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2.1 Detaillierte Darstellung des Ich-Entwicklungsmodells von Loevinger .1 Das Ich – ein Definitionsversuch .1 Das Ich – ein Definitionsversuch

2.1.5 Ich-Entwicklung als Transformation

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3 . Der Bewusstseinsfokus ist bei frühen Stufen stärker auf externe Dinge und eigene Bedürfnisse gerichtet. In späteren Stufen ist dieser auch mehr auf interne Aspekte (Motive, Gefühle etc.) sowie Individualität und Entwicklung hin ausgerichtet.

4 . Der kognitive Stil entwickelt sich von sehr einfach und undifferenziert zu immer größerer konzeptioneller Komplexität, Multiperspektivität und Fähigkeit mit Wider-sprüchen umzugehen.

Der Begriff „Charakter“, scheint in der psychologischen Forschung ein etwas veralteter Begriff zu sein. Von Loevinger (1987a, S. 226) wurde dieser Bereich von Ich-Entwicklung auch öfter als „Impulskontrolle“ bezeichnet. Dieser Begriff ist aber irreführend, da er eher für die frühen Ich-Entwicklungsstufen zutrifft und nicht das Spektrum dessen abbil-det, was durch den Begriff „Charakter“ im Ich-Entwicklungsmodell gemeint ist. Neuer-dings greifen einige Psychologen den Begriff Charakter wieder auf. Ähnlich wie Loevin-ger verstehen sie diesen Begriff aber nicht wie früher als Synonym für Persönlichkeit ins-gesamt, sondern in einem engeren Sinne. Ein Beispiel dafür sind Peterson und Seligman (2004), die analog zum klinisch orientierten DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) ein Klassifikationsschema zu Charakterstärken entwickelten.

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Um den Unterschied zwischen einer qualitativen und stufenförmigen Entwicklung zu ei-nem „mehr desselben“, zu verdeutlichen, unterscheidet Cook-Greuter (2004) zwei unter-schiedliche Arten von Entwicklung: horizontale und vertikale Entwicklung. Ich-Entwicklung ist dabei eine Form von vertikaler Ich-Entwicklung, während horizontale Ent-wicklung eher Lernen bedeutet. Doch worin besteht dieser Unterschied (vgl. Binder, 2010)?

- Lernen: Dabei kommt es zur Aneignung von Wissen, weiteren Kompetenzen und neuen Erfahrungen. Greift man die alltagssprachliche Verwendung von Entwick-lung auf, sollte man eher von horizontaler EntwickEntwick-lung sprechen, denn es findet nur eine zusätzliche Aneignung neuer Konzepte statt. Die grundsätzliche Art und Weise, wie sich ein Mensch mit sich und der Welt auseinandersetzt, bleibt dage-gen unverändert.

- Entwicklung: Hierbei kommt es zu einer differenzierteren und integrierteren Sicht auf sich selbst und die Welt. Es findet also ein qualitativer Sprung statt (Transfor-mation zu einer späteren Entwicklungsstufe). Insofern kann man dies in Abgren-zung zum Alltagsverständnis als vertikale Entwicklung bezeichnen.

Die Abbildung 4 verdeutlicht diese Unterscheidung. Die Scheiben stehen für verschie-dene Stufen der Ich-Entwicklung. Die unterschiedlichen Größen der Scheiben veran-schaulichen, dass jede spätere Entwicklungsstufe qualitativ reifer als die vorherigen Stu-fen ist. Dies impliziert auch, dass mit fortschreitender Ich-Entwicklung immer mehr und anderes Lernen und damit Handeln möglich wird. Man könnte auch sagen, dass der in-nere Raum, den ein Mensch zur Verfügung hat, größer wird.

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Abb. 4: Entwicklungsrichtungen: Horizontal und vertikal

In der obigen Abbildung 4 ist ein gestrichelter Pfeil nach unten eingezeichnet. Damit soll das Phänomen der Regression verdeutlicht werden. Darunter ist ein Zurückfallen in eine frühere Stufe der Entwicklung zu verstehen, das in der Regel temporär, also zeitlich be-grenzt ist. Häufig ist einem Mensch seine Regression bewusst oder zumindest kann dieser Zustand bemerkt werden, wenn er vorüber ist. McCallum (2008) untersuchte das Phä-nomen der Regression intensiv mit Teilnehmern eines einwöchigen gruppendynami-schen Laboratoriums. Durch die sehr persönlichen Erfahrungen, die die unstrukturierten Gruppensituationen mit unbekannten (Mit-)Teilnehmern und dem bewussten Erzeugen von Konflikten bei den Teilnehmern hervorriefen, schien diese gruppendynamische Ver-anstaltung besonders geeignet, das Phänomen der Regression zu untersuchen. Es zeigte sich, dass Teilnehmer auf allen Stufen der Ich-Entwicklung Zustände der Regression erleb-ten. Je nach Ich-Entwicklungsstufe fiel die Regression allerdings unterschiedlich stark und unterschiedlich lange aus. Ebenso bemerkte McCallum, dass dieses Zurückfallen den Teilnehmern auf späteren Stufen der Ich-Entwicklung offensichtlich währenddessen reits bewusst wurde. Teilnehmer auf mittleren Stufen der Ich-Entwicklung hingegen be-merkten dies eher im Nachhinein. Das Phänomen der Regression steht allerdings nicht im Widerspruch zu einem stufenförmigen Entwicklungsmodell, wie Kegan, Lahey und Souvaine (1998) sehr anschaulich erläutern:

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Es mag wahr sein, dass wir Aspekte unseres Erfahrens gemäß eines Prinzips orga-nisieren, das inkonsistent mit unserer jetzigen, komplexesten Kapazität ist. Aber es ist auch wahr, dass wir diese Art zu fühlen nicht mögen. Die Art, wie wir denken, fühlt sich für uns nicht akzeptabel oder stimmig an; wir fühlen uns nicht wie wir selbst. Aber wer oder was ist für dieses Bewerten verantwortlich? … Wir fühlen uns unzufrieden, weil unsere jetzige, komplexeste Art des erwachsenen Organisierens [unserer Erfahrung] immer noch am Werk ist; in diesem Falle, indem es die ganze Erfahrung bewertet und es unangenehm findet, sogar bedauert, dass wir nicht in der Lage sind, unser vollstes Selbst ‚ins Spiel zu bringen‘.(S. 57, e.Ü)

Es handelt sich beim Ich-Entwicklungsmodell also um eine qualitative Veränderung von einer zur nächsten Stufe im Sinne vertikaler Entwicklung. Das, was von einer Entwick-lungsstufe zur nächsten passiert, bezeichnet Kegan (2000) als Transformation. Denn beim Übergang von einer Stufe der Entwicklung zur nächsten verändert sich die Struktur des-sen, wie eine Person sich selbst, andere und die Welt insgesamt interpretiert. Kegan spricht dabei vom Organisieren von Erfahrung, so dass jede Stufe ein System darstellt, mit dem ein Mensch Bedeutung für sich schafft (im Englischen „meaning making sys-tem“). Ähnlich wie Cook-Greuter (2004) unterscheidet Kegan zwischen zwei verschie-denen Arten von Veränderung, die er als Information und Transformation bezeichnet.

Abbildung 5 verdeutlicht diesen Unterschied anhand des Bildes zweier Behälter und der inhärenten Bedeutung der beiden Begriffe, wenn man diese in ihre Bestandteile zerlegt:

In-Formation und Trans-Formation.

Abb. 5: Information vs. Transformation

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Nach Kegan ist Lernen vor allem In-Formation. Diese kann man sich so vorstellen, dass immer mehr Themen und Aspekte in eine bestehende Form „gegossen“ werden. Die Form bleibt dabei allerdings unverändert. Insofern ist Information das, was Cook-Greuter als horizontale Entwicklung (beziehungsweise Lernen) bezeichnet. Bei Trans-Formation hingegen findet eine qualitative Umstrukturierung statt, das heißt die Form selbst (das, was jede Entwicklungsstufe ausmacht) wird transformiert. Der größere Behälter verdeut-licht diese neue Form, die entstanden ist und die nun in der Lage ist, die Bestandteile der früheren Form zu integrieren.

So einfach der Unterschied zwischen horizontaler Entwicklung und vertikaler Entwicklung beziehungsweise zwischen Information und Transformation zu verstehen sein mag, so schwierig ist es allerdings, diesen Unterschied zu diagnostizieren, also bei einer Person zuverlässig eine bestimmte Stufe der Ich-Entwicklung bestimmen zu können. Loevinger hat dazu für ihr Modell einen Satzergänzungstest (den Washington University Sentence Completion Test, kurz WUSCT) entwickelt, während Kegan für sein Modell ein spezielles Interviewformat (Subjekt-Objekt-Interview, kurz SOI) einsetzt. Der folgende Interviewaus-schnitt aus einer Studie von Kegan illustriert, wie eine Frau innerhalb ihrer Beziehung zu einer neuen Erkenntnis gekommen ist, die sie nun auch in ihr Handeln umsetzt (Kegan, Lahey & Souvaine, 1998):

Ich tue jetzt einfach einige der Dinge, die ich mag, selbst, anstatt sie nicht zu tun oder Randy dazu zu bewegen, sie mit mir zu unternehmen. Er selbst mag es lie-ber, zu Hause zu sitzen und Fernsehen zu schauen und ich war es gewohnt, bei ihm zu sitzen und nicht auszugehen. Aber jetzt habe ich verstanden, dass er gar nicht die Absicht hat, dies auch zu machen und dass er sich wirklich viel besser fühlt, wenn ich alleine in eine Kunstausstellung gehe. Denn dann fühlt er sich nicht, als würde er mir vorenthalten, zu gehen oder als ob er selbst gehen müsste.

Vorher war das eine richtige Belastung zwischen uns, weil wir nicht so viel ausgin-gen, wie ich wollte. Oder wir gingen und er mochte es eigentlich nicht, so dass ich mich schuldig fühlte, ihn überredet zu haben, mitzukommen. Ab und zu allei-ne auszugehen macht uns beide glücklicher und dadurch läuft es zwischen uns runder. (S. 49, e.Ü.)

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Die Frau spricht in diesem Ausschnitt über eine Veränderung im Verhältnis zu ihrem Mann. Offensichtlich hat sie etwas in Bezug auf ihre gegenseitige Beziehung gelernt und realisiert, dass sie nun anders handeln kann und dies auch umsetzt. Wäre die Frage des Allein-Ausgehens ein Beratungsanliegen der Frau gewesen, könnte man sagen, dass die Beratung erfolgreich war. Aber hat dabei tatsächlich auch Entwicklung (Transformation) stattgefunden? Ein qualitativer Sprung, der ihr auch bei weiteren Anliegen die geschil-derte Freiheit lässt – oder fand nur eine inhaltliche Veränderung (In-Formation) statt?

Eine Transformation hätte stattgefunden, wenn die Frau nun in der Lage wäre, das Erfül-len ihrer eigenen Wünsche unabhängig von den Empfindungen, Bewertungen und Wünschen ihres Mannes zu konstruieren. Dies würde bedeuten, dass die in diesem Auss-schnitt bei genauer Betrachtung noch deutlich werdende konformistische Grundstruktur ihres Ichs (sich selbst in Abhängigkeit von Anderen zu konstruieren) nicht mehr zum Aus-druck kommt. Dieser Unterschied zwischen einer rein verhaltensorientierten Betrachtung und einer Betrachtung, welche die dahinterstehende Organisation des Ichs mitberück-sichtigt, ist das, was eine entwicklungsorientierte Perspektive ausmacht.