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Durch Symbole kann ein gemeinschaftliches Bewusstsein gefördert werden.

Symbolisierung ist ein altes Werkzeug der Politik, welches durch die Einführung von Hoheitszeichen, Feiertagen, Staatsflagge und –hymne, Denkmälern, einheitlichen Dokumenten und Währung vordringlich dazu dient, kollektives Staatsbewusstsein darzustellen und staatliche Legitimität und Identität abzusichern.343 Auf der Suche nach Entstehung von Identität im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses sollen nun einige politische Symbole der Gemeinschaft untersucht werden:

Die Figur der Europa ist wohl das älteste Europa-Symbol, welches im Lauf der Geschichte immer wieder aktualisiert wurde. Der Mythos von der schönen Europa, die von Göttervater Zeus in Form eines Stieres geraubt wird, wurde im Mittelalter christlich umgedeutet, im 16. Jahrhundert als Allegorie der „Dame Europas“ beschrieben und im 20. Jahrhundert zu einer Figur der Satire und Karikatur, um die innere Zerrissenheit eines ganzen Kontinents darzustellen.344 Seit dem 16. Jahrhundert wurden die schöne Europa und der Europamythos oftmals zur visuellen Darstellung des Kontinents herangezogen; allein für den Zeitraum

342 Abrufbar unter: http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/eb/eb66/eb66_de.pdf (10.9.2009).

343 Vgl. Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß 202f.

344 Vgl. Patel, Europas Symbole – Integrationsgeschichte und Identitätssuche seit 1945, Internationale Politik 4 (2004), 11.

68 zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert sind im europäischen Raum 270 Gemälde nachzuweisen, die den Europamythos thematisieren.345

Im Jahr 1985 beschlossen die Staats- und Regierungschefs der MS auf ihrem Gipfeltreffen in Mailand die Einführung eines Europatages und legten den 9. Mai als Datum fest.346 Dies geschah nicht willkürlich, vielmehr war am 9. Mai 1950 in Paris von Robert Schumann die Erklärung aus der Feder Jean Monnets zur Gründung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl verlesen und damit der europäische Integrationsprozess in Gang gesetzt worden.347

Wie alle Staaten und internationalen Organisationen brauchte auch die Europäische Gemeinschaft eine einheitliche Fahne, mit der sich die unter ihrem Herrschaftsbereich Lebenden identifizieren konnten. Der Weg hin zur heutigen EU-Fahne war jedoch ein beschwerlicher.348 Bereits 1923 hatte der Begründer der Paneuropa-Bewegung, Richard Graf Coudenhove-Kalergi als Symbol für ein geeintes Europa ein rotes Kreuz in goldener Scheibe auf blauem Grund entworfen. Am Europakongress 1948 in Den Haag einigte man sich auf ein rotes E auf weißem Grund, die Farbe wurde jedoch bereits im folgenden Jahr auf Grün als Farbe der Hoffnung geändert. 1953 wählte der Europarat ein Banner mit 15 goldenen Sternen auf blauem Grund, wenige Jahre darauf wurde auf 12 Sterne reduziert.

Daneben hatten die EGKS, das EP und die Kommission jeweils eigene Embleme – es herrschte vollkommene Unübersichtlichkeit der symbolischen Repräsentation in Europa.

Der Grund, warum sich nicht eine einzige Fahne durchsetzte, mag darin liegen, dass politische Symbole im 20. Jahrhundert hauptsächlich von diktatorischen und autoritären Regimen missbraucht worden waren und die Verantwortlichen dementsprechend zurückhaltend agierten. Weiters wollte man zu Beginn der europäischen Integration auf keinen Fall durch eine ausgeprägte Symbolsprache die Ähnlichkeit der Gemeinschaften mit einem Nationalstaat suggerieren. 1986 übernahm die EG die Fahne des Europarates, die sich schnell als eindeutiges Symbol der heutigen EU durchsetzte.349 Im Eurobarometer 67, welcher im November 2007 veröffentlicht wurde, gaben 95 % der Befragten an, die

345 Vgl. Richter, Die Kunstausstellungen des Europarats, in Mittag (Hrsg), Die Idee der Kulturhauptstadt 47.

346 Vgl. Europäische Gemeinschaften, 9. Mai - Europatag, http://europa.eu/abc/symbols/9-may/euday_de.htm (14.10.2009).

347 Thun-Hohenstein/Cede/Hafner, Europarecht 6.

348 Vgl. Patel, Internationale Politik 2004, 11.

349 Vgl. Patel, Internationale Politik 2004, 11.

69 Europafahne zu kennen, 85 % halten sie für ein gutes Symbol für Europa und immerhin 54

% können sich mit ihr identifizieren.350

Die Europahymne „Ode an die Freude“ wurde 1985 ebenfalls vom Europarat übernommen, der sie bereits seit 1972 als eigene Hymne verwendet. Die Melodie entstammt dem letzten Satz der Neunten Symphonie Ludwig van Beethovens und stellt eine Vertonung des Gedichtes „Ode an die Freude“ von Friedrich Schiller dar. Schiller hatte damit seine idealistische Vision – „alle Menschen werden Brüder“ – in Worte gefasst. Die Europahymne steht für die zentralen Werte Europas: Für Frieden, Freiheit und Solidarität.

Ihr Ziel ist es nicht, die nationalstaatlichen Hymnen der MS zu ersetzen, vielmehr versinnbildlicht sie die gemeinsamen Werte und die Einheit in der Vielfalt.351

Die gemeinsame europäische Währung, der Euro, wurde mit 1. Jänner 2002 eingeführt, seit dem 1. Jänner 2009 besteht der Euroraum aus 16 Staaten.352 Eine einheitliche Währung sollte zum Symbol für die Einheit der europäischen Staaten werden. Doch selbst auf den Euromünzen konnte man nicht auf eine Verbindung von nationalen und europäischen Symbolen verzichten. Um ein gewisses Maß an nationalstaatlicher Identität bewahren zu können, ist die Gestaltung einer Münzseite den jeweiligen MS überlassen, und so zieren typisch nationalstaatliche Symbole die Euromünzen: Österreich entschied sich ua etwa für das Edelweiß, den Stephansdom oder Mozart, Italien ua für das Kolosseum, eine Statue von Umberto Boccioni, Dante Alighieri oder Leonardo da Vincis idealen menschlichen Körper, Griechenland ua für verschiedene Schiffstypen und Europa auf dem Stier, Irland für die keltische Harfe, Deutschland ua für das Brandenburger Tor. Hierbei fällt auf, dass die gewählten Symbole, abgesehen von wenigen abgebildeten Persönlichkeiten (LiteratInnen, MusikerInnen, Staatsoberhäuptern), fast ausschließlich kulturhistorisch relevantes Erbe darstellen.

Der europäischen Kunstgeschichte liegt die Vorstellung zu Grunde, dass sich Europa kulturell weitgehend einheitlich entwickelt hat, was sich in der historischen Abfolge der Stile in Literatur, Architektur, Musik und bildender Kunst widerspiegelt.353 Aus diesem Grund entschied sich der EZB-Rat deshalb bei der Gestaltung der Euro-Banknoten für das

350 Abrufbar unter: http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/eb/eb67/eb67_de.pdf (7.9.2009).

351 Vgl. Europäische Gemeinschaften, Die europäische Hymne, http://europa.eu/abc/symbols/anthem/index_de.htm (14.10.2009).

352 Vgl. Österreichische Nationalbank, Geschichte des Euro,

http://www.oenb.at/de/rund_ums_geld/euro/geschichte_des_euro/geschichte_des_euro.jsp#tcm:14-3089 (10.9.2009).

353 Vgl. Quenzel, Konstruktionen von Europa 113.

70 Thema „Zeitalter und Stile in Europa“.354 Es ist faszinierend, dass sich in den Stilepochen eine europäische Gemeinsamkeit gefunden hat, die jeder Nationalstaat als (zumindest auch) europäisch anerkennen kann. Auf den Banknoten finden sich zahlreiche Gebäude, Kirchen oder Monumente in romanischer, gotischer, barocker oder klassischer Bauweise, im Stil der Renaissance, der Glasarchitektur und der modernen Architektur des 20.

Jahrhunderts auf der einen Seite, während auf der anderen berühmte europäische Brücken abgebildet sind. Mit diesem Design wurde versucht, einerseits den kulturellen Reichtum Europas zu verdeutlichen und andererseits über den Weg der Hervorhebung von Kunst und Kulturerbe einen Brückenschlag zwischen den durch eine gemeinsame Währung vereinten Nationalstaaten – getreu dem Leitspruch „geeint in der Vielfalt“ - zu realisieren. Die Einführung des Euro erscheint heute gelungen, laut dem aktuellen Österreich-Eurobarometer355, veröffentlicht im September 2009, assoziieren 55 Prozent der ÖsterreicherInnen die EU zuallererst mit der gemeinsamen Währung.

Der gescheiterte Verfassungsvertrag sah in Art I-8 eine Aufzählung der Symbole Europas vor.356 Dort heißt es: „Die Flagge der Union stellt einen Kreis von zwölf goldenen Sternen auf blauem Hintergrund dar. Die Hymne der Union entstammt der ‚Ode an die Freude‘ aus der Neunten Symphonie von Ludwig van Beethoven. Der Leitspruch der Union lautet: ‚In Vielfalt geeint‘. Die Währung der Union ist der Euro. Der Europatag wird in der gesamten Union am 9. Mai gefeiert.“357 Der Verfassungsvertrag führte keine neuen Symbole ein, sondern übernahm die bereits vorhandenen, von der EU verwendeten und den BürgerInnen bekannten Symbole und verlieh ihnen Verfassungsrang.358 Um das Scheitern des Vertrages von Lissabon zu verhindern, findet sich im EUV künftig kein Hinweis auf die Symbole der EU mehr. Durch diesen bewussten Verzicht wollte man „alle Anmutungen eines staatlichen oder quasi-staatlichen Charakters der Union […] vermeiden.“359 Nach der Erklärung Nr. 52 zum Vertrag von Lissabon, die allerdings nur von 16 MS abgegeben wurde, dürfen die Symbole der Gemeinschaft jedoch weiterhin verwendet werden.360

354 Vgl. Trichet, Europa – Kulturelle Identität – Kulturelle Vielfalt,

http://www.ecb.int/press/key/date/2009/html/sp090316_1.de.html (9.7.2009).

355 Abrufbar unter: http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/eb/eb71/eb71_en.htm (9.10.2009).

356 Vgl. Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU. Einführung mit Synopse2 (2008) 65.

357 Abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/JOHtml.do?uri=OJ:C:2004:310:SOM:DE:HTML (14.10.2009).

358 Vgl. Europäische Gemeinschaften, Die Gründungsprinzipien der EU,

http://europa.eu/scadplus/constitution/objectives_de.htm#SYMBOLS (14.10.2009).

359 Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon 65.

360 Vgl. Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon 66.

71 6.3 Kulturpolitik als Identitätspolitik

In zahlreichen Beschlüssen und Erklärungen weist die Gemeinschaft die Entwicklung und Förderung einer europäischen Identität zu großen Teilen den beiden Bereichen Bildungs- und Kulturpolitik zu.361 Während die Bildungspolitik primär auf SchülerInnen und Jugendliche ausgerichtet ist, kann man mit der Kulturpolitik breite Bevölkerungsschichten erreichen, so zB mit Großereignissen wie der Europäischen Kulturhauptstadt. Die kulturpolitischen Bestrebungen der Gemeinschaft stehen allerdings vor dem Problem, einerseits die kulturelle Einheit fördern zu wollen und andererseits die nationale und regionale kulturelle Vielfalt der MS bewahren zu müssen. Diese Diskrepanz kommt auch in Art 151 I EGV zum Ausdruck, wo es heißt: „Die Gemeinschaft leistet einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes.“

Bereits 20 Jahre vor Inkrafttreten der Kulturklausel mit dem Vertrag von Maastricht fand die Vielfalt der Kulturen eine ausdrückliche Erwähnung im Dokument über die Europäische Identität. Dort heißt es: „Diese Vielfalt der Kulturen im Rahmen einer gemeinsamen europäischen Zivilisation […] sowie die Entschlossenheit, am europäischen Einigungswerk mitzuwirken, verleihen der europäischen Identität ihren unverwechselbaren Charakter und ihre eigene Dynamik. […] Die Entwicklung der europäischen Identität wird sich nach der Dynamik des europäischen Einigungswerks richten. In den Außenbeziehungen werden die Neun vor allem bemüht sein, ihre Identität im Verhältnis zu den anderen politischen Einheiten schrittweise zu bestimmen.“

Leo Tindemans erwähnte in seinem Bericht aus dem Jahr 1976 die Wichtigkeit der Etablierung einer einheitlichen europäischen Identität gegenüber außereuropäischen (insbesondere nordamerikanischen) politischen, wirtschaftlichen oder militärischen Verhandlungspartnern.362 Gleichzeitig wies Tindemans auf die Relevanz der Kultur und der kulturellen Tätigkeit der EG im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses hin und prägte den Begriff „Europa der Bürger“.363

In der Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten MinisterInnen für das Bildungswesen zur europäischen Dimension im Bildungswesen vom 24. Mai 1988 wurde gefordert, „das Bewusstsein der jungen Menschen für die europäische Identität zu stärken

361 Vgl. Quenzel, Konstruktionen von Europa 21ff.

362 Vgl. Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß 212.

363 Vgl. Blanke, Bildungs- und Kulturgemeinschaft 3.

72 und ihnen den Wert der europäischen Kultur und der Grundlagen, auf welche die Völker Europas ihre Entwicklung heute stützen wollen, […] zu verdeutlichen.“364 Bereits kurz nach der Einführung der Kulturklausel stellte die Kommission 1993 klar, dass die kulturellen Werte die Grundlage für die Etablierung einer europäischen Identität und einer europäischen Staatsbürgerschaft bilden sollen.365

Damit war klargestellt, dass die Politiken der europäischen Institutionen im Kulturbereich darauf abzielen, eine europäische Identität zu fördern und dass es eine gemeinsame kulturelle Identität auch tatsächlich gibt bzw geben kann. Kultur kann als Grundlage für die Schaffung einer europäischen Identität dienen, doch kann eine solche nicht alleine bestehen.

Neben einer europäischen Identität müssen regionale und nationale Identitäten Bestand haben können, eine Anforderung, die auch durch die Formulierung von Art 151 Abs 1 EGV geschützt ist. Valéry Giscard d’Estaing betonte diese Notwendigkeit bei der Eröffnungsrede vor dem Konvent zur Zukunft Europas am 26. Februar 2002: „Wir müssen dafür sorgen, dass die politischen Entscheidungsträger und die Bürger ein - starkes und deutliches - Zugehörigkeitsgefühl zu Europa entwickeln und gleichzeitig die natürliche Verbundenheit mit ihrer nationalen Identität bewahren.“366 Gottfried Wagner, Direktor der European Cultural Foundation in Amsterdam, spricht in diesem Zusammenhang von der Möglichkeit von „Mehrfachidentifikationen“.367

Bei seiner Rede am Center for Financial Studies in Frankfurt im März 2009 bediente sich Jean-Claude Trichet einer stimmigen Metapher: „Ich stelle mir die kulturelle Identität Europas wie einen sehr eng gewobenen Stoff vor. Dieser Stoff besteht zum einen aus sorgfältig gespannten Kettfäden, die den ausgeprägten nationalen Kulturen mit jeweils eigener Identität und weit zurückliegendem Ursprung entsprechen; und zum anderen aus Schussfäden, die für das länderübergreifende wechselseitige Beeindrucken und Bewundern sowie die gegenseitigen, die Kultur- und Sprachgrenzen überwindenden Einflüsse stehen.

364 Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Minister für das Bildungswesen zur europäischen Dimension im Bildungswesen vom 24. Mai 1988, abrufbar unter:

http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:41988X0706%2801%29:DE:HTML (14.9.2009).

365 Vgl. Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozeß 213.

366 D'Estaing, Eröffnungsrede vor dem Konvent zur Zukunft Europas am 26. Februar 2002, http://www.europa-reden.de/giscard/frame.htm (14.9.2009).

367 Vgl. Wagner, Europäische Kulturpolitik – wie bitte? Kulturpolitische Mitteilungen 116 (2007) 24.

73 In meiner Vorstellung bezieht dieser europäische Stoff […] seine Schönheit, Einheit und Festigkeit gerade aus der Unterschiedlichkeit seiner vielen Fäden.“368

Der französisch-libanesische Schriftsteller Amin Maalouf betont den Vorteil der Vielfalt:

Eine Identität, die auf Vielfalt beruht, bietet guten Schutz gegen die Verlockungen des Fanatismus und der Ausgrenzung, die die europäische Geschichte und auch jene der ganzen Menschheit nur allzu stark gezeichnet haben. Zudem ist die Seite „Identität“ im

„Buch Europa“ weder eine leere, noch eine schon beschriebene Seite, sondern eine, die gerade beschrieben wird. „Europa verfügt über ein reiches kulturelles Erbe, auf das alle Bürgerinnen und Bürger ein Recht haben, das aber auch offen für alles Neue bleiben muss, das aus dem Rest der Welt auf uns einströmt.“369

368 Trichet, Europa – Kulturelle Identität – Kulturelle Vielfalt,

http://www.ecb.int/press/key/date/2009/html/sp090316_1.de.html (9.7.2009).

369 Maalouf, Identität, Vielfalt und Mehrsprachigkeit, Das Magazin 29 (2008) 21.

74

7 Der Beitrag der Aktion Europäische Kulturhauptstadt zur Entwicklung einer europäischen Identität

7.1 „Kulturbaustelle Europa“

„Si j’avais su, j’aurais commencé par la culture (Hätte ich es gewußt, ich hätte mit der Kultur begonnen).”370 Dieser Satz wird oft einem der Väter des europäischen Integrationsgedankens, Jean Monnet, zugeschrieben und verweist auf die lange vernachlässigte, jedoch wichtige Rolle der Kultur im europäischen Einigungsprozess. Es ist müßig, heute darüber zu diskutieren, wie die Entwicklung Europas mit anderen Startbedingungen verlaufen wäre: Die Ausgangslage war die Konzeption einer Wirtschaftsgemeinschaft, von einer „Seele“ Europas oder gar einer gemeinsamen Kultur war viele Jahre lang nicht die Rede.371

Zur Gründung dieser Wirtschaftsgemeinschaft reichten die von Anfang an vorhandenen ökonomischen und sozialen Interessen der MS aus, zur Etablierung einer politischen Gemeinschaft mit kollektiver Identität jedoch genügen diese Voraussetzungen nicht.372 Programmatische Beschwörungsformeln wie ‚Einheit in der Vielfalt‘ oder ‚Europa der Bürger‘ sind heute ebenfalls nicht mehr ausreichend, um eine europäische Identität zu stiften.373 Selbstverständlich darf diesen Wendungen nicht ihre Relevanz abgesprochen werden. Der Respekt vor der Vielfalt der europäischen Kulturen und ihr Schutz sollten das Fundament jeder gemeinschaftlichen Tätigkeit (nicht nur im Kulturbereich) bilden.

Schon die „Erklärung über die Europäische Identität“ aus dem Jahr 1973 hatte kulturelle Tätigkeiten der EG als notwendigen Schritt hin zur Schaffung einer solchen Identität bezeichnet. Leo Tindemans betonte in seinem Bericht aus dem Jahr 1976 die wichtige Rolle der Kultur im europäischen Einigungsprozess. Und sowohl der „Fanti-Bericht“ als auch die „Feierliche Deklaration zur Europäischen Union“ haben 1983 eine vermehrte Tätigkeit der Gemeinschaft im Bereich Kultur gefordert.

Die Kultur nimmt mit ihrer Fähigkeit, breite Bevölkerungsschichten zu erreichen, einen besonderen Stellenwert bei der Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Identität

370 Holthoff, Kulturraum Europa 15.

371 Vgl. Sievers, Thema: „Kulturbaustelle Europa“, Kulturpolitische Mitteilungen 111 (2005) 24.

372 Vgl. Quenzel, Das Projekt „Kulturhauptstadt Europas“. Im Spannungsfeld zwischen regionalen, nationalen und europäischen Traditionen, kunst und kirche 01 (2009) 25.

373 Vgl. Sievers, Kulturpolitische Mitteilungen 2005, 24.

75 ein.374 Dies hatte auch Melina Mercouri erkannt, als sie den informell versammelten KulturministerInnen 1983 ihren Vorschlag zum Projekt „Kulturstadt Europas“

unterbreitete. Mercouri hatte die Absicht, durch das Programm „Kulturstadt“ die europäischen Völker einander näher zu bringen und dem rein wirtschaftlichen Zusammenhalt der Europäischen Gemeinschaften ein Programm entgegenzusetzen, das sich mit der kulturellen Identität der EuropäerInnen befasste.375 Dieser Prozess ist immer noch im Gange und man kann Europa daher noch immer als eine „Kulturbaustelle“376 bezeichnen.

7.2 Selbstpositionierung der Kulturhauptstädte in der „Mitte“ Europas

Eine der wenigen Gemeinsamkeiten nahezu aller Kulturhauptstadtkonzepte ist die Selbstpositionierung der jeweiligen Stadt als geographische, kulturelle oder wirtschaftliche Mitte Europas.377 In den Bewerbungen der einzelnen Kulturhauptstädte finden sich ua die Worte „Mitte“, „Kreuzung“, „Brücke“, „Brückenkopf“, „Herz“ oder „Vermittlerin“.

In der Bewerbung der Stadt Graz zur Europäischen Kulturhauptstadt 2003 heißt es: „Graz liegt seit Jahrhunderten am Schnittpunkt der europäischen Kulturen. Hier konnten sich romanische und slawische, auch magyarische und germanisch-alpine Einflüsse zu einem ganz spezifischen Charakter verbinden."378

Essen und das Ruhrgebiet zeigten in ihrem Bewerbungsschreiben anhand eines Nachtsatellitenbildes mit ausgewiesenen Lichtemissionen, dass sie nach London und Paris der drittgrößte Ballungsraum Europas sind.379 Und Linz positionierte sich in der Bewerbung folgendermaßen: „Im Schnittpunkt seiner geographischen Achsen Ost-West und Nord-Süd ist Linz gewissermaßen Kreuzung und Brücke zugleich. Linz „an der Donau“ ist mehr als ein geographischer Hinweis: Es bedeutet, im Herzen des großen europäischen Donauraums zu liegen, es bedeutet Teilhabe am bewegten Lauf der

374 Ebda.

375 Vgl. Oerters, Die finanzielle Dimension der europäischen Kulturhauptstadt in: Mittag (Hrsg), Die Idee der Kulturhauptstadt Europas 97.

376 Vgl. Thema der Zeitschrift Kulturpolitische Mitteilungen 111 (2005).

377 Vgl. Quenzel, kunst und kirche 2009, 28f.

378 Vgl. Graz03, Die Bewerbung, http://www.graz03.at/servlet/sls/Tornado/web/2003/content/

08D6BBB5DCF0472EC1256E350056CA64 (8.10.2009).

379 Vgl. Essen 2010, Bleibt alles anders,

http://www.essen-fuer-das-ruhrgebiet.ruhr2010.de/programm/projekte/bleibt-alles-anders.html (8.10.2009).

76 Geschichte und an der ökonomischen Entwicklung, und es bedeutet aktive Mitgestaltung in einer gesamteuropäischen Geisteslandschaft der Kultur und Kunst.“380

Aus der Selbstpositionierung in einer möglichen Mitte Europas leiteten und leiten also viele Bewerberstädte ihre spezifische Eignung zur Europäischen Kulturhauptstadt ab.381 Eine solche selbstständige Verortung als eine Art Mittelpunkt Europas in der Bewerbung ist wichtig, denn damit weist die jeweilige Stadt darauf hin, dass sie bei ihrer Programmgestaltung für das Kulturhauptstadtjahr das Augenmerk nicht auf eine national begrenzte, sondern auf die von Seiten der EU gewünschte europäische Dimension legt.

7.3 Die europäische Dimension in den Programmen der Kulturhauptstädte

Wie bereits oben erwähnt, soll das Kulturprogramm einer Europäischen Kulturhauptstadt eine ausgeprägte europäische Dimension aufweisen. Das Programm soll Ausnahmecharakter haben, es muss eigens für die Bewerbung als Kulturhauptstadt erstellt werden.382 Die Veranstaltungen sollen einerseits die Gemeinsamkeiten und andererseits die Vielfalt der europäischen Kulturen betonen und auf diese Weise das gegenseitige Verständnis der BürgerInnen Europas füreinander fördern und ein Gefühl der Zugehörigkeit zur selben Gemeinschaft entwickeln.

Konkret geht es darum, durch das Kulturprogramm sowohl die bisherige Rolle der Stadt in der europäischen Kultur als auch ihren Bezug und ihre Beteiligung am momentanen Kunst- und Kulturleben Europas darzulegen. In diesem Zusammenhang versuchen auch viele Europäische Kulturhauptstädte Teile des Programmes mit KooperationspartnerInnen aus anderen MS zu organisieren.

Die Bedeutung, die die bisherigen Kulturhauptstädte der europäischen Ausrichtung ihrer

Die Bedeutung, die die bisherigen Kulturhauptstädte der europäischen Ausrichtung ihrer