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Die „Entdeckung“ und Entwicklung des Modells

2.1 Detaillierte Darstellung des Ich-Entwicklungsmodells von Loevinger .1 Das Ich – ein Definitionsversuch .1 Das Ich – ein Definitionsversuch

2.1.2 Die „Entdeckung“ und Entwicklung des Modells

Erstaunlich ist, dass das Modell der Ich-Entwicklung am Anfang aus keinem bewussten Forschungsprogramm entstand, sondern eher „nebenbei“ entdeckt wurde. Denn am Anfang stand keine Theorie, sondern reine Daten. So betonte Loevinger immer: „Unsere Konzeption ist durch unsere Daten entwickelt worden“ (1984a, S. 56, e.Ü.). Dieses Entde-cken und Entwickeln hatte allerdings viel mit Ihrer Art und Weise, mit Daten umzugehen, sowie ihrer Methodik der Instrumentenentwicklung zu tun. Loevinger (1993a, 1993b) ver-stand Theoriebildung als ausgewiesene Psychometrikerin immer als rekursiven Prozess.

Denn sie nutzte die von ihr erhobenen Daten nicht nur zum Testen, sondern auch zum Entdecken, Entwickeln, Modifizieren und Revidieren ihres Modells der Ich-Entwicklung (Loevinger, 1957, 1978). Dieser methodische Ansatz ermöglichte ihr letztlich, zu erken-nen, dass sie bei ihren frühen Forschungen offensichtlich auf einen im Hintergrund wir-kenden Aspekt, wie Ich-Entwicklung, gestoßen war. Und er ermöglichte die stetige Wei-terentwicklung des Konzepts, das im Laufe ihres Forschungsprogramms zahlreiche klei-nere und größere Veränderungen erfuhr (Loevinger & Cohn, 1998).

Anfang der sechziger Jahre arbeitete Loevinger zunächst in einem Forschungsprojekt zur Einstellung von Frauen zu Familienproblemen. Dazu konstruierte sie die sogenannte

„Family Problems Scale“ (FPS) (Loevinger, Sweet, Ossorio & LaPerriere, 1962). Die FPS be-stand anfangs aus insgesamt 213 Aussagen zu unterschiedlichsten familiären Problemsi-tuationen, die sich auf tägliche Schwierigkeiten als auch auf Schwierigkeiten über den gesamten Lebenszyklus hinweg bezogen. Zusätzlich beinhaltete die FPS Aussagen, mit denen gängige Theorien in Bezug auf Einstellungen zu Familie und damit zusammen-hängenden Persönlichkeitsaspekten abgedeckt wurden (Loevinger & Sweet, 1961). Die Aussagen der FPS waren jeweils als Gegensatzpaare vorgegeben, wobei beide Ant-wortvarianten sozial akzeptabel formuliert waren, um mögliche Abwehrreaktionen zu vermeiden (z.B. „Mit einem Kind, das seine Mutter hasst, stimmt etwas nicht.“ vs. „Die meisten Kinder haben Zeiten, in denen sie ihre Mutter hassen.“).

Bei der statistischen Auswertung zeigten sich keine der von den Forschern vermuteten Muster (z.B. Akzeptanz der weiblichen Rolle oder Hinweise auf psychosexuelle Phasen nach Erikson), sondern vor allem ein Cluster von Aussagen, die offensichtlich etwas wie die Eigenschaft „Straforientierung versus Erlaubnisorientierung“ erfassten.

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weise war dieses Cluster von Aussagen aber nicht eindeutig zu interpretieren, sondern es zeigten sich andere als von ihr vermutete Zusammenhänge. Beispielsweise stimmten vorwiegend die eher straforientierten Mütter der Aussage „Ein Vater sollte der beste Kumpel seines Sohnes sein“ zu (statt der gegenteiligen Aussage „Ein Vater sollte nicht versuchen, der beste Kumpel seines Sohnes zu sein“). Loevinger und ihr Forschungsteam folgten aber nicht dem verbreiteten methodischen Vorgehen, sich auf inhaltlich gut zu interpretierende Aussagen eines Clusters zu beschränken und schwer interpretierbare Aussagen zu eliminieren, um so zu einer homogenen Skala zu gelangen. Stattdessen ver-folgten sie genau diese vermeintlichen Widersprüche und versuchten die Gemeinsam-keiten, die sie in ihren Daten trotzdem fanden, zu beschreiben. Beispielsweise charakteri-sierten sie eine Frau, die eine hohe Ausprägung dieses Clusters hatte, wie folgt (Loevin-ger et al., 1962):

Sie hat eine strafende und kontrollierende Einstellung in Bezug auf viele Bereiche der Kindeserziehung; sie hat eine geringe Fähigkeit, das innere Erleben ihres Kin-des zu konzeptionalisieren; zugleich hat sie eine Sicht auf das Familienleben, die sowohl hierarchisch als auch gefühlvoll scheint. … Sie hat sie eine starre Konzep-tion der sozialen Rolle einer Frau; einiges Misstrauen gegenüber anderen Men-schen mit einer damit einhergehenden Ängstlichkeit; einen geordneten, plan-mäßigen Ansatz in ihrem täglichen Verhalten; und vielleicht einen etwas trüben Blick bezüglich der biologischen Funktion einer Frau. (S. 113, e.Ü.)

Beim Vergleich mit anderen Studien und Konzepten fiel Loevinger auf, dass diese Cha-rakterisierung hohe Ähnlichkeit mit dem im Berkeleykreis um Adorno entwickelten Kon-zept der „Autoritären Persönlichkeit“ aufwies (Adorno, Frenkel-Brunswik, Levinson & San-ford, 1950). Dies war umso erstaunlicher, weil die Forschung mit der FPS auf familiäre Probleme im häuslichen Umfeld ausgerichtet war, während die Forschung von Adorno politisch orientiert war. Zudem studierte Loevingers Team Mädchen und Frauen, wäh-rend bei Adornos Forschungen meist männliche Teilnehmer untersucht worden waren.

Es zeigte sich aber beispielsweise bei beiden Forschungen, dass autoritäre Personen kaum über die Fähigkeit verfügten, inneres Erleben auszudrücken. Aufgrund der gefun-denen Cluster und der Ähnlichkeiten zum Konzept der „Autoritären Persönlichkeit“ ging

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Loevinger nun davon aus, dass sich hinter dem erfassten Merkmal ein umfangreicherer Persönlichkeitsapekt verbarg als zunächst angenommen.

Auf dieser Grundlage entwickelte sie den Fragebogen zur „Authoritarian Family Ideolo-gy“ (AFI) (Ernhart & Loevinger, 1969), mit dem ihr Team weitere Forschungen unternahm.

Beim Vergleich mit klinischen Beobachtungen problembehafteter Mütter fielen dem Forscherteam Muster auf, die inhaltlich nicht in ihre bisherige Theorie passten. Denn ein Teil dieser Frauen wies eine Persönlichkeitsstruktur auf, die chaotisch und unstrukturiert schien, die ihre Impulse kaum kontrollieren konnten und sich Autoritäten eher verweiger-te. Daher waren diese Frauen nirgendwo auf dem Kontinuum entlang der beiden Pole

„autoritär-obrigkeitshörig“ vs. „demokratisch-flexibel“ einzuordnen. So lag die Vermu-tung nahe, dass sich die durch den AFI-Fragebogen gemessene Eigenschaft nicht linear verhält, sondern extremer Autoritarismus eher ein Mittelpunkt und nicht ein Endpunkt dieser Variable ist. Sie schien also nicht bipolar zu sein, sondern eine Sequenz von Mei-lensteinen, was ein Hinweis auf eine Entwicklungssequenz ist. „Diese Einsicht war ein Wendepunkt in meiner intellektuellen Geschichte, die mich von einer Psychometrikerin zu einer Entwicklungspsychologin machte, von einer Eigenschaftstheoretikerin zu einer Strukturalistin“ (Loevinger, 1978, S.7, e.Ü.).

Um diese Annahme zu überprüfen, wurde der AFI-Fragebogen in weiteren Studien mit größeren und unterschiedlichen Stichproben angewandt. In diesen war die ganze Bandbreite an Altersklassen, Erfahrungshintergründen im Umgang mit Kindern, religiösen Orientierungen und Ausbildungsabschlüssen abgedeckt. Bei den statistischen Auswer-tungen zeigten sich, wie bei einer Entwicklungsvariablen zu erwarten, signifikante Zu-sammenhänge mit Alter, Erfahrung und Ausbildungsabschluss (LaPerriere, 1962). Autori-tarismus verhielt sich in diesen Zusammenhängen nicht linear, sondern kurvilinear. Wenn man diese Variable beispielsweise zusammen mit der Variable Alter untersucht, steigt der Wert zunächst an, erreicht einen Höhepunkt (maximale Ausprägung von Autorita-rismus) und sinkt dann wieder ab. Eine Variable hingegen, die keine Meilensteinsequenz ist, verhält sich meist linear. Die folgende Abbildung 2 illustriert lineare und kurvilineare Beziehungen von Ich-Entwicklung anhand der Beispiele kognitiver Komplexität und Kon-formismus.

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Abb. 2: Lineare und kurvilineare Zusammenhänge am Beispiel von Ich-Entwicklung, kognitiver Komplexität und Konformismus

Loevinger hatte es, wie es schien, mit einem schwer greifbaren Syndrom zu tun, das eine Vielzahl von unterschiedlichen Aspekten umfasste, die so bisher nicht zusammen be-trachtet worden waren. Der bisher im Fokus stehende Aspekt „Autoritarismus“ deckte offensichtlich nur einen Teil der Variable ab, so dass der bisherige Begriff nicht mehr ge-eignet schien. Zugleich handelte es sich bei der mit dem AFI-Fragebogen gemessenen Variable um eine Meilensteinsequenz, die Zusammenhänge mit anderen Variablen aufwies und somit einen Entwicklungscharakter nahelegte. Aus diesen Gründen ent-schloss sich das Forschungsteam zu einer Umbenennung: „Es schien, dass kein geringe-rer Begriff als ‚Ich-Entwicklung‘ diese Variable [adäquat] umfasste“ (Loevinger, 1978, S.

11, e.Ü). Das war umso mehr gerechtfertigt, da die gefundenen Aspekte in ganz unter-schiedlichen Kontexten vollkommen unabhängig vom ursprünglich erforschten Famili-enkontext auftraten. Offensichtlich hatte Loevingers offen erkundendes und immer wie-der Wiwie-dersprüchen nachgehendes Vorgehen diese Entdeckung erst ermöglicht:

Die kurvilineare Beziehung zwischen den Meilensteinen und dem darunter lie-genden Entwicklungskontinuum hat eine große praktische Konsequenz. Ein Psy-chologe kann intensiv Verhaltenstypen studieren, die eigentlich Manifestationen von Ich-Entwicklung sind und endlose Jahre rigoros quantitativ vorgehen, ohne auch nur einen Schimmer der Variable Ich-Entwicklung zu bekommen. (Loevin-ger, 1973, S. 16, e.Ü.).

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Um diese ihnen noch diffus erscheinende Variable Ich-Entwicklung besser zu verstehen, entwickelte das Forscherteam um Loevinger einen ersten Satzergänzungstest (SCT), den es gleichzeitig mit dem AFI-Fragebogen einsetzte. Zu dieser Zeit wurden sie auf eine Veröffentlichung von Sullivan, Grant und Grant (1957) aufmerksam, die ebenfalls mit of-fenen Satzergänzungen an einem Konzept zur interpersonellen Reife arbeiteten. Dieses Konzept war unabhängig von Loevingers Team mit Daten von männlichen Delinquen-ten entstanden, wies jedoch erstaunliche Parallelen auf. So lieferDelinquen-ten Sullivan et al. eine erste Makrovalidierung des Modells der Ich-Entwicklung. Aus dem Konzept übernahm Loevinger dessen vier Stufen und deren Benennung (Impulsive, Conformist, Conscienti-ous und AutonomConscienti-ous Stage) und begann darauf aufbauend, Ich-Entwicklung weiter zu konzeptionalisieren. Als Vorteil erwies sich, dass Sullivan et al. in ihrer Studie anhand klini-scher Interviews eine Reihe von Indikatoren zur Klassifizierung ihrer vier Entwicklungsstu-fen herausgearbeitet hatten, die zur Beurteilung der einzelnen Satzergänzungen heran-gezogen werden konnten.

Bei der Anwendung ihres neuen Instruments in der Praxis merkten die mittlerweile mit der Entwicklungssequenz und deren Zeichen gut vertrauten Scorer jedoch bald, dass zwi-schen der Impulsiven und der Konformistizwi-schen Stufe eine Stufe zu fehlen schien: Immer wieder fielen ihnen Personen auf, die weniger impulsiv als Personen schienen, die der ersten Stufe zugeordnet waren, die aber auch nicht eindeutig der zweiten Stufe zuzu-ordnen waren. Zwar orientierten sich diese vorwiegend an eigenen kurzfristigen Vortei-len, hatten jedoch keine Regeln verinnerlicht und schienen sich eher selbst zu schützen.

Diese bisher fehlende Stufe entsprach hingegen dem Delta-Code, der in Isaacs’ Theorie zur Beziehungsfähigkeit (1956) beschrieben war.

Auf ähnliche Weise verglich Loevinger ihr Modell mit weiteren Konzepten, in denen ver-gleichbare Entwicklungsaspekte unabhängig davon untersucht worden waren. Bei-spielsweise wies Pecks Modell der Charakterentwicklung (Peck & Havingshurst, 1960) vie-le Paralvie-levie-len zu ihrem Konzept auf. Dies führte zur ersten Veröffentlichung Loevingers, in der sie ihr Konzept der Ich-Entwicklung darstellte und begründete (1966, deutsch 1977).

Für Loevinger war dies aber nur der Anfang der weiteren Erforschung von Ich-Entwicklung. Drei Jahrzehnte lang revidierte sie durch neue Daten immer wieder nicht haltbare Annahmen und verfeinerte den Satzergänzungstest sowie seine

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kriterien immer weiter. Dann veröffentlichte sie ein erstes umfassendes Manual zur Aus-wertung (Loevinger & Wessler, 1970; Loevinger, Wessler & Redmore, 1970) und weitere sechs Jahre später ein Werk, in dem sie ihr Konzept der Ich-Entwicklung umfassend dar-legte (Loevinger, 1976). Auch damit war ihr intensiver Forschungsprozess allerdings noch lange nicht abgeschlossen. Loevinger selbst beschrieb ihr Selbstverständnis einmal wie folgt: „Um eine Wissenschaftlerin zu sein, reicht es nicht aus, eine Theorie und Daten zu haben und auch nicht, eine gute Theorie und einwandfreie Daten zu haben. Das Kern-stück des wissenschaftlichen Ansatzes ist eine schöpferische Kopplung zwischen diesen, also ein systematisches Programm zum Korrigieren, Revidieren und Erweitern der theore-tischen Konzeptionen in Resonanz auf empirische Studien“ (Loevinger, 1978, S. 2, e.Ü.). In den folgenden 20 Jahren verfolgten Loevinger und ihr Team ein solches Programm zur Erforschung von Ich-Entwicklung weiter. Bald schon überprüften sie das ursprünglich nur anhand von Frauen erforschte Konstrukt für beide Geschlechter und legten dazu ein weiteres Manual vor (Redmore, Loevinger & Tamashiro, 1978). Ebenfalls nahm Loevinger umfangreiche Validierungsstudien vor (z.B. Loevinger, 1979a), die zu verbesserten Test-versionen führten (Loevinger, 1985b). Im Laufe der nächsten 17 Jahre revidierte sie auf-grund ihrer weiteren Forschung einen Teil ihrer Stufenfolge im präkonventionellen Be-reich und nummerierte ihre Stufenfolge einheitlich. Dies mündete in ein durch neuere Stichproben modifiziertes Auswertungssystem (Hy & Loevinger, 1996). Mit 84 Jahren ver-öffentlichte sie ein Resümé mit einem Überblick ihrer etwa 40-jährigen Forschungsarbeit zu Ich-Entwicklung unter dem bezeichnenden Titel „Bekenntnisse einer Bilderstürmerin:

Am Rande zu Hause“ (Loevinger, 2002).