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Ich-Entwicklung im Rahmen integrativer Persönlichkeitsansätze

2.1 Detaillierte Darstellung des Ich-Entwicklungsmodells von Loevinger .1 Das Ich – ein Definitionsversuch .1 Das Ich – ein Definitionsversuch

2.1.11 Ich-Entwicklung und Persönlichkeit

2.1.11.3 Ich-Entwicklung im Rahmen integrativer Persönlichkeitsansätze

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dem Hintergrund der beiden Studien von Einstein und Lanning (1998) sowie Hogansen und Lanning (2001) liegt allerdings der Schluss nahe, dass Ich-Entwicklung wie von Loevinger behauptet tatsächlich ein „master trait“ ist, der als wesentlicher Moderator der Persönlichkeit fungiert: Denn die spezifischen Ausprägungen der Big-Five-Eigenschaften scheinen sich dadurch erheblich zu verändern (vgl. Kurtz und Tiegreen, 2005, S. 315-316). Dagegen kann durch die zusätzliche Betrachtung der Big Five weder die Spezifität einzelner Ich-Entwicklungsstufen erfasst werden noch wird die Reihenfolge der Ich-Entwicklungssequenz in Frage gestellt.

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eine Forschungsvielfalt genau das: „Wir sind zuversichtlich, dass letztendlich Eigen-schaftsforschung durch dynamische und entwicklungsbezogene Ideen durchdrungen wird und wir damit einem integrativen Modell der Persönlichkeit näher kommen.“ Inso-fern kann keine Forschungstradition ein Vorrecht beanspruchen, Persönlichkeit erklären zu wollen (Loevinger, 1996). Vor dem Hintergrund der Vielfältigkeit des Menschen scheint dies auch nicht mit einem Gesamtmodell möglich. Denn schon Loevinger als ausgewiesene Psychometrikerin bemerkte dazu (mit einem Seitenhieb auf Eigenschafts-theoretiker, die sich vor allem faktorenalytischer Methoden bedienen) (1976, S. 176, e.Ü.): „Die Natur verheißt uns kein orthogonales Universum, eine Welt, die in Zeilen und Spalten geordnet ist, wo alle unterscheidbaren Eigenschaften statistisch unabhängig voneinander sind“. Insofern sind Ansätze, die Big Five noch weiter statistisch zu verdich-ten (Musek, 2007) zweifelhaft, vor allem auch in Hinblick auf den Nutzen für die Praxis.

Viel befruchtendere Forschungsfragen und größeren Nutzen für die Praxis versprechen Versuche, diese Vielfalt zu würdigen und im Rahmen integrativer Ansätze aufeinander zu beziehen. Mayer (1998) schlägt dazu beispielsweise einen allgemeinen systemtheore-tischen Rahmen vor, um die Vielfalt einzelner Forschungen in diesem Feld zu ordnen. Für die Frage, inwiefern das Konstrukt Ich-Entwicklung im Gesamtkontext der Persönlichkeit zu verstehen ist, bieten sich insbesondere die Ansätze von McAdams und Kuhl an. Denn beide Forscher haben neben ihrer eigenen spezialisierten Forschung einen integrativen Rahmen entwickelt, der in der Lage ist, eine Vielzahl unterschiedlichster einzelner For-schungsstränge zu integrieren. Inwiefern das Modell der Ich-Entwicklung in diesem Rah-men verortet werden kann, wird im Folgenden beschrieben.

2.1.11.3.1 Ich-Entwicklung im Rahmen des Drei-Ebenen-Modells der Persönlichkeit von McAdams

In den 1990er Jahren schrieb McAdams einen viel beachteten Artikel (1995), in dem er einen konzeptionellen Rahmen für Persönlichkeitsforschung skizzierte. Darin stellte er an-hand einer persönlichkeitspsychologischen Reflexion über einen Partygast die Frage fol-gende Frage: What do we know when we know a person? In diesem und weiteren Arti-keln (1996a, 1996b, 2006) knüpfte er an Murrays Programm einer synthetischen Persön-lichkeitsforschung an, die dieser „Personology“ genannt hatte (Murray, 1938). Aus-gangspunkt dafür war Kluckhohn und Murrays (1953, S. 53) bekannte Aussage, dass

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der Mensch in bestimmter Hinsicht erstens wie alle anderen Menschen, zweitens wie ei-nige andere Menschen und drittens wie kein anderer Mensch ist.

Vor diesem Hintergrund entwickelte McAdams (2002 im Detail) sein Drei-Ebenen-Modell der Persönlichkeit, das die Vielzahl psychologischer Forschungsarbeiten mit Relevanz für die Persönlichkeitspsychologie aufgreift. Tabelle 13 zeigt dessen wesentliche Charakte-ristika auf.

Tab. 13: Drei-Ebenen der Persönlichkeit und ihre Beziehung zu Kultur (McAdams & Pals, 2006, S. 212)

Ebene Funktion Beziehung zur Kultur 1 Grundlegende

Eigenschaften Umreißen einen Grundriss des

Ver-haltens Beeinflusst, wie Eigenschaften ausgedrückt werden

2 Charakteristische

Anpassungen Füllen die Details menschlicher

Indi-vidualität Animiert zu verschiedenen Mustern charakteristischer Anpassungen (z.B. eher individualistisch oder kollektivistisch)

3 Integrative

Lebenserzählungen Erzählen, was das Leben für einen Menschen insgesamt bedeutet und wie Identität entwickelt wird

Versorgt Lebensentwürfe mit ei-nem Menü von Geschichten und spezifiziert, wie diese erzählt und gelebt werden sollten

Die erste Ebene der Persönlichkeit besteht nach McAdams aus relativ breiten Eigen-schaften, wie sie im Big-Five-Modell abgebildet sind. Nach McAdams stellen sie nur In-formationen über die allgemeinsten, vergleichenden und dekontextualisierten Dimensi-onen einer Person zur Verfügung, ähnlich den Wahrnehmungen und InterpretatiDimensi-onen von Fremden, wenn sie sich begegnen. Aus evolutionärer Sicht hatte es offenbar in Be-gegnungen mit Fremden einen Vorteil, bestimmte grundlegende Eigenschaften zu be-rücksichtigen. Nach Goldberg (1981) scheint die Sprache dafür fünf Gruppen von Be-griffen zu beinhalten: So kann jedem der fünf Faktoren letztendlich eine relevante Frage zugeordnet werden, die hilft, eine fremde Person besser einzuschätzen. Für den ersten Faktor „Neurotizismus“, der unter anderem auch Labilität beinhaltet, wäre dies bei-spielsweise: Ist sein/ihr Verhalten weitestgehend berechenbar? Oder für den vierten Fak-tor „Verträglichkeit“ wäre dies etwa die Frage: Wie gut kann man mit ihm/ihr auskom-men? McAdams sieht daher einen wichtigen, wenn auch begrenzten Nutzen des

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Five-Modells: „Das letztliche Ergebnis einer guten Eigenschaftsanalyse würde wenig mehr als eine systematische Psychologie des Fremden erscheinen“ (1996, S. 303, e.Ü.).

Die zweite Ebene der Persönlichkeit fügt diesem Bild eines Menschen charakteristische Details hinzu, die helfen, die Individualität besser verstehen zu können. Denn Eigenschaf-ten können beispielsweise keine Dynamik erklären, die sich aus bestimmEigenschaf-ten Bedingun-gen herleitet, wie beispielsweise im Ausspruch „Meine Dominanz zeigt sich, wenn meine Kompetenz bedroht wird“ (Thorne, 1989, S. 149, e.Ü.). In die zweite Ebene fallen daher so unterschiedliche Konstrukte wie Motive, Werte, Abwehrmechanismen, Coping-Stile, per-sönliche Projekte und vieles mehr. Nach McAdams ist diese zweite Ebene noch ein „wei-testgehend unkartographiertes Feld“ (1995, S. 376). Im Gegensatz zu den letztlich nur beschreibenden, grundlegenden Eigenschaften des Big-Five-Modells sind die Aspekte der zweiten Ebene der Persönlichkeit eher richtungsgebender, strategischer oder ent-wicklungsbezogener Art. Insofern kontextualisieren sie die grundlegenden Eigenschaften (Ebene 1) in Hinblick auf Zeit, Ort oder Rolle. Denn richtungsgebende Persönlichkeitsas-pekte wie Motive, Ziele oder Pläne orientieren eine Person in Hinblick auf die Zukunft und können nicht durch die Big Five erklärt werden (Winter, John, Stewart, Klohnen & Dun-can, 1998). Ebenso fällt die Bewältigung bestimmter Lebensaufgaben, wie sie in Eriksons Modell der psychosozialen Entwicklung beschrieben werden (Erikson, 1968), mit be-stimmten Lebensphasen zusammen (Kontextualisierung in Hinblick auf Zeit und Rolle).

Die dritte Ebene der Persönlichkeit betrifft das, was selbst nach Einbezug der vielen ver-schiedenen, spezifischen Aspekte der zweiten Ebene immer noch fehlt: Die Frage, wie ein Mensch sein Leben und seine Biographie deutet und welchen Sinn er darin sieht. Das heißt, es geht letztlich darum, wie ein Mensch Identität entwickelt und aufrechterhält.

Denn eine noch so lange Liste von Eigenschaften oder Aspekten von Ebene 1 und Ebe-ne 2 ergibt noch lange keiEbe-ne persönliche Identität, auch wenn diese Liste ein Teil davon ist (McLean & Fournier, 2007). McAdams zeigt durch seine Forschungsarbeiten, wie diese Aufgaben gemeistert (oder verfehlt) werden, in der Art und Weise, wie Menschen ihr ei-genes Leben erzählen (McAdams, 1985, 1993, 2008).

Betrachtet man diese drei Ebenen der Persönlickeit nach McAdams, stellt sich die Fra-ge, wo das Modell der Ich-Entwicklung darin zu verorten ist. Zunächst ist Ich-Entwicklung

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ein Aspekt der zweiten Ebene. Denn wenn ein Mensch eine bestimmte Entwicklungsstu-fe erreicht hat, dann ist die Perspektive, aus der heraus dies geschieht, bereits kontextu-alisiert (zeitliche Entwicklung). Dennoch scheint das Ich eine Sonderstellung einzuneh-men, wie beispielsweise Hogansen und Lanning (2001, S. 459, e.Ü.) in ihren Studien zu Ich-Entwicklung im Zusammenhang mit dem Big-Five-Modell bemerken: „Aber obwohl Ich-Entwicklung vielleicht als nur eines von mehreren Konstrukten auf dieser Ebene ver-standen werden könnte, kann es auch als ein grundlegenderes, organisierendes Prinzip des Persönlichkeitssystems verstanden werden, das topographisch tiefer und ontolo-gisch vor den vielen anderen Variablen auf der ersten und zweiten Ebene in McAdams’

(1995) Schema liegt.“

McAdams sieht das Selbst eines Menschen als Konstrukt an. Daher ist zu fragen, wer dies eigentlich konstruiert. McAdams (1996, S. 301, e.Ü.), der Ich-Entwicklung in den meisten seiner Forschungsarbeiten als Variable miterhob, positioniert das Ich letztlich im Sinne von James (1892/1963) außerhalb der drei Ebenen: „Eine adäquate Beschreibung einer Person erfordert eine klare Unterscheidung zwischen den Ich- und Mich-Aspekten von Persönlichkeit“. Und weiter: „Eigenschaften, Interessen und Geschichten sind keine ‚Tei-le‘ oder ‚Komponenten‘ des Ichs; stattdessen sind sie potentielle Elemente des Michs“

(S. 303, e.Ü.). Nach McAdams ist das Ich demnach „der Regisseur der Persönlich-keit“(1985, S. 129, e.Ü.). Wie dieses Ich auf unterschiedlichen Stufen seiner Entwicklung bedeutende Unterschiede in der Art und Weise produziert, wie Identität erzeugt wird, hat McAdams in vielen Studien gezeigt (z.B. de St. Aubin & McAdams, 1995; Adler, Wagner & McAdams, 2007).

2.1.11.3.2 Ich-Entwicklung im Rahmen der Theorie der Persönlichkeits-System-Interaktionen von Kuhl

Ein weiterer integrativer Ansatz der Persönlichkeit, in dem unterschiedliche Aspekte und Traditionen zusammenführt werden, stammt von Kuhl (2001). Wie McAdams beantwor-tet er die Frage nach den Unterschieden und Gemeinsamkeiten der verschiedenen sönlichkeitsaspekte. Obwohl McAdams durchaus auch die Frage, wie die einzelnen Per-sönlichkeitsaspekte zusammenspielen, in seine Forschung einbezieht, geht es ihm in sei-nem Drei-Ebenen-Modell allerdings mehr darum, einen Menschen in seiner Gesamtheit zu verstehen und daraus ableiten zu können, wie er sich verhält. Kuhl dagegen versucht

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mit seiner Theorie der Persönlichkeits-System-Interaktionen (PSI-Theorie), stärker die zwei-te Frage zu beantworzwei-ten und auch die spezifischen Mechanismen herauszuarbeizwei-ten, die dabei am Werke sind. Insofern hat die Theorie von Kuhl einen etwas anderen Schwerpunkt: Sie ist enger gefasst, da die Ebene 3 in McAdams Modell (Identität – integ-rative Lebenserzählungen) nicht explizit berücksichtigt wird. Und sie ist umfassender, weil die handlungssteuernden Mechanismen expliziert werden. Kuhls Persönlichkeitstheorie ist im Wesentlichen handlungstheoretisch orientiert und nimmt dabei auch Aspekte aus den persönlichkeitspsychologischen Nachbardisziplinen Emotions-, Motivations-, Kogniti-ons- und Neuropsychologie auf. Er postuliert insgesamt sieben Systemebenen (siehe Ta-belle 14).

Tab. 14: Die sieben Systemebenen der Theorie der Persönlichkeits-System Interaktionen (Kuhl, 2010, S. 437)

Systemebene Primäre Funktion

Verhaltensbahnung Erfahrungsorientierung 1 Elementare

Kognition Gewohnheiten Intuitive Verhaltenssteuerung

Objekte Objekterkennung 2 Temperament Motorische Aktivierung

Opportunistische Energetisierung sensu-motorischer Netzwerke

Sensorische Erregung Sensibilisierung der Objekterkennung 3 Affekt Belohnungsfokus

Konditionierung positiven Affekts auf Objekte

Bestrafungsfokus

Konditionierung negativen Affekts auf Objekte

4 Progression

vs. Regression Top-down

Modulation der Ebenen 1-3 durch die Ebenen 5-7

Bottom-up Dominanz der Ebenen 1-3

5 Motive als

„intelli-gente Bedürfnisse“ Leistung, Macht Wirkungsorientierte Motive

Beziehung, Freies Selbstsein Erlebnisorientierte Motive 6 Höhere Kognition

(Wissen u. Fühlen) Analytisches Denken (entweder – oder)

Wissensabhängig

Holistisches Fühlen (sowohl – als - auch) Erfahrungsabhängig 7 Selbststeuerung

(Agency)

Selbstkontolle Ich (Intention)

Selbstregulation Selbst (Extension)

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Nach ihm nehmen die verschiedenen Traditionen in der Psychologie jeweils nur be-stimmte Ausschnitte menschlichen Funktionierens in den Blick. Keine davon ist exklusiv nur einer Systemebene zuzuordnen, akzentuiert aber meist eine davon. Seiner Meinung nach erlaubt der Stand der heutigen Forschung, vor allem durch neuere experimental-psychologische und neurobiologische Forschung, eine Einordnung in ein integratives Persönlichkeitssystem. Kuhl versteht Persönlichkeit daher wie folgt (2010, S. 16): „Persön-lichkeit lässt sich demnach als die für das Individuum typische Art und Weise beschrei-ben, wie die verschiedenen Systemebenen das Erleben und Handeln steuern.“ Kuhl sieht die einzelnen Systemebenen als aufsteigendes System von jeweils höher entwickel-ten (komplexeren) Ebenen, die das Handeln eines Menschen gemeinsam beeinflussen.

Höhere Systemebenen können dabei die Funktionen auf den niedrigeren Systemebe-nen modulieren beziehungsweise steuern. Auf jeder dieser SystemebeSystemebe-nen gibt es nach Kuhl (2010, S. 436) zwei Funktionen, „die andersartig oder gar antagonistisch arbeiten“.

Während die Erfahrungsorientierung eher ganzheitlich orientiert ist, funktioniert die Ver-haltensbahnung, indem sie auf spezifische Objekte fokussiert.

Auf der ersten Systemebene geht es vor allem um automatisierte Verhaltensprogram-me, die im Sinne von Gewohnheiten das Verhalten steuern. Diese funktionieren nach dem Reiz-Reaktions-Schema, das heißt, sobald ein entsprechender Reiz auftaucht, wird ein bestimmtes Verhalten automatisch abgespult, ohne Beteiligung weiterer Denkpro-zesse. Die zweite Systemebene betrifft den Grad der globalen Aktivierung eines Men-schen (Temperament), wobei diese Aktivierung eher situationsblind und unspezifisch wirksam ist. Eigenschaften wie Neurotizismus oder Extraversion sind beispielsweise dieser Ebene zuzuordnen. Wie sich diese Aspekte spezifisch äußern, wird allerdings erst durch höhere Ebenen der Persönlichkeit beeinflusst. Auf der dritten Systemebene (Affekt) wird dieser Grad an ungerichteter Aktivierung spezifiziert, das heißt, es entwickelt sich durch Lernvorgänge ein Muster an Anreizen, die für eine Person attraktiv sind und daher Ver-halten motivieren oder hemmen. Dies hängt damit zusammen, wie positive Affekte durch die Befriedigung von eigenen Bedürfnissen entstehen oder frustriert werden.

Kuhl sieht diese ersten drei Ebenen aus Sicht der Evolution des Menschen als ältere Quel-len des Erlebens und Handeln. Sie sind eher unspezfisch oder berücksichtigen nur einzel-ne Ausschnitte (Ebeeinzel-ne 3): „Immer dann, wenn eieinzel-ne differenziertere (‚intelligente‘)

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rücksichtigung des Kontexts sinnvoll erscheint, sollten die einfachen Gewohnheiten und Anreizaufsuchungsroutinen abgeschwächt werden“ (Kuhl, 2010, S. 212). Auf der vierten Systemebene geht es daher im weitesten Sinne um Stressbewältigung (Coping) und die Entscheidung darum, inwiefern es sinnvoll ist, den früheren Ebenen das Steuer zu über-lassen (Regression) oder zum Beispiel auf planvolles Handeln umzuschalten (Ebene 5 – 7).

Mit der fünften Systemebene wird eine komplexere Verhaltensbahnung ermöglicht. Da-bei stehen Motive im Vordergrund, die offensichtlich vorbegrifflich und nicht direkt be-wusster Natur sind. Hiermit wird Verhalten in eine Richtung gelenkt, die davon abhängt, welche Grundmotive bei einem Menschen im Vordergrund stehen. Liegt beispielsweise ein starkes Machtmotiv vor, dann wird ein Mensch in vielen Kontexten versuchen, Einfluss auf andere auszuüben. Auf der sechsten Systemebene befinden sich nach Kuhl die hö-heren kognitiven Prozesse. Diese Ebene beinhaltet, wie (und ob) ein Mensch sich Ziele vornimmt und Pläne entwickelt. Die kognitive Verarbeitung kann dabei eher analytisch oder auch ganzheitich erfolgen, je nachdem wie gut der Zugriff auf Parallelverarbei-tungsprozesse des Gehirns gelingt (Erfahrungs- und Verhaltensbahnung). Die höchste, siebte Systemebene in der PSI-Theorie betrifft die Selbststeuerung. Sie stellt sozusagen die Steuerungszentrale der Persönlichkeit insgesamt dar. Sie übernimmt die Aufgabe, die Beteiligung der einzelnen Systemebenen am Erleben und Handeln insgesamt zu re-gulieren. Dabei sind zwei Funktionen zu unterscheiden: Einerseits die Selbstkontrolle, bei-spielsweise im Sinne bewusster Unterdrückung von bestimmten Gewohnheiten, und die Selbstregulation, das heißt das Flexibilisieren oder möglicherweise Infragestellen der ei-genen Ziele.

Kuhl nimmt in seiner PSI-Theorie keinen expliziten Bezug auf das Modell der Ich-Entwicklung. Er verwendet aber das „Ich“ und das „Selbst“ als zentrale Begriffe für seine siebte Systemebene und verweist vielfach auf Theorien, die sich mit dem Selbst beschäf-tigen, beispielsweise Kohut, Erikson oder Rogers. Diese Begriffe weisen Parallelen zu Loevingers Begriff des Ichs auf, wobei Kuhl das Ich und das Selbst hypothetisch trennt (siehe Tabelle 14). Forschungsstudien, bei denen sich zwischen Ich-Entwicklung und ein-zelnen Aspekten der bei Kuhl beschriebenen Systemebenen Zusammenhänge gezeigt haben, können jedoch Hinweise auf die Verortung von Ich-Entwicklung in Kuhls

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lichkeitsmodell liefern. Dazu lässt sich tatsächlich eine Reihe von Forschungsstudien fin-den, von denen die allermeisten jedoch Korrelationsstudien sind, aus denen keine Wir-kungsbeziehungen geschlossen werden können. Dennoch scheinen diese alle eine Zu-ordnung zu einer Ebene nahezulegen. Mit zunehmender Ich-Entwicklung beispielsweise

- verändern Eigenschaften wie Neurotizismus und Extraversion sich in der Form ihres Ausdrucks (z.B. Hogansen und Lanning, 2001) (2. Ebene),

- können Emotionen besser verstanden und kontrolliert werden (z.B. Labouvie-Vief, DeVoe & Bulka, 1989) (4. Ebene),

- verändert sich bei grundlegenden Motiven deren Gewichtung (z.B. Lasker, 1978) wie auch dessen Ausprägungsform (z.B. McClelland, 1978b) (5. Ebene),

- verändert sich die Art zu denken von anfangs einfachem Entweder-Oder-Denken zu später größerer Multiperspektivität und Dialektik (z.B. Miller, 1994) (6. Ebene), - nimmt die Komplexität des Selbstbildes zu (z.B. Hauser, Jacobsen, Noam & Powers

(1983) und es finden sich in den Reflexionen über das eigene Leben zunehmend mehr Hinweise auf eigene Entwicklung im Sinne von Wachstum oder die Integra-tion neuer Perspektiven über sich selbst (z.B. Bauer, McAdams & Sakaeda, 2005) (7. Ebene).

Es scheint somit, dass Ich-Entwicklung einen moderierenden Einfluss auf viele System-ebenen hat. Da Kuhls PSI-Theorie ein Modell hierarchischer Steuerung ist, wäre das Ich-Entwicklungsmodell auf der siebten Systemebene anzusiedeln. Auch dort lassen sich Zu-sammenhänge zwischen zunehmender Ich-Entwicklung und den von Kuhl beschriebe-nen Funktiobeschriebe-nen des Ichs beziehungsweise Selbst finden. Ich-Entwicklung scheint den-noch nicht mit der siebten Systemebene von Kuhl identisch zu sein. Vielmehr liegt der Schluss nahe, dass das Niveau der Ich-Entwicklung ein guter Indikator dafür sein könnte, wie entwickelt Teile der siebten Systemebene sind. Wie die Studien von Blasi nahelegen (Blasi & Oresick, 1987; Blasi, 1988), ist die siebte Systemebene auf frühen Stufen der Ich-Entwicklung möglicherweise noch kaum vorhanden und auch die sechste Systemebene wenig ausgebildet. Vor allem ab den postkonventionellen Stufen der Ich-Entwicklung scheint zudem immer mehr ein Ausgleich zwischen dem zu erfolgen, was Kuhl als „Ich“

und „Selbst“ bezeichnet. Beispielsweise herrscht bis zur Eigenbestimmten Stufe (E6) überwiegend noch ein statisches und eher rationales Erleben („Ich“) vor, das sich mit

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den postkonventionellen Stufen immer mehr auch anderen Modi der Erfahrung („Selbst“) öffnet (z.B. Cook-Greuter, 2010). Die Forschung zu postkonventionellen Stufen der Ich-Entwicklung (E7 bis E10) zeigt zudem, dass damit immer mehr Selbstrelativierung stattfindet. Diese entspricht dem von Kuhl benannten zweiten Modus dieser Ebene (Selbstregulation, als Ergänzung zur Selbstkontrolle). Insofern könnte in zunehmender Ich-Entwicklung auch ein gesunder Ausgleich dieser beiden Modi der siebten Ebene liegen, wie er sich in den sowohl von Hy und Loevinger (1996, S. 7) als auch von Kuhl (2010, S.

388) als Ideal beschriebenen „selbstaktualisierenden Person“ nach Maslow oder der

„voll-funktionsfähigen“ Person nach Rogers zu zeigen scheint.