder wenn Eins ist, führt die Analyse schnell zur Se-kundärfrage: wie genau sieht das Verhältnis aus zwischen Ideen und Einzeldingen? Denn letzt-lich ist die Natur der Ideen dadurch bestimmt, die Einzeldinge und deren Bestimmungen zuein-ander zu konstituieren, und so tritt jede isolierte scheinende Fragestellung nach dem Sein der Begriffe selbst immer etwas vordergründig auf. Gleichzeitig aber führt die Betrachtung der Be-griffe für sich selbst notwendigerweise auf andere BeBe-griffe – und scheint damit die Verhältnisse aus der Sphäre der Einzeldinge, vielfach untereinander verflochten, zu spiegeln. Dies evoziert die Frage, inwieweit ein System in den Begriffen selbst gesucht werden kann und muss, um die Verflechtungen in der Sphäre der Ideen wurzeln zu lassen.

115 Parmenides, 129e.

Die Aspiranz hin zu einer Systematik der Ideenlehre führt auf eine Menge von Fragestellungen, etwa nach einem systemtheoretischen Anfang, dann freilich nach den Bezügen innerhalb des Systems; zuerst aber stellt Platon durch die Worte des Parmenides eine andere grundsätzliche Weiche, durch die Frage nach dem Umfang eines solchen Systems. Es ist einfacher, Begriffe wie das Schöne, Gute oder Gerechte116 in die ideelle Sphäre zu abstrahieren, als Begriffe wie Haare, Kot oder Schmutz117; zudem ist es ein Eckstein der Ideenlehre, dass die Einzeldinge die Vollkommenheit ihrer ideellen Urbilder anstreben, was bei letzteren Begriffen zunächst deutlich schwerer vorzustellen ist. Nachdem Parmenides die Frage nach Begriffen für solche Dinge aufgeworfen hat, antwortet Sokrates etwas unsicher, gesteht aber zu, es würde ihn beunruhi-gen, könnte man nicht für alle Phänomene in der Welt gleichermaßen abstrakte Begrifflichkei-ten setzen118. Platon beschließt die Frage darin, indem er Parmenides darauf hinweisen lässt, dass ein älterer, weiserer Sokrates als die literarische Figur im Dialog, Ideen solch banaler Din-ge nicht mehr Din-geringschätzen würde119.

Das erste Mal übernimmt die Figur des Parmenides die Wortführung im Dialog – repräsentativ für die Erweiterungen und Vertiefungen der Ideenlehre in systematischer Hinsicht, die Platon ab diesem Zeitpunkt vornehmen wird. Die Ideenlehre, ursprünglich aus Qualitäten wie dem Guten, Schönen und Wahren motiviert und entsprungen, kann es sich als erkenntnistheore-tisches System nicht leisten, weniger hehre Begrifflichkeiten zu ignorieren, oder ihnen weniger systematisches Gewicht beizumessen. Das Gute ist erkenntnistheoretisch nicht wertvoller als

116 s. Parmenides, 130b.

117 s. Parmenides, 130c.

118 s. Parmenides, 130d.

119 s. Parmenides, 130e.

Schmutz, die Erkenntnis des einen nicht höher einzuschätzen als die des anderen. Im Hinblick auf die Historie und Motivation der Ideenlehre ist somit dieses Zwischenspiel über Haare, Kot und Schmutz nachzuvollziehen, und noch mehr darum, den allumfassenden erkenntnistheore-tischen Umfang der Ideenlehre zu betonen. Parmenides Bemerkung, ein weiserer Sokrates würde diese Erweiterung schätzen können, lässt sich verstehen als Platons literarischer Ab-druck dessen, dass ab diesem Punkt im Dialog Entwicklungsarbeit in einer bestimmten Rich-tung geleistet werden wird, verbunden mit der AndeuRich-tung, dass noch mehr philosophische Substanz sich verbirgt hinter der Frage nach Ideen für banale Dinge. Tatsächlich ist die Fest-stellung, dass die Ideen gleichwertig untereinander sind hinsichtlich ihrer epistemischen Funkti-on einerseits, systematisch wichtig als grundsätzlicher Ausgangspunkt, und wird sich anderer-seits später als hilfreich erweisen, um mögliche Verwirrung beim folgenden Tritos-Anthropos-Argument zu vermeiden, und gleichzeitig das Ursprungsproblem dahinter zu isolieren. Dafür wird der vollständige und erschöpfende Umfang der Gesamtheit der Ideen als alleiniger Ur-grund jeden Erkenntnisgewinns wichtig werden: Begriffe wie Schönheit oder Gerechtigkeit ge-hören zur begrifflichen Grundausstattung der Ideenlehre, und ebenso die abstrakten Verstan-desbegriffe wie solche aus dem metaphysischen Regal, vom Verhältnis bis zur Eigenschaft, vom Sein bis zum Eins. Werden dazu noch die Begriffe für weltliche Gegenstände addiert, ist der epistemische Wirkungsbereich der Ideen allumfassend. Platon wirft hier mit seinen literari-schen Mitteln einen Schlaglicht voraus, das erst den Zugang zum zentralen Problem gewähr-leisten wird: die innere Geschlossenheit der Ideenlehre, die nicht nur für alle gegenständlichen Objekte Ideen offeriert, sondern auch die Frage nach Ideen ermöglicht, die sich auf sie selbst beziehen. Die Frage nach der Relation Idee-Einzelding ist gerade eine solche, denn hier wird nach der Konzeption (oder der Idee) eines zentral wichtigen Systematikums der Ideenlehre ge-fragt. Damit wird die Ideenlehre ihrem Pendant der in Kapitel zwei dargestellten (und geforder-ten) semantischen Geschlossenheit gerecht: es werden keine Bezüge ignoriert, unter den Tisch fallen gelassen, oder aus dem Erklärungsparadigma der Ideenlehre herausgestrichen,

die Ideenlehre ist systematisch wie inhaltlich geschlossen, nicht nur indem sie Erkenntnis lie-fert bezüglich der Einzeldinge (undaller solcher, auch von Schmutz, Kot und Haaren), sondern auch bezüglich sich selbst, verwirklicht durch Fragestellungen nach dem Sein bzw. der Ver-flechtung der Begriffe, als auch, im nicht minder direkten Selbstbezug, der allgemeinen Relati-on Idee-Einzelding. Ohne weitere Umschweife stellt PlatRelati-on nach dem ersten Anklang des Selbstbezugs der Ideen bereits dessen Problemgehalt vor.

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