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Subjekt-Objekt-Beziehungen als Grundlage der Bedeutungsbildung

2.1 Detaillierte Darstellung des Ich-Entwicklungsmodells von Loevinger .1 Das Ich – ein Definitionsversuch .1 Das Ich – ein Definitionsversuch

2.1.8 Exkurs: Kegans Subjekt-Objekt-Theorie der Entwicklung des Selbst

2.1.8.3 Subjekt-Objekt-Beziehungen als Grundlage der Bedeutungsbildung

Im Zuge seiner Forschung erkannte Kegan, dass dieser größere Kontext in der spezifi-schen Beziehung zwispezifi-schen Subjekt und Objekt liegt. Das sich daraus ergebende Subjekt-Objekt-Gleichgewicht beschreibt er als ein grundlegendes Prinzip der Organisation des Selbst. Er bezeichnet es als „den schlafenden Schlüssel zum besseren Verständnis von Transformationen“ (Debold & Kegan, 2003, S. 84). Nach seinem Modell ist unter diesen Begriffen folgendes zu verstehen:

- Subjekt: Hierunter fallen alle Aspekte, die von einer Person nicht gesehen oder hinterfragt werden können, beispielsweise Beziehungsdefinitionen oder Annah-men über die Welt. Man könnte dies mit einer Brille vergleichen, durch die man auf die Welt schaut, ohne dass man weiß oder merkt, dass man diese Brille trägt.

Aspekte, die vollkommen auf der Subjektseite einer Person liegen, können daher nicht reflektiert werden, denn man ist mit ihnen verschmolzen, identifiziert oder in sie eingebettet. Insofern hat ein Aspekt, der dem Subjekt einer Person zugeordnet ist, diese Person im Griff.

- Objekt: Hierunter fallen die Aspekte, die eine Person sehen, über die sie reflektie-ren, die sie steuern und sich dazu bewusst in Beziehung setzen und kontrollieren kann. Insofern ist ein Aspekt, der auf der Objektseite zu verorten ist, in der Ver-antwortung und bestenfalls im Zugriff dieser Person.

Die Frage von Subjekt und Objekt ist letztendlich eine uralte philosophische Frage, die Kegan in seinem Modell empirisch überprüfbar gemacht und ganz auf die Praxis bezo-gen hat. Im Zuge der Ich-Entwicklung verschiebt sich das Verhältnis von Subjekt zu Ob-jekt immer mehr in Richtung ObOb-jekt und das SubOb-jekt wird kleiner. Diese Verschiebung soll Abbildung 6 verdeutlichen.

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Abb. 6: Verschiebung des Subjekt-Objekt-Gleichgewichts

Dies ermöglicht eine immer größere Bewusstheit und Freiheit des Ichs. Aber nicht nur das: „Mit jedem dieser Schritte gesteht er [der Mensch] der Welt ein weiteres Stück un-abhängiger Integrität zu, auf jeder Stufe wird die Verschmelzung zwischen ihm und der Welt etwas mehr gelöst“ (Kegan, 1994, S.106). Kegan sieht in seinem Modell der Subjekt-Objekt-Beziehungen ein Prinzip, das verschiedenen Entwicklungstheorien zugrundeliegt.

So zeigt er beispielsweise, wie sich damit die Entwicklung der Formallogik nach Piaget und die Moralentwicklung nach Kohlberg erklären lassen. Das folgende Beispiel (Kegan, 1994) verdeutlicht die Subjekt-Objekt-Beziehung in Hinblick auf Piagets Stufen der kogni-tiven Entwicklung:

Einmal ereignete sich folgendes: Eine Mutter von zwei Kindern war wegen des ständigen Quengelns ihres Sohnes am Ende ihrer Geduld angelangt. Diesmal ging es um die Verteilung des Nachtischs. Die Mutter hatte ihrem Zehnjährigen zwei Stückchen Kuchen gegeben, ihrem Vierjährigen nur eines. Dem betrübten jüngeren Sohn hatte sie erklärt, er bekäme nur eins, weil er kleiner sei; wenn er größer ist, wird er auch zwei bekommen. Wie man sich vorstellen kann, war der Kleine mit dieser Logik nicht einverstanden und fuhr fort, sein Schicksal zu bekla-gen. Die Mutter verlor die Geduld. In einem Anflug von Sarkasmus griff sie seinen Teller und sagte: „Du willst zwei Stücke? Gut, du sollst zwei Stücke haben. Hier!“ – wobei sie seinen Kuchen in der Mitte durchschnitt. Sofort war Ruhe; der kleine

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Junge dankte seiner Mutter ernsthaft und machte sich zufrieden an seinen Nach-tisch. Die Mutter und der ältere Bruder waren beide überrascht. Sie schauten den Kleinen an, als hätten sie einen Geist vor sich. Dann schauten sie sich gegenseitig an; in diesem Augenblick teilten sie eine eben gewonnene Einsicht in die Realität des Sohnes und Bruders, eine Realität, die von der ihren recht verschieden war.

(S. 50)

Der vierjährige Junge ist vermutlich der vor-operativen Entwicklungsstufe des Denkens zuzuordnen. Damit ist er noch nicht zu einer Sicht in der Lage, die der Welt Beständigkeit verleiht (konkret-operative Stufe), wie sie zum Beispiel in Piagets bekannten Wasserexpe-riment zur Mengeninvarianz untersucht wird. Was aber ist das dahinter liegende Subjekt-Objekt-Gleichgewicht, das ihm die Teilung des Kuchenstücks nicht als Farce vorkom-men, sondern so zufrieden erleben lässt? Der Vierjährige scheint noch in seine Wahr-nehmungen eingebunden zu sein, das heißt, er kann noch nicht zwischen den Dingen an sich und seiner Wahrnehmung darauf unterscheiden. Ebenso wenig kann er seine Wahrnehmungen so koordinieren, dass er vorher und nachher gleichzeitig in Rechnung stellen kann. So meint er nun, genauso zwei Stücke wie sein älterer Bruder erhalten zu haben. Daher „ist“ der Vierjährige seine Wahrnehmungen, anstatt sie zu „haben“. Auf der Objektseite hingegen kann er in seinem Alter schon Errungenschaften verbuchen, die ihm bis zum Alter von ungefähr zwei Jahren nicht zur Verfügung standen, weil er sie nicht kontrollieren konnte: z.B. Koordination seiner Handlungen und Reflexe. Die folgen-de Tabelle 5 (Kegan, 1994, S. 65) zeigt dieses Subjekt-Objekt-Gleichgewicht.

Tab. 5: Subjekt-Objekt-Gleichgewicht auf zwei Stufen kognitiver Entwicklung

Piagets Stufen der kognitiven Entwicklung

Subjekt:

Wodurch werde ich gesteuert?

Objekt:

Was kann ich steuern?

Vor-operative Stufe Wahrnehmungen Handlungs-Empfindungs-Reflexe Konkret-operative Stufe Reversible Operationen (das

Gegenwärtige) Wahrnehmungen

Auf der nächsten Entwicklungsstufe (konkret-operativ) wird das, was auf der vorherigen Entwicklungsstufe Subjekt war, zum Objekt. „Anstatt die Welt durch seine

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gen zu sehen, kann das Kind jetzt die Wahrnehmungen selbst sehen“ (Kegan, 1994, S.

56). Ein Beispiel dafür wäre ein Junge, der von einem hohen Gebäude aus nach unten schaut und sagt: „Die Leute sehen aus wie Ameisen“, womit er vermittelt, dass er seine eigenen Wahrnehmungen in Rechnung stellen kann. Somit ist ein qualitativer Sprung in der Organisation des Selbst entstanden. Dieses Selbst ist differenzierter, weil es weitere maßgebliche Unterscheidungen treffen kann, und es ist integrierter, weil es diese nun auch auf einer bewussteren Ebene in sein Handeln integrieren kann.

Im Zuge seiner Forschungsarbeiten zur subjektiven Erkenntnistheorie von Erwachsenen konnte Kegan nun spezifische, qualitativ unterschiedliche Entwicklungsstufen des Selbst identifizieren, die eine eindeutige Entwicklungssequenz bilden. Diese sind jeweils durch ein bestimmtes Subjekt-Objekt-Gleichgewicht gekennzeichnet. Kegan benutzt dafür zum Teil auch andere Bezeichnungen und spricht beispielsweise von Stufen der Bedeu-tungsbildung („meaning making“), Stufen des Bewusstseins oder Komplexität des Geis-tes. Diese Stufen korrespondieren in hohem Maße mit den Stufen der Ich-Entwicklung von Loevinger. In späteren Veröffentlichungen erwähnen Kegan und Lahey (2009) Loevingers WUSCT und das Subjekt-Objekt-Interview als zwei Instrumente, mit denen sich die Komplexität des Geistes messen lässt.

Die folgende Tabelle 6 (vgl. Kegan 1996, S. 122-123) verdeutlicht das Subjekt-Objekt-Gleichgewicht auf den jeweiligen Entwicklungsstufen des Selbst und setzt diese mit den entsprechenden Stufennummern der Ich-Entwicklung von Loevinger in Beziehung.

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Tab. 6: Subjekt-Objekt-Gleichgewicht nach Kegan und korrespondierende Stufen der Ich-Entwicklung nach Loevinger

Entwick-lungsstufe (Loevinger)

Entwick-lungsstufe

(Kegan)

Subjekt

Wodurch werde ich gesteuert? Objekt Was kann ich steuern?

E3 Souveränes

Selbst (S2) Bedürfnisse, Interessen,

Wünsche Impulse, Wahrnehmungen E4

Zwischen-menschliches Selbst (S3)

Beziehungen, Erwartungen

re-levanter Bezugspersonen Bedürfnisse, Interessen, Wünsche

E6 Institutionelles

Selbst (S4) Eigene(s) Identität, Ideologie,

Weltbild Beziehungen, Erwartungen rele-vanter Bezugspersonen E8

Überindividu-elles Selbst (S5) Überindividuelle Prinzipien und Werte, Austausch zwischen

Selbstsystemen

Eigene(s) Identität, Ideologie, Weltbild

E10 Subjekt-Objekt-Differenzierung löst sich auf

Die Ich-Entwicklungsstufen E5, E7 und E9 sind in dieser Tabelle nicht aufgeführt, da sie Zwischenstufen des Subjekt-Objekt-Gleichgewichts darstellen. Aufgrund ihrer For-schungsergebnisse sieht Loevinger diese als eigenständige Entwicklungsstufen an, da sie über Jahre oder Jahrzehnte stabile Stufen der Entwicklung sein können, die zudem durch eine spezifische Struktur von Aspekten definiert sind. Nach dem Modell von Kegan sind diese Stufen allerdings in einem Ungleichgewicht, das Laske (2006a, S. 115f.) als Entwicklungskonflikt bezeichnet. Ein Mensch auf diesen Stufen befindet sich sozusagen zwischen zwei sehr unterschiedlichen Subjekt-Objekt-Gleichgewichten, die schwer mit-einander in Einklang zu bringen sind. Die Tabelle 6 zeigt, dass mit jeder neuen Hauptstufe das, was das Ich auf der vorherigen Stufe ausgemacht hat (Subjekt), zum Objekt wird.

Dies bedeutet, dass zum einen eine immer unverzerrtere Wahrnehmung und zum ande-ren immer mehr Freiheitsgrade entwickelt werden. Beispielsweise ist man auf der Ge-meinschaftsbestimmten Stufe (E4) seine Beziehungen, während man auf der Eigenbe-stimmten Stufe (E6) seine Beziehungen hat. Damit wird ein Mensch in die Lage versetzt, besser mit widersprüchlichen Ansprüchen anderer umzugehen.

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