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Souveränität quantitativ als Summe bestimmter Machtbefugnisse

Kapitel 2. Souveränitätsrelevante Aspekte in Bezug auf die Integrationsformen. Der

A. Souveränitätsbegriff im Bezug auf die Integration allgemein

I. Quantitative und qualitative Theorien der Souveränität

1. Souveränität quantitativ als Summe bestimmter Machtbefugnisse

Der quantitative Begriff fasst die Souveränität als einen Satz bestimmter Komponenten, be-stimmter Machtbefugnisse.

Es werden in der Rechtswissenschaft verschiedene Machtbefugnisse genannt als dem Staat eigene und die souveräne Gewalt konstituierende. Als Beispiele sind hier die klassischen Auffassungen von Aquin und Grotious zu nennen. Im Hinblick auf die internen Aspekte nennt Thomas von Aquin117 die Befugnis zur Rechtsetzung, zur Erhebung von Abgaben zum Zweck der Förderung des bonum commune, die Bestrafung von Kriminellen

115 Schelenkova, N.B., Ewropejskaja Integrazija: politika i prawo (Die Europäische Integration: Politik und Recht). Moskau 2003. S. 337

116 Dazu: Bodin, Jean, Six livres de la Republique, 157; Jellinek, G., Allgemeine Staatslehre; Schmitt, C., Politische Theologie. 1934; Kelsen, H., Allgemeine Staatslehre. 1966

117 Dazu in: Kleffens, Eelco N. van, Souverenity in International Law, in: RdC 82 (1953 I). S. 5

und die Kriegserklärung als die wichtigsten Attribute des souveränen Staates. Nach außen haben die Staaten Anspruch auf Schutz ihrer natürlichen Rechte. Das Recht auf Kriegserklä-rung galt als Ausdruck souveräner Macht im klassischen Völkerrecht, z.B.Grotius.118 Die le-gislative Kompetenz ist die wichtigste laut Bodin.119 Der russische Wissenschaftler Malinovs-kij nennt die Fragen des Krieges und Friedens als die am bedeutendsten für einen Staat.120 Die wesentlichen Rechte und Pflichten eines Staates seien durch die Natur des Staates und die Natur der Gesellschaft bestimmt: Je mehr sich die Gesellschaft entwickelt, desto breiter und umfangreicher werde der Inhalt der Rechte, sie seien mit der Souveränität verbunden, so Lu-kaschuk.121

In der Verfassung der Russischen Föderation werden folgende Merkmale der staatlichen Souveränität festgelegt: Unversehrtheit der Grenzen und territoriale Einheit; die Einheit des Wirtschaftsraums, des Finanz-, Banken- und Währungssystems; einheitliche Armee, das Recht auf die Verteidigung der eigenen Souveränität und der eigenen Grenzen und der Rechte der Bürger; das Recht auf die Verteidigung eigener Interessen außerhalb des Staates; Außen-politik, Staatsmonopol auf die Verwaltung wichtigster Wirtschafts- und Industriegebiete, das Recht auf Naturressourcen u. a. (Art. 4, 15, 71, 74, 75 u. a. der Verfassung der Russischen Föderation).122

Im Kontext der Integrationsproblematik scheint die wichtigste Frage zu sein, welche der souveränen staatlichen Kompetenzen ohne Souveränitätsverlust auf die Ebene der völker-rechtlichen Regulierung übertragen werden können. Im heutigen Völkerrecht kann prinzipiell jeder Gegenstand einer völkerrechtlichen Regelung unterworfen werden, so Müller-Wewel,123 ohne dass dadurch die Souveränität der beteiligten Staaten beeinträchtigt würde. Das bedeute-te umgekehrt, dass es keine bestimmbedeute-ten einzelnen Rechbedeute-te oder Befugnisse gebe, über die ein Staat verfügen müsse, um als souverän zu gelten. Es gebe noch andere Souveränitätsattribute, wie etwa die Behandlung der eigenen Staatsangehörigen oder die Währungshoheit.

Das Problem der Souveränitätsattribute ist mit der Vermehrung der Zahl Internationaler Organisationen aufgetreten, die als sekundäre Subjekte des Völkerrechts bestimmte Machtbe-fugnisse übernommen haben. In den letzten Jahrzehnten sei nicht nur die Zahl Internationaler

118 Dazu: Grotius, H., Pravo wojny i mira (De jure belli ac pacis). Moskau 1956

119 Bodin, Les Six Livres, Band 1. 1986. S. 10

120 Malinovskij, V.F., Rassuzdenije o mire i wojne (Reflektion über Frieden und Krieg). 1798

121 Lukaschuk, I.I., Mezdunarodnoje prawo. Obschaja tchastj (Das Völkerrecht. Allgemeiner Teil). Moskau 1997. S. 294f

122 Verfassung der Russischen Föderation 1993

123 Müller-Wewel, A., Souveränitätskonzepte im geltenden Völkerrecht. 2003. S. 212ff

Organisationen, sondern auch ihre Rolle, insbesondere in der rechtlichen Regulierung interna-tionaler Beziehungen, gewachsen. Ihre Funktionen seien wesentlich breiter geworden, so Ta-lalaev.124 Damit entstand das Problem der völkerrechtlichen Rechtsstellung von Organisa-tionen im Vergleich zu Staaten und die Frage, ob eine Gesamtheit der Machtbefugnisse gleich Souveränität bedeutet, da bestimmte Machtbefugnisse substantiell für die Völkerrechtsun-mittelbarkeit und die völkerrechtliche Rechtspersönlichkeit sind. Wie es auch die russischen Autoren anerkennen, macht die Entwicklung der Internationalen Organisationen im 20. Jahr-hundert sichtbar, dass eine klare Grenze zwischen der Zuständigkeit einer Organisation und den staatlichen souveränen Kompetenzen nicht immer gezogen werden kann. Es ist möglich, die Internationalen Organisationen nach dem Kriterium des Verhältnisses zwischen der Kom-petenz der Organisation und der Souveränität ihrer Mitgliedstaaten einzuordnen, so Kapus-tin.125 Man kann zwischen Organisationen der Zusammenarbeit und Organisationen der In-tegration unterscheiden. In den meisten Organisationen behalten die Mitgliedstaaten ihre sou-veränen Rechte der Internationalen Organisation gegenüber; in manchen Organisationen über-tragen die Mitgliedstaaten ihre souveränen Rechte an die Organisation, um eine integrative Fortentwicklung zwischen ihnen zu ermöglichen.

Die Organisationen der Zusammenarbeit gehören zu den klassischen Internationalen Organisationen, deren Zuständigkeit sich nicht auf die Bereiche der staatlichen Kompetenz erstreckt, sondern die Bereiche der internationalen Zusammenarbeit regelt. Im Gegensatz dazu sind die Organisationen der Integration mit Kompetenzen ausgestattet, die sie in die Lage versetzen, ehemals staatliche Funktionen ausüben.126 Die Schwierigkeit liegt darin, dass es keine eindeutige Definition dafür gibt, welche Funktionen einem souveränen Staat eigen sind und was eine Übertragung der Hoheitsrechte bedeutet, d.h. ob eine Übertragung der Ho-heitsrechte einen Verlust dieses Rechtes seitens des Staates bedeutet oder ob der Staat formal sein Recht behält, es aber nicht ausüben kann. Dazu gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen.

Sowohl die substantielle oder faktische als auch die formale Betrachtungsweise der übertragenen Hoheitsrechte finden in der russischen Doktrin auch ihre Aufnahme. Diese

124 Talaev, A.N., Prawo mezdunarodnyh dogovorov. Dogowory s utchastiem mezdunarodnah organisazij (Das Recht internationaler Verträge. Die Verträge mit der Teilnahme Internationaler Organisationen). Moskau 1989. S. 50f

125 Kapustin, A.J,. Ponyatie, predmet, istochniki prawa mezdunarodnyh organisazij (Der Begriff, der Gegenstand, die Quellen und die Subjekte des Rechtes der Internationalen Organisationen) in: Galenskaja, L. N. und Entin, M. L.(Hrsg.), Lekzii po aktualnym problemam mezdunarodnogo i evropejskogo prawa (Vor-lesungen zu den aktuellen Problemen des Völker- und Europarechtes). Sankt- Petersburg 2004. S. 145 ff

126 Vgl. Zum Begriff der Supranationalität Oppermann, Th.Europarecht. München. 1991. Rdnr.390ff. Und 75ff.

Arbeit versucht die Diskussion der russischen Autoren vergleichend mit den westlichen Mei-nungen darzustellen. Es ist wichtig, die theoretischen Untersuchungen auf Grund der fak-tischen Entwicklung zu prüfen und die integrative Entwicklung systematisch zu behandeln.

Die Diskussion zwischen den faktischen und normativen Perspektiven der Integration ist besonderes aktuell in derer Forschung supranationaler Organisationen, die bekanntlich etliche staatliche Aufgaben erfüllen. Das Vorhandensein bestimmter Rechte oder Machtbefugnisse macht eine Internationale Organisation zum völkerrechtlichen Subjekt, mittels dieser Rechte wird die Völkerrechtssubjektivität verwirklicht. Dazu gehören das Recht zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge mit Staaten und anderen Internationalen Organisationen, das Recht auf Immunität und Privilegien und auf diplomatische Vertretung sowie das Recht, ein Subjekt der völkerrechtlichen Verantwortung zu sein, so Talalaev.127 Obwohl die meisten dieser Rechte auch zum Kern staatlicher Rechtspersönlichkeit gehören, unterscheidet sich die Rechtspersönlichkeit einer Internationalen Organisation wesentlich von der Rechtspersönlichkeit der Staaten. Die internationale vertragliche Rechtsfähigkeit der Organisationen sei speziell und durch den Gründungsvertrag bestimmt.128

ii) Völkerrechtsunmittelbarkeit als souveräne Qualität

Es ist der Frage nachzugehen, ob die völkerrechtliche Rechtspersönlichkeit und die Souverä-nität inhaltlich aus der gleichen Summe von Machtbefugnissen zusammengesetzt sind oder ob Souveränität doch noch eine entscheidende qualitative Komponente in sich trägt. Diese Frage ist im Kontext des völkerrechtlichen Systems zu erforschen und muss unter dem folgenden Gesichtspunkt betrachtet werden: Inwieweit ist die Souveränität ein notwendiger Bestandteil der völkerrechtlichen Rechtsordnung. Diese Frage ist in soweit wichtig, weil es Internationale bzw. supranationale Organisationen gibt, die über das gleiche Maß der Macht-befugnisse verfügen wie Staaten. Wenn die Gesamtheit bestimmter MachtMacht-befugnisse gleich Souveränität bedeutet, so müssen die Internationalen bzw. supranationalen Organisationen auch als souverän anerkannt werden. Wenn aber zusätzlich eine qualitative Dimension

not-127 Talalaev, A.N., Prawo mezdunarodnyh dogoworov. Dogowory s utchastiem mezdunarodnah organisazij (Das Recht internationaler Verträge. Die Verträge mit der Teilnahme Internationaler Organisationen), Moskau.1989. S. 50F und 59

128 Talalaev, A.N., Ibid. Prawo mezdunarodnyh dogoworov. Dogowory s utchastiem mezdunarodnah organisazij S. 61

wendig ist, oder anders gesagt – wenn Souveränität nicht bloß aus der Gesamtheit der Macht-befugnisse besteht, sondern auch eine Basis für solche MachtMacht-befugnisse darstellt, dann kann man auch die supranationalen Organisationen mit dem weitesten Kompetenzumfang nicht als souverän anerkennen.

Nach der Auffassung von Levin muss man die Souveränität in erster Linie nicht als einen bestimmten Satz von Befugnissen behandeln, sondern – was viel entscheidender ist – als bestimmten Charakter oder als die Qualität dieser Befugnisse.129 Das Wesentliche im Sou-veränitätsbegriff ist die Machtfülle und Unabhängigkeit in der Durchführung der Rechte. Bei einer solcher Auffassung des Souveränitätsbegriffs wird klar, dass die Internationalen Organi-sationen keine Machtfülle und Unabhängigkeit in der Verwirklichung der an sie übertragenen Rechte besitzen und insofern nicht als souverän betrachtet werden dürfen. Die Besonderheit Internationaler Organisationen als Subjekte des Völkerrechts liegt in ihrem sekundären Charakter: Die Internationalen Organisationen werden von den Staaten gegründet und haben insofern keinen souveränen Charakter, sondern werden von den Staaten mit einem bestimm-ten Umfang an Kompebestimm-tenzen ausgestattet. Die klassischen Internationalen Organisationen ge-hören ausschließlich der völkerrechtlichen Rechtsordnung an, sie haben keine innere Rechts-ordnung im klassischen Sinne. Die supranationalen Organisationen wie die Europäische Ge-meinschaft stellen eine weitere Integrationsstufe dar, sind aber vom völkerrechtlichen Ur-sprung her vertraglich bestimmt. Die Gegenseitigkeit als grundlegendes Prinzip der Integrati-on spielt eine entscheidende Rolle bei allen IntegratiIntegrati-onsformen: Gleiche Rechte und Pflichten der Mitgliedstaaten eines völkerrechtlichen Vertrages gewährleisten ihre Souveränität. Die Teilnahme an einer Internationalen Organisation erfolgt auf einer gegenseitigen Basis. Die su-pranationale Organisation als sekundäres Subjekt des Völkerrechtes hat wesentlich mehr Kompetenzen als eine Internationale Organisation, aber die Mitgliedstaaten übertragen ihre Rechte auch auf einer gegenseitigen Basis. Dieses Prinzip spiegelt die Natur der völkerrecht-lichen Gesetzgebung in den Zeiten sich verstärkender Integration wieder und ist ein ent-scheidendes Merkmal des geltenden Völkerrechtes. Hiermit wird auch der Zusammenhang zwischen Integration und staatlicher Souveränität festgelegt: Mehr als die Unabhängigkeit einzelner Staaten gilt im modernen Völkerrecht die Gleichheit als Prinzip der Souveränität.

Nimmt man die Souveränität als das Grundmerkmal der staatlichen Rechtspersönlich-keit im Völkerrecht, wird der Unterschied zur Stellung der Internationalen Organisationen deutlich: Auch wenn die Organisationen quantitativ gesehen einen großen Umfang an

völker-129 Levin, I.D., Suwerenitet (Die Souveränität). Moskau 1948. S. 75

rechtlichen Kompetenzen genießen, haben sie doch qualitativ gesehen keinen souveränen Charakter. Die Internationalen Organisationen gelten als sekundäre Subjekte des Völker-rechts, deren Rechtspersönlichkeit auf einen Vertrag gegründet und durch die Mitgliedstaaten bestimmt ist. Sie genießen keine Machtfülle und Hoheit im Vergleich zu Staaten. Der Wille einer Organisation ist nicht souverän, weil sie selbst ein Ergebnis der Willensübereinstimmung der Mitgliedstaaten darstelle,130 deswegen kann sie objektiv nicht souverän sein. Diese These begründet den qualitativen Souveränitätsbegriff aus der Struktur der Völkerrechtsordnung.