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5. Gerichtliche Entscheidungen

5.4.9 Sanktionen und Verfahrensdaten

5.4.9.3 Strafschärfende Wirkung des GGV ?

Die politische Einstellung der Strafjustiz in Ulm kann man daran messen, ob die-ses Gesetz strikt und unnachsichtig im Sinne des Regimes angewendet worden ist um für die Volksgemeinschaft unnützes Leben auszumerzen, oder ob dieses Instrument nach den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit, also angemessen, eingesetzt wurde. Gleichzeitig spiegelt das Anklageverhalten der Staatsanwalt-schaft deren Einstellung als folgsame Parteisoldaten und entschiedene Verfechter der Parteiideologie oder als kritische, abwägende Juristen wider. Dazu wurden die einschlägigen Verfahren danach ausgewertet, in welchem Umfang die An-wendung des gefährlichen Gewohnheitsverbrechergesetzes vom Gericht abgelehnt worden ist und ob, bzw. wie sich dies auf die Höhe der Strafsanktionen ausgewirkt hat. Um festzustellen, ob bei Anwendung des Gesetzes höhere Stra-fen ausgesprochen worden sind als bei Ablehnung der Vorschrift, wurden die durchschnittlichen Sanktionen beider Gruppen miteinander verglichen. Dabei darf man die Strafhöhe nicht mit heutigen Verhältnissen vergleichen, denn 18

407 Hitler begnügte sich nicht damit, diese „Asozialen“ durch Arbeit zu vernichten, sondern veranlasste, dass diese in der neu erstellten Strafdivision 999 zum Einsatz an die Front kämen mit der Begründung, „ Es soll sich kein Gewohnheitsverbrecher einbilden, dass er durch ein neues Verbrechen über diesen Krieg hinweggerettet wird. Wir werden dafür sorgen, dass nicht nur der Anständige an der Front stirbt, sondern dass der Verbrecher

… zuhause unter keinen Umständen diese Zeit überleben wird“ (Blees, S. 4f).

408 Müller, Christian, S. 61.

ten Zuchthaus 409 für den Diebstahl von einem Paar Schuhen im Wert von 28.- RM wirken überzogen, denn heute sind wir daran gewöhnt, dass ein Massende-likt wie Warenhausdiebstahl für 50.- € automatisch ohne Sanktion eingestellt wird. Damals war ein solcher Artikel nicht nur unerschwinglich sondern über-haupt nicht verfügbar.

Bei den 56 angeklagten Personen wurde in 17 Fällen (30,4 %) die Anwen-dung des Gesetzes gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher abgelehnt, bei 38 Angeklagten (67,9 %) bejaht, in einem Fall (1,8 %) war nur über einen Antrag auf nachträgliche Sicherungsverwahrung zu entscheiden. Die verhängten Sankti-onen stellen sich wie folgt dar:

Durchschnittliches Strafmaß bei Anwendung bzw. Ablehnung des GGV

Gefängnis Zuchth. Ehre Pol.- Haft U-Haft Verf. D. VV

mit GGV 14,3 39,1 51,9 9,3 100,5 49,7 12,6

o. GGV 20,9 33,8 44,7 3,4 88,8 35,8 15,4

Differenz +31,6% -13,5% -13,9% -63,4% -11,6% -28,0% +17,2%

Auf den ersten Blick wird ein Unterschied in der Strafzumessung deutlich, alle ausgewerteten Daten – mit Ausnahme der Gefängnisstrafen – zeigen eine für die Angeklagten günstigere Behandlung bei Normablehnung auf. Die deutlich hö-here Gefängnisstrafe bei Verneinung des GGV ist durch zwei Verfahren bedingt:

(1) Eine mit 29 Vorstrafen belastete Serienbetrügerin konnte 1943 nach damaliger Rechtsauffassung Zuchthaus und Sicherungsverwahrung nicht mehr entgehen, das Gericht sah von beidem mit der Begründung ab, durch eine lange Strafe könne sie gebessert werden und verhängte 5 Jahre Gefängnis.

(2) Ein 10 -mal vorbestrafter, verwitweter Täter hatte Hühner und Fahrrä-der gestohlen, das Gericht wollte ihm Sicherungsverwahrung und Zuchthaus ersparen durch 3 Jahre Gefängnis.

Ohne diese beiden Urteile läge der Durchschnitt bei 13,1 Monaten Gefäng-nis, also unter dem Wert von Verurteilungen nach GGV. Ein Trend zu schärferen Strafen ist damit nicht anzunehmen, zumal die Zuchthausstrafen wie Ehrentzug um jeweils 13 % geringer ausfielen. Auch das sonstige Umfeld gestaltete sich

409 LG Ulm U. v. 24.3.42 a.a.O. Bü. 6546.

freundlicher, Polizei- sowie U-Haft fielen kürzer aus, ebenso die um 28 % kürzere Verfahrensdauer. Die höhere Anzahl der Vorstrafen fiel demgegenüber für Beja-hung oder Ablehnung des GGV nicht ins Gewicht, bei Verneinung der Norm liegen sie um 17 % höher als bei Bejahung des Tatbestandes.

Die Strafarten unterschieden sich ebenfalls bei Fällen mit Bejahung bzw.

Ablehnung des GGV: Bei Sachverhalten mit Anwendung dieser Norm wurde nur in 7,7 % der Fälle eine Gefängnisstrafe, aber bei 76,9 % eine Zuchthausstrafe verhängt, bei der Gruppe ohne Anwendung des GGV betrug der Anteil an Ge-fängnis 52,9 %, an Zuchthaus nur 47,1 %, die zuletzt genannte Gruppe wurde besser gestellt.

Die häufige Ablehnung des GGV und mildere Bestrafung aus der Grund-norm widersprechen deutlich allen offiziellen Vorgaben und Anweisungen für eine harte Strafverfolgung mit dem Ziel, unnütze Volksgenossen durch lange Strafen und Sicherungsverwahrung410 aus der Gemeinschaft zu entfernen. Der Grund da-für liegt in der Ablehnung des Nationalsozialismus durch die Kammermitglieder.

Sie waren nicht bereit, sich konform und angepasst dem System zu unterwerfen, und widersetzten sich auch den geforderten vernichtenden Strafen.

Auch hier widersprachen die Urteilsgründe nicht der Parteiideologie, viel-mehr wurde festgestellt, der Täter sei arbeitsscheu, ein tief verwurzelter Hang zur Kriminalität sei vorhanden – dann wurde aber nicht die vorgegebene Schluss-folgerung zum Gewohnheitsverbrecher und zur Zuchthausstrafe gezogen, sondern in richterlicher Unabhängigkeit festgestellt, das Gericht sei der Überzeu-gung, durch eine lange Strafe bessere er sich – um trotz 54 Vorstrafen nur 4 Monate Gefängnis411, oder bei 20 Vorstrafen 5 Jahre Gefängnis412 festzusetzen.

Durch diese Methode wurden unmenschlich harte Sanktionen – Sicherungsver-wahrung mit anschließendem KZ - bei Bagatelldelikten, aber auch bei schwerwiegenderen Verstößen, ausgefiltert, die Täter nicht als wertlos vernich-tet, sondern ihnen eine Überlebenschance gewährt.

Selbst bei Ablehnung des GGV und Verurteilung aus dem Grunddelikt entgingen die Täter in schwerwiegenden Fällen zwar der Sicherungsverwahrung, nicht jedoch hohen Gefängnisstrafen in Höhe von 3 bis 5 Jahren. In diesen Fällen

410 Die selbst wegen geringfügiger Verstöße bis in die 80-er Jahre hinein vollzogen wurde.

411 LG Ulm KLs 21/43, U. v. 29.6.43, StA Ludwigsburg E 352, Bü. 6660.

412 LG Ulm KLs 12/43, U. v. 6.4.43, StA Ludwigsburg, E 352, Bü. 6651.

griff die Mindeststrafe von zwei Jahren Zuchthaus für Rückfalldiebstahl (§ 244 Abs. 1 StGB) und Rückfallbetrugs mit Androhung von Zuchthausstrafe bis zu 10 Jahren (§264 Abs. 1 StGB). So kam es auch bei Ablehnung des GGV wegen 14 Delikten des Rückfalldiebstahls zu einer Verurteilung von 4 Jahren Zuchthaus413. Zwei weitere Verfahren, in denen die Annahme eines gefährlichen Gewohnheits-verbrechers verneint worden waren, zeigt, dass die Strafschärfung der dann zutreffenden Rückfallnormen zu hohen Einsatz- und Gesamtstrafen führten: We-gen 6 Verbrechens des Diebstahls im Rückfall wurde eine Gesamtstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten Zuchthaus ausgeworfen414, in einem weiteren Fall wegen 5 Verbrechen des Betrugs i.R. aus der Grundnorm 2 Jahre Zuchthaus ver-hängt415. Der Vorstellung des Regimes, durch extrem hohe Strafen könne man die Kriminalität ausrotten, war nicht vollständig zu entkommen.

5.4.10 EINZELFÄLLE

Die politisch erhoffte abschreckende Straferhöhung durch diese Norm ist für Ulm nicht festzustellen, ob mit oder ohne Anwendung des GGV wurden vergleichbar hohe Sanktionen verhängt: Der zur Tatzeit 32-jährige verh. Hilfsarbeiter Hirmer wurde 1942 wegen 6 Verbrechens des Rückfalldiebstahls u.a. zu 3 Jahren 6 Mo-naten Zuchthaus verurteilt, die bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von 5 Jahren aberkannt416. Er wies 23 Vorstrafen auf, die Rückfallvoraussetzungen la-gen vor. Eine Sicherungsverwahrung wurde mit folla-gender Begründung abgelehnt: „Die hier zur Aburteilungen stehenden strafbaren Handlungen kenn-zeichnen den Angeklagten, der in den Akten als haltloser Psychopath geschildert wird, nicht nur als arbeitsscheuen Menschen, sondern auch als gewissenlosen Verbrecher mit einem offenbar eingewurzelten Hang zur Begehung von Eigen-tumsdelikten. Die danach zu prüfende Frage, ob es sich bei ihm um einen

„gefährlichen“ Gewohnheitsverbrecher handle ... und deshalb gem. § 20 a Abs. 2 in Verb. mit § 42 e StGB Sicherungsverwahrung anzuordnen sei, wurde jedoch

413 LG Ulm KLs 17-18/42U. v 3.3.1942, a. a. O. Bü 7786.

414 LG Ulm KLs 23/41U. v. 24.7.41, a.a.O. Bü 6475.

415 LG Ulm, KLs 10/42U. v. 10.2.42, a.a.O. Bü 6533.

416 LG Ulm KLs 23/41, U. v. 24.7.1941, , a.a.O., Bü 6475.

verneint, weil der Angeklagte seit 1931 nicht mehr wegen Diebstahls, seit 1934 überhaupt nicht zur Aburteilung gelangt ist, er außerdem die volle Strenge des Gesetzes noch nie zu spüren bekommen hat, sodass damit zu rechnen ist, dass eine längere Freiheitsstrafe ihren erzieherischen Eindruck nicht verfehlen und den Angeklagten künftig von der Begehung strafbarer Handlungen abhalten werde.“

Die günstige Sozialprognose wurde widerlegt: Am 21.6.1944 entwich der Verur-teilte. Im Oktober 1952 fragte eine auswärtige Staatsanwaltschaft nach, wann diese Strafe verbüßt worden sei, bei ihr sei ein neues Strafverfahren anhängig.

Der 21-jährige Hilfsarbeiter Kalbrecht (4 Vorstrafen) wurde hingegen 1942 als gefährlicher Gewohnheitsverbrecher wegen 14 Verbrechen des Rückfalldieb-stahls zu 4 Jahren Zuchthaus verurteilt und auf Sicherungsverwahrung erkannt.417 Er hatte bei der Reichsbahn Lebensmittel, Radios u.a. entwendet.

Seine Zurechnungsfähigkeit wurde bejaht, obwohl er im Jahre 1936 wegen erbli-chen Schwachsinns unfruchtbar gemacht worden war. Der Sachverständige führte aus, eine gewisse Willensschwäche sei durch die Unfruchtbarmachung ver-stärkt worden, eine erhebliche Verminderung der Zurechnungsfähigkeit i. S. des

§ 51 Abs. 2 StGB liege nicht vor. Der Verurteilte wurde Ende 1942 in polizeiliche Vorbeugehaft in das KZ Neuengamme/ Hamburg überführt und verstarb dort am 5.2.1943 an Bauchfellentzündung. Es überrascht die im Vergleich zum vorherge-henden Fall harte Verurteilung, die wohl durch den persönlichen Eindruck des Täters in der Hauptverhandlung mit bedingt ist.

5.4.11 ZUSAMMENFASSUNG

Das GGV sollte der Strafjustiz eine wirksame Waffe zur Eliminierung asozialer, rückfällig gewordener Personen an die Hand geben. Betroffen von dieser Norm waren zu 80 % Angehörige der Unterschicht. Gefängnis wurde in 12 Fällen (21,4

%), Zuchthaus in 67,9 % der Verfahren verhängt, in 6 Fällen wurde Sicherungs-verwahrung nachträglich angeordnet. Die bürgerlichen Ehrenrechte wurden 41 Personen (73,2 %) entzogen.

Die Anwendung des GGV lehnte das Gericht in 17 Fällen (30,4 %) ab, im gleichen Umfang die Sicherungsverwahrung. Begründet wurde dies zumeist da-mit, die Täter würden nicht dem Tätertyp eines gefährlichen

412 LG Ulm KLs 17-18/41, U. v. 3.3.1942, a.a.O., Bü. 7786

Gewohnheitsverbrechers entsprechen, da nach Verbüßung einer ausreichend lan-gen Haft eine Gewöhnung an regelmäßige Arbeit eingetreten sei und eine Gefahr für die Gemeinschaft nicht mehr bestehen werde.

Die Zurückhaltung sowohl bei der Bejahung der Norm als auch bei Verhän-gung von Sicherungsverwahrung zeigt die grundsätzliche innere Ablehnung der Strafkammern gegenüber dem nationalsozialistischen „Feindstrafrecht“, mit wel-chem jeder Asoziale und Außenseiter eliminiert werden sollte.

5.5 KRIEGSSONDERSTRAFRECHTSVERFAHREN