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Parmenides: ein fiktionales Werk

Im Dokument DIALEKTIK DES ANFANGS (Seite 131-135)

4. Platon: Parmenides

4.2 Parmenides als Quelle von Missverständnissen

4.2.1 Parmenides: ein fiktionales Werk

Eine der wichtigsten Feststellungen besteht darin, dass bewusst gemacht werden muss, dass der Parmenides ein literarisches, fiktionales Werk ist. So trivial dies erscheinen mag, so viele missliche Rezeptionen des Dialogs hat die ungenügende oder fehlende Berücksichtigung

die-ser Tatsache hervorgerufen. Genauso wichtig wie die Proliferation philosophischen Inhalts ist für Platon die Anstachelung des Lesers zum eigenständigen Nachdenken: zu diesem Zweck nutzt er auch die literarischen Freiheitsgrade. Bleibt diese Tatsache unberücksichtigt, führt sie zu misslichen Rezeptionen, z.B. auf die vermeintliche Erkenntnis von argumentativen Fehlern im Dialog, und verdeckt die eigentliche Frage: selbst wenn Platon diesen oder jenen Fehler macht, vielleicht begeht er ihn bewusst der Maieutik halber, um eine entsprechende Diskussion anzuzetteln? Platon schreibt keine Lehrbücher, und dementsprechend müssen die Gedanken-gänge im Dialog rezipiert werden: sie weisen auf drängende Problemfelder hin und regen zur Reflexion darüber an. Die bis zum heutigen Tag lebendige Diskussion über den Parmenides ist das beste Indiz dafür. Fachliche Kritik ist deshalb freilich nicht unangemessen; aber diese Kritik kann ebenso auch Selbstkritik des Lesers sein, der den Inhalt auf eine gewisse Weise rezi-piert.

Man kann vielleicht davon ausgehen, dass Platon zufrieden gewesen wäre damit, die Ziel-scheibe von Kritik zu sein, solange er das Ziel erreicht, seinen Leser zur philosophischer Refle-xion zu bewegen. Schreibt man über eines seiner Werke, kann man dementsprechend das Ar-beitsprinzip so formulieren, dass man Kritik an Platons Philosophie üben wolle. Zieht man je-doch darüber hinaus Schlüsse, was Platon bewusst oder nicht gewesen sein soll, oder welche Fehler ihm unterlaufen sind, geht man schnell zu weit mit den eigenen Schlussfolgerungen, und wird von der Dialektik zwischen Autor und Leser abgefangen: vielleicht wollte er genau zu diesem Problem hinführen? Im Extrem genommen lässt sich nicht einmal mit absoluter Sicherheit behaupten, dass Platon die im Dialog aufgeführten Schwierigkeiten wirklich als pro-blematisch erachtete – vielleicht wusste er um Lösungen, die er nicht anführt. Hielt Platon viel-leicht die Lösungen zurück, um nicht den maieutischen Impuls ungelöster Probleme zu unter-graben? Diese Interpretation ist deshalb unwahrscheinlich, weil der zweite Teil des Parmenides

am meisten Sinn hat, wenn die im ersten Teil aufgeworfenen Falten tatsächlich als problema-tisch angesehen werden: der zweite Teil diskutiert Lösungsvorschläge. Hätte Platon um alter-native Lösungen gewusst, wäre der zweite Teil eine letztlich überflüssige dialektische Übung.

Die später folgende Erörterung des zweiten Teils wird viele Indizien dafür vorführen, so dass der Parmenides kein Wasser auf die Mühlen der Tübinger Schule fließen lässt.

4.2.2 D

I E HAUPTSÄCHLICHEN

F

IGUREN

Verbunden mit obigen Punkten ist die Tatsache, dass keine der beiden wesentlichen Figuren im Dialog, Sokrates und Parmenides, mit ihren jeweiligen historischen Persönlichkeiten gleich-gesetzt werden können110. Platon benutzt sie als literarische Figuren, und dementsprechend kann z.B. nicht einfach gefolgert werden, dass Sokrates Platons eigene innere Haltung darstel-len würde, während Parmenides eine entsprechend äußere Position einnähme. Verbunden mit obiger Argumentation deutet diese Tatsache wiederum darauf hin, dass die Kritik an der Ideen-lehre, die im Dialog geäußert wird, weniger als Platons Selbstkritik zu verstehen ist, als eine Anregung des Leser dazu, das eigene Verständnis der Ideenlehre zu hinterfragen und zu er-weitern. Darüber hinaus ist die Fragestellung, welche Figur inwieweit Platons eigene Meinun-gen und VorstellunMeinun-gen repräsentiert sekundär als auch etwas oberflächlich, besonders hin-sichtlich der thematischen Problemstellungen als auch in anderen: hätte Platon Wert darauf gelegt, sich als Proklamateur philosophischer Weisheiten darzustellen, hätte er seine Worte nicht anderen in den Mund gelegt. Letztlich repräsentieren, wie bereits erwähnt, alle Figuren eines Dialogs Platons eigene Haltung, selbst wenn sie sich widersprechen: neben den Grün-den, die bereits dargestellt wurGrün-den, wie etwa dem Vorstoß zu ungelösten Fragestellungen der

110 Vgl. Runciman, S. 150f.

Ideenlehre, was im Folgenden im Text verankert werden wird, kann hier bereits das bloßes Faktum als Indiz gelten, dass Platon es für Wert hielt, sie niederzuschreiben. Er stellt philoso-phische Reflexion nicht im Ergebnis mit entsprechender Rechtfertigung dar, wie man es gewohnt ist von moderner philosophischer Lektüre, sondern in ihrem praktischen Erwerb.

4.2.3 D

E R

P

ARMENIDES A L S

K

RITIK A N D E R

I

DEENLEHRE

Den Parmenides rein auf die darin angeführte Kritik an der Ideenlehre zu reduzieren wird dem Dialog nicht gerecht. Zuvorderst ist die Kritik als Anstoß des Lesers zu verstehen, das eigene Verständnis der Ideenlehre zu beleuchten. Darüber hinaus führt jede Kritik auch gleichzeitig eine weiterführende Reflexion des Themas: so bleibt die im Parmenides geäußerte Kritik nicht beim bloßen negativen Feststellen einer Problemstelle stehen. Der zweite Teil führt den im er-sten Teil durch die Kritik aufgezeigten Weg fort, und ist damit der dialektische Kontrapunkt zum negativen Charakter der Kritik: erst durch diese können tiefere Einsichten gewonnen werden.

Der Parmenides ist also nicht eine bloße Wiedergabe von Problemen der Ideenlehre: erstens soll der Leser zur Reflexion der eigenen Ansichten geführt werden, und zweitens das Bild der Ideenlehre durch kritische Betrachtung erweitert und vertieft werden. Die entsprechende ex-egetische Sichtweise auf den Parmenides als Platons Selbstkritik sollte deshalb leiser prokla-miert werden. Kritik an der eigenen Lehre zu üben ist für Platon mindestens nachrangig gegen-über der Absicht, philosophische Reaktion beim Leser zu erzeugen, bzw. die innere Mechanik und damit auch das Gesamtbild der Ideenlehre tiefer zu profilieren.

Im Dokument DIALEKTIK DES ANFANGS (Seite 131-135)