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2.1 Detaillierte Darstellung des Ich-Entwicklungsmodells von Loevinger .1 Das Ich – ein Definitionsversuch .1 Das Ich – ein Definitionsversuch

2.1.3 Stufen der Ich-Entwicklung

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kriterien immer weiter. Dann veröffentlichte sie ein erstes umfassendes Manual zur Aus-wertung (Loevinger & Wessler, 1970; Loevinger, Wessler & Redmore, 1970) und weitere sechs Jahre später ein Werk, in dem sie ihr Konzept der Ich-Entwicklung umfassend dar-legte (Loevinger, 1976). Auch damit war ihr intensiver Forschungsprozess allerdings noch lange nicht abgeschlossen. Loevinger selbst beschrieb ihr Selbstverständnis einmal wie folgt: „Um eine Wissenschaftlerin zu sein, reicht es nicht aus, eine Theorie und Daten zu haben und auch nicht, eine gute Theorie und einwandfreie Daten zu haben. Das Kern-stück des wissenschaftlichen Ansatzes ist eine schöpferische Kopplung zwischen diesen, also ein systematisches Programm zum Korrigieren, Revidieren und Erweitern der theore-tischen Konzeptionen in Resonanz auf empirische Studien“ (Loevinger, 1978, S. 2, e.Ü.). In den folgenden 20 Jahren verfolgten Loevinger und ihr Team ein solches Programm zur Erforschung von Ich-Entwicklung weiter. Bald schon überprüften sie das ursprünglich nur anhand von Frauen erforschte Konstrukt für beide Geschlechter und legten dazu ein weiteres Manual vor (Redmore, Loevinger & Tamashiro, 1978). Ebenfalls nahm Loevinger umfangreiche Validierungsstudien vor (z.B. Loevinger, 1979a), die zu verbesserten Test-versionen führten (Loevinger, 1985b). Im Laufe der nächsten 17 Jahre revidierte sie auf-grund ihrer weiteren Forschung einen Teil ihrer Stufenfolge im präkonventionellen Be-reich und nummerierte ihre Stufenfolge einheitlich. Dies mündete in ein durch neuere Stichproben modifiziertes Auswertungssystem (Hy & Loevinger, 1996). Mit 84 Jahren ver-öffentlichte sie ein Resümé mit einem Überblick ihrer etwa 40-jährigen Forschungsarbeit zu Ich-Entwicklung unter dem bezeichnenden Titel „Bekenntnisse einer Bilderstürmerin:

Am Rande zu Hause“ (Loevinger, 2002).

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Dass diese (und weitere) Besonderheiten von Ich-Entwicklung das Modell im Vergleich zu anderen Persönlichkeitsmodellen viel schwieriger zugänglich machen, bringt Loevin-ger (1976) selbst wie folgt zum Ausdruck:

Eine Konzeption, in der Ich-Entwicklung sowohl eine Typologie als auch eine Ent-wicklungssequenz ist, bedeutet, dass sie [Ich-Entwicklung] eine Abstraktion ist. Sie kann nicht reduziert werden auf konkrete, beobachtbare Leistungen… Ich-Entwicklung steht in Beziehung zu und ist abgeleitet aus Beobachtungen, aber sie ist nicht direkt beobachtbar. (S. 57, e.Ü.)

Dennoch sprechen die Ergebnisse zahlreicher Forschungsstudien dafür, dass ein so um-fangreiches Konstrukt wie Ich-Entwicklung tatsächlich zu existieren scheint (siehe S. 125).

Auch scheint das jeweilige Entwicklungsniveau großen Einfluss auf viele Aspekte des Le-bens zu haben, die mit zunehmender Reife immer besser bewältigt werden können (Ke-gan, 1996). Insofern ist das Konstrukt der Ich-Entwicklung eine Abstraktion, die für Loevinger (1984a) dennoch sehr real ist:

Ich bin davon überzeugt, dass das Selbst, das Ego, das Ich oder das Mich in ge-wisser Weise real und nicht nur durch unsere Definition erschaffen sind. Meine Ab-sicht ist es, zu verstehen, wie ein Mensch durch das Leben navigiert und nicht, künstlich abgegrenzte Einheiten zu erschaffen… Was ich Ich-Entwicklung ge-nannt habe, glaube ich, ist zurzeit die größte Näherung, zu der wir kommen kön-nen, wenn man versucht, die Entwicklungssequenz des Selbst oder seiner Haupt-aspekte aufzuzeichnen. (S. 50, e.Ü.)

Um die von Loevinger skizzierten Stufen der Ich-Entwicklung zu verstehen, ist es notwen-dig, von konkreten Verhaltensweisen abstrahieren zu können (im Überblick siehe Anlage 1). Denn ein bestimmtes Ich-Entwicklungsniveau kann sich auf sehr unterschiedliche Art und Weise zeigen. Ein ganz in seinen Impulsen gefangenes Kind, für das die Impulsive Stufe normal ist, und der noch immer impulsabhängige Jugendliche oder Erwachsene, die normalerweise eine spätere Entwicklungsstufe erreicht haben, teilen zwar ein spezifi-sches Muster, das gemeinsam mit anderen Aspekten kennzeichnend für diese Stufe ist.

Sie werden diese Verhaltensweisen aufgrund ihres Altersunterschiedes aber

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lich sehr unterschiedlich äußern. Daher muss eine wirklich altersunabhängig beschriebe-ne Entwicklungssequenz, wie sie Loevinger herausgearbeitet hat, die einzelbeschriebe-nen sie kon-stituierenden Aspekte notwendigerweise abstrakt fassen.

Ein Beispiel dafür liefert Haan, Stroud und Holsteins (1973) Studie zur Hippie-Kultur, die sich als Gegenentwurf zur konservativen US-Kultur der damaligen Zeit verstand. Die Stu-die von Haan et al. ergab, dass Stu-die meisten untersuchten Hippies auf der Gemein-schaftsbestimmten (E4) oder Rationalistischen Stufe (E5) verortet waren. Einer der zent-ralsten Aspekte der Gemeinschaftsbestimmten Stufe (E4) und der darauf folgenden Ra-tionalistischen Stufe (E5) ist der Aspekt „Konformismus“. Die reine Betrachtung des anti-konservativen Auftretens der Hippies würde wahrscheinlich nicht konformistisch erschei-nen. Von einem entwicklungspsychologischen Standpunkt aus aber würde man sie dennoch als konformistisch einschätzen, wenn „Konformität, Nichtkonformität oder Anti-komformität ein zentrales Thema in ihrem Leben darstellt“ (Loevinger & Blasi, 1976, S. 195, e.Ü.). Man könnte daher bei diesem Aspekt der Ich-Entwicklung eher von Meta-Konformität sprechen. Denn es geht nicht um die alltägliche Beobachtung konformisti-schen oder antikonformistikonformisti-schen Verhaltens, sondern um die dahinter liegende Ich-Struktur.

Im Folgenden werden die einzelnen Ich-Entwicklungsstufen anhand ihrer wesentlichen Charakteristika kurz beschrieben, um so einen Überblick über die Entwicklungssequenz zu ermöglichen (vgl. Loevinger, 1976; Hy & Loevinger, 1996; Westenberg, Hauser &

Cohn, 2004). Die Stufenbezeichnungen sind neben den Nummerierungen (E2 bis E9) ei-ne Orientierungshilfe, um ein wesentliches und hervorstechendes Merkmal der jeweili-gen Stufe zu verdeutlichen. Loevinger (1976, S. 15) selbst warnte jedoch davor, ihre Stu-fenbezeichnungen wortwörtlich zu nehmen, da sie keinesfalls das gesamte Muster der jeweiligen Entwicklungsstufe erfassen würden. Auch bei anderen Entwicklungsstufen tre-ten Aspekte der in der Stufenbenennung genanntre-ten Merkmale auf, allerdings nicht im gleichen Ausmaß. Für die Beschreibung der Stufen werden hier die Bezeichnungen von Binder (2007a, 2010; Binder & Kay, 2008) gewählt, d.h. die Begriffe, wie sie im Ich-Entwicklungs-Profil (www.I-E-Profil.de) verwendet werden. Die Bezeichnungen der Stufen im Ich-Entwicklungs-Profil lehnen sich an Loevingers Stufenbezeichnungen an, sind aber aus zwei Gründen verändert:

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1 . Einige von Loevingers Bezeichnungen sind nicht verständlich genug und erfassen nicht das Wesentliche der jeweiligen Stufe.

2 . Manche Stufenbezeichnungen werden von Menschen auf dieser Entwick-lungsstufe möglicherweise schwer als Beschreibung akzeptiert.

Die Entwicklungsstufe E8, von Loevinger als Autonome Stufe bezeichnet, ist ein Beispiel dafür. Diese Bezeichnung erweckt oft die Assoziation von (im übertragenen Sinne) „auf eigenen Füßen stehen“/„selbstständig sein“, was eher ein zentrales Merkmal der Ent-wicklungsstufe E6 ist (im Sinne eines unabhängigen Ichs). Loevinger wählte diese Be-zeichnung, um auf den Aspekt „Respekt vor dem Bedürfnis Anderer nach Selbstbestim-mung“ hinzuweisen. In ihrer letzten Revision erkannte sie die missverständliche Bezeich-nung, obwohl sie bei ihrem eingeführten Terminus blieb: „Erikson (1950) benutzte den Begriff autonom für die Phase, die hier als selbst-schützend [E3] bezeichnet wird… Hier ist der Begriff Autonomie für eine Stufe am anderen Ende der Skala reserviert“ (Hy &

Loevinger, 1996, S. 6, e.Ü). Der zweite Kritikpunkt bezieht sich auf die Anwendung des Entwicklungsmodells. Loevinger berücksichtigte diesen Aspekt nicht, da sie reine For-schung betrieb, die Ergebnisse den ForFor-schungsteilnehmern also nicht zurückmeldete.

Dieser Punkt ist aber wichtig, wenn man mit diesem Modell praktisch arbeitet, sei es im Coaching, in der Führungskräfteentwicklung oder in der Diagnostik. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Die Entwicklungsstufe E4 wird bei Loevinger als „konformistisch“ bezeich-net und hat somit einen eher negativen Klang. Im Ich-Entwicklungs-Profil wird diese Stufe neutraler als „gemeinschaftsorientiert“ bezeichnet, womit sie von Menschen auf dieser Stufe leichter angenommen werden kann. Bei anderen Stufenbezeichnungen wurde ähnlich verfahren (z.B. „selbstorientiert“ statt „opportunistisch“). Dies soll auch vermei-den, dass Stufenbezeichnungen als Etikettierungen von Menschen (z.B. Experte, Strate-ge) verwendet werden, wie dies bei den von Torbert für seine praktischen Forschungen verwendeten Begriffen scheint (z.B. Torbert, 1987a).

2.1.3.1 Die frühen Stufen der Ich-Entwicklung

Wenn ein Mensch auf die Welt kommt, hat er im eigentlichen Sinne noch kein eigenes Ich. Loevinger bezeichnet diesen Zustand als Präsozial-symbiotische Stufe (E1), erläutert diesen jedoch nicht näher, da diese Stufe nicht im Geltungsbereich ihres

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Entwicklungsmodells liegt. Hier kennt ein Säugling noch nicht den Unterschied zwischen sich und der Umwelt und auch nicht zwischen belebten und unbelebten Elementen:

„Das Kind kann beispielsweise nicht zwischen der Quelle des Unwohlseins durch zu helles Licht und der durch Hunger unterscheiden“ (Kegan, 2003, S. 85). Erst später lernt der Säugling, sich selbst als getrennt von der Umwelt wahrzunehmen und entdeckt, dass es eine stabile Welt von Objekten gibt (Objektpermanenz). Und er lernt, die Mutter von der Umgebung zu unterscheiden, wobei er noch eine symbiotische Beziehung zur Mutter hat. Erst am Ende dieser Stufe kann man von einem eigenen Ich sprechen, wobei der Spracherwerb offensichtlich eine starke Rolle spielt. Im Gegensatz zur Konzeption von Loevinger wird in der psychoanalytischen Literatur meist nur diese kurze Phase als Ich-Entwicklung bezeichnet.

Darauf folgt die Impulsive Stufe (E2) der Ich-Entwicklung, in der sich das Kind von der zentralen Bezugsperson immer mehr abgrenzt und seinen eigenen Willen ausübt. Physi-sche Bedürfnisse und eigene Impulse werden ungehindert gezeigt. Es bleibt dabei in hohem Maße abhängig von anderen und ihnen gegenüber fordernd. Regeln werden noch nicht verstanden, als schlechtes Verhalten gilt, was bestraft wird. Andere Men-schen werden danach eingeordnet, wie sie den eigenen WünMen-schen dienen. Daher wird die Einschätzung „gut“ oder „schlecht“ eher damit verwechselt, wie nett oder nicht nett das Gegenüber zu einem selbst ist. Emotionen sind noch undifferenziert und eher körper-licher Natur. Die Zeitorientierung ist noch ausschließlich auf das Hier und Jetzt bezogen.

Indem ein Mensch lernt, wie Belohnung und Bestrafung funktionieren, erkennt er, dass es Regeln gibt. Die Selbstorientierte Stufe (E3) ist somit ein weiterer Schritt in der Entwick-lung, der eine erste Form von Selbstkontrolle beinhaltet. Regeln werden jetzt befolgt (oder gebrochen), weil sie eigenen Vorteilen dienen. Insofern steht die eigene Nutzen-maximierung im Vordergrund. Auch zwischenmenschliche Beziehungen werden vor-wiegend an eigenen Vorteilen gemessen, wobei die in der vorherigen Stufe vorhande-ne Abhängigkeit schwindet und Dinge lieber selbst gemacht werden. Ein längerer Zeit-horizont fehlt und der Wunsch nach unmittelbarer Bedürfniserfüllung bleibt vorhanden, im Zweifelsfall auf Kosten anderer. Es herrscht eine sich selbst schützende Orientierung vor, bei der Ursachen und Schuld außerhalb des eigenen Selbst verortet werden (z.B.

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„Ich war mit den falschen Leuten zusammen…“). Selbstkritik ist noch kaum vorhanden oder bezieht sich dann auf Aspekte, für die man sich nicht verantwortlich fühlt.

2.1.3.2 Die mittleren Stufen der Ich-Entwicklung

Ein weiterer qualitativer Schritt erfolgt mit der Gemeinschaftsorientierten Stufe (E4), auf der das eigene Wohlergehen mit dem einer Gemeinschaft oder einer anderen Autorität verbunden wird (z.B. Familie, Arbeitsgruppe, Lehrer, Vorgesetzter). Man identifiziert sich jetzt mit diesen und akzeptiert weitgehend unhinterfragt deren Werte, Meinungen und Weltbilder. Regeln werden eingehalten, weil sie dort so gelten. Wichtig ist Anerkennung durch die jeweilige gewählte Bezugsgruppe, daher ordnet man sich den dort geltenden Bedingungen unter und versucht, ein akzeptiertes Mitglied zu sein. Damit geht einher, dass man die Welt in einfache Kategorien einteilt und klare Vorstellungen und Regeln hat, wie etwas zu sein hat oder wie mit etwas zu verfahren ist. Man sieht sich selbst und andere Personen eher so, wie man sein sollte, und nicht, wie man vielleicht ist. Das Be-wusstsein ist dabei auf Äußerliches ausgerichtet (z.B. Kleidung, Aussehen, guter Ruf) und es gibt offensichtlich noch kein ausdifferenziertes Innenleben.

Mit dem Erwachen einer eigenen Stimme, die unabhängig von anderen wird, beginnt der nächste Schritt zur Rationalistischen Stufe (E5), die eigentlich eine Übergangsstufe ist.

Personen auf dieser Stufe ist klar geworden, dass Menschen vielschichtiger sind und häu-fig nicht mit den sie betreffenden Stereotypen übereinstimmen. Dadurch erweitert sich auch die Fähigkeit, das eigene Innenleben zu erfassen. Aber auch Beziehungen zu an-deren werden jetzt nicht mehr nur in Form von gemeinsamen Aktivitäten oder dem Tei-len gemeinsamer Bezugsgruppen verstanden, sondern auch danach, was dies für einen bedeutet und welche Gefühle damit verbunden sind. In diesem Zusammenhang wer-den auch früher als fest und unverrückbar geltende Regeln eingegrenzt. So werwer-den jetzt beispielsweise unterschiedliche Bedingungen für verschiedene Situationen oder Grup-pen in Rechnung gestellt. Insgesamt geht damit eine höhere kognitive Flexibilität einher, denn Dinge werden jetzt zunehmend hinterfragt. Man beginnt Gründe für Verhalten zu suchen, selbst wenn sich diese noch häufig auf einfache Aspekte beziehen (z.B. „…weil ihn etwas stört“). Selbstkritik ist in Ansätzen sichtbar, geht aber in sozialen Situationen meist mit einem Gefühl der Befangenheit einher. Bestimmend ist der Aspekt, sich nun

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von anderen zu unterscheiden, wobei man sich häufig noch an einzelnen (zuweilen ein-seitigen) Standards orientiert.

Ein einschneidender Wechsel in der Ich-Entwicklung ist der Übergang zur Eigenbestimm-ten Stufe (E6). Mit dieser ist erstmals ein Ich entstanden, das unabhängig von anderen

„konstruiert“ ist. Es ist gekennzeichnet durch selbst evaluierte Standards und Werte, an denen die eigene Verantwortung festgemacht wird. Eine Entscheidung wird nicht ge-troffen, weil andere Menschen es so wollen, sondern weil man sie selbst als richtig sieht und fühlt. Ein einprägsames Beispiel ist Luthers Standhalten am 18. April 1521 vor dem Wormser Reichstag: „… ich kann und will nichts widerrufen, weil es gefährlich und un-möglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun“ (Treu, 2006, S. 51). Ein Mensch auf dieser Stufe erkennt immer mehr Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten und betrachtet Regeln in Bezug auf ihre Angemessenheit. Es werden Motive und andere innere Aspekte bei der Betrachtung von Personen in Rechnung gestellt, was dazu führt, das man sich selbst und andere vielfältiger beschreiben kann. Eine Person auf dieser Stufe ist daher reflektierend und zur Selbstkritik fähig. Damit geht ein längerfristigerer Zeithorizont, das Bestreben, wei-ter zu kommen und ein breiwei-terer Blick auf die Welt einher, bei dem das Ich nicht mehr ausschließlich im Zentrum stehen muss.

2.1.3.3 Die späten Stufen der Ich-Entwicklung

Mit der nächsten Stufe der Entwicklung, der Relativierenden Stufe (E7), kann ein Mensch individuelle Unterschiede jetzt in größerer Breite und Tiefe sehen. Er gelangt sozusagen zu einem wirklichen Blick auf die Individualität eines Menschen. Zudem wird die eigene Subjektivität zunehmend gesehen und in Rechnung gestellt. So kann man auch Unter-schiede leichter tolerieren als auf früheren Stufen. Menschen auf dieser Entwicklungsstu-fe relativieren mehr und stellen zunehmend den jeweiligen Kontext in Rechnung. Innere und äußere Konflikte und Widersprüche werden mehr zugelassen, allerdings noch häufig außerhalb des eigenen Selbst verortet. Situationen und Menschen werden jetzt prozess-hafter und damit weniger statisch wahrgenommen, so dass auch insgesamt mehr auf Entwicklung geachtet wird. Es werden unterschiedliche Arten von Abhängigkeiten kon-trastiert und mehr Unterschiede zwischen dem benannt, wie etwas äußerlich erscheint und wie es möglicherweise tatsächlich ist.

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Die Relativierende Stufe ist im wesentlich noch eine Übergangsstufe zur Systemischen Stufe (E8), in der sich viele der dort schon angelegten Aspekte erst in vollem Umfang zeigen. Menschen auf dieser selten erreichten Entwicklungsstufe können nun die An-dersartigkeit anderer Menschen voll akzeptieren und schätzen deren Bedürfnis nach Selbstbestimmung. Dies steht im Gegensatz zur moralischen Entrüstung von Menschen auf früheren Stufen. Damit verschwindet auch das zuweilen exzessive Verantwortungs-gefühl der mittleren Entwicklungsstufen (E4 – E6). Mögliche Fehler anderer können daher leichter aus einer wohlwollen Distanz betrachtet werden, um Lernen zu ermöglichen, anstatt vorher einzugreifen. Dies gelingt vor allem, weil innere Konflikte und Widersprü-che voll anerkannt werden und nicht mehr nach außen projiziert oder verneint werden.

Damit ist man nun in der Lage, widersprüchliche Ideen oder Konzepte zu vereinen, die früher als gegensätzliche Alternativen erschienen sind. Trotz der bereits erlangten inne-ren Unabhängigkeit herrscht ein tiefer Respekt vor gegenseitigen Abhängigkeiten und Vernetzungen. Dies geht einher mit einer breiteren Sicht auf die Welt und dem inneren Wunsch, sich weiterzuentwickeln.

Die letzte von Loevinger herausgearbeitete Stufe ist die Integrierte Stufe (E9), die aller-dings, so betont sie selbstkritisch, auch am schwersten zu beschreiben ist. Menschen, die diese Stufe erlangt haben, sind ihrer Ansicht nach in vielem vergleichbar mit dem

„selbstverwirklichenden Mensch“ („self-actualizer“), wie ihn Maslow (1996, S. 179-212) in seiner fallorientierten Untersuchung beschrieben hat. Loevinger hat diese Stufe nie wei-ter erforscht und sah eine Begrenzung darin, überhaupt eine ausreichende Fallzahl zu finden, um Gemeinsamkeiten und Charakteristika dieser Entwicklungsstufe hinreichend genau herausarbeiten zu können. Dennoch gab es immer Interesse an dieser Stufe und Kritik an Loevingers Vorgehen, z.B. von Billington (1988, S. 76, e.Ü.): „Wie auch immer, es gibt Anzeichen dafür, dass die [letzte] Stufe existiert. Nur weil sie sehr selten und nicht vollständig verstanden ist, scheint das kein Grund zu sein, diese Stufe zu eliminieren.“

Cook-Greuter nahm dieses Thema auf und erforschte insbesondere die späten Entwick-lungsstufen in Loevingers Modell. Die so über viele Jahre zusammengetragene umfang-reiche Datenbasis führte schließlich zu einer Neuformulierung der späten Entwicklungs-stufen (siehe S. 55).

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Auch wenn Loevinger den Forschungsarbeiten Cook-Greuters (1990, 1994, 2000a), die sich ausschließlich mit den späten Ich-Entwicklungsstufen beschäftigen, skeptisch ge-genüber stand, sah sie die Entwicklungssequenz nie als geschlossen an. So betonte sie,

„dass es keine höchste Stufe gibt, sondern nur ein Öffnen gegenüber neuen Möglichkei-ten“ (Loevinger, 1976, S. 26, e.Ü.). Ebenso wehrte sie sich stets gegen eine normative Begründung ihrer Entwicklungssequenz, wie sie von Kohlberg gefordert wurde: „Ich kann seiner Kritik an meiner Arbeit (Snarey, Kohlberg und Noam, 1983) nur zustimmen, dass ihr die normative Komponente seines Ansatzes fehlt und dass ich lediglich versuche zu be-stimmen, was ist, unbehindert dessen, was sein sollte“ (Loevinger, 1986a, S. 187). Daher benannte sie auch nie einen Endpunkt ihrer Ich-Entwicklungssequenz.