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Kapitel 3. Souveränität und die Europäische Union. Verschiedene Integrationsformen

B. Supranationalität

III. Die juristische Qualifizierung der Supranationalität

1) Föderalistische Doktrinen

Die föderalistischen Doktrinen bilden sich auf Grund des staatsrechtlichen Verständnisses des Integrationsprozesses unter dem Gesichtspunkt Bildung neuer Staatlichkeitsformen. Föderati-on als zusammengesetzte Staatsform beweist ihre Komplexität und Veränderung im Laufe der Geschichte, deswegen macht eine einheitliche Klassifizierung föderaler Formen bestimmte Schwierigkeiten. Die dem Staatsrechtsgebiet anhängenden Spezialisten betonen die föderationsähnlichen Merkmale der supranationalen Organisationen, die meisten sind aber der Meinung, dass die Europäische Union keine klassische Verbindung föderativer Art sei und betonen die Dynamik bei der Entstehung von komplexen Staatsformen.

Zusammenfassend werden folgende Gesichtspunkte ausgearbeitet:

Partielle Föderation

Diese Theorie behandelt die europäische Integration als staatsähnliches Gebilde oder einen partiellen Staat437. Die Europäischen Gemeinschaften werden als eine noch nicht ganz realisierte Teil-Föderation behandelt, die sich später zu einer vollen Föderation entwickeln würde. Konzeptuell scheint diese Theorie nicht befriedigend zu sein, da die rechtlichen Krite-rien einer Organisation bzw. einer Föderation nicht in die Analyse einbezogen werden. Diese Theorie verfolgt den Prozess der politischen Entwicklung, gibt aber dafür keine ausreichende Bewertung im rechtlichen Sinne, so Schelenkova. Der positive Aspekt dieser Theorie liegt unserer Meinung nach darin, dass sie den Mischcharakter der europäische Vereinigung betont, wie auch den Entwicklungsprozess von einer wirtschaftlichen zur politischen Kooperation.

436 Schelenkova, N. B., Evropejskaja Integrazija: politika i pravo (Die europäische Integration: die Politik und das Recht). Moskau 2003. S. 9-55

437 Siehe z. B. Steindorf, E., Schumann-Plan und europäischer Bundesstaat. Europaarchiv. 1951. Nr.10-11. S.

3955- 3960; Hay P., Federalism and Supranational Organisations. London 1966. S. 77ff

Funktioneller Föderalismus

Die Integration wird von der funktionalistischen Theorie als ein logischer Prozess der Entwicklung behandelt. Die europäische Staatlichkeit entwickelt sich, dieser Theorie zufolge, durch die Erweiterung der Kompetenzen und Zuständigkeitsbereiche der supranationalen Organisation. Als Ergebnis der Kompetenzerweiterung bildet sich die politische Vereinigung mit quasi föderalistischen Merkmalen.438 Diese Theorie wird auch von den russischen Wissenschaftlern vertreten: So unterscheidet Krylova z.B. zwischen «statischen» und «dyna-mischen» Föderalismuskonzepten.439 Bestimmte Merkmale der Europäischen Gemein-schaften, so wie die Kompetenzaufteilung; der Vorrang und die direkte Wirkung des Euro-parechtes oder die Rolle des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften werden als dy-namische föderative Elemente verstanden. Das Recht der Europäischen Gemeinschaften nimmt eine Zwischenposition zwischen dem innerstaatlichen und dem internationalen Recht ein. Breite Kompetenzbefugnisse der Europäischen Gemeinschaften, die zum Teil zu den klassischen staatlichen Kompetenzen gehören, sprechen dafür. Funktioneller Föderalismus fügt der Klassifizierung einen wichtigen Aspekt hinzu, nämlich die Grundlage des euro-päischen Vereinigungsprozesses: seine ursprüngliche Konzentration auf bestimme Sektoren der Wirtschaft und auf die Bildung eines Gemeinsamen Marktes als Plattform für die poli-tische Integration.

Kooperativer Föderalismus

Diese in der USA geborene Theorie der Modifikationen der staatlichen Gewalt in der aktuellen Situation ist nach Meinung von Schelenkova nicht auf die Europäischen Gemein-schaften anwendbar,440 da die Europäischen Gemeinschaften keine Staatlichkeit besitzen, des-wegen sind die «Kooperationskriterien» zwischen dem Zentrum und den Einzelgliedern nicht übertragbar. So könne laut Tolstopjatenko der Budgetfestlegungsprozess nicht mit dem

«Steuerföderalismus»in den USA verglichen werden.441. Aber die Beziehungen und das Gleichgewicht zwischen der Organisation und den Mitgliedstaaten, was z. B. die Intensität

438 Siehe z. B. Ophüls, C.F., Quellen und Aufbau des Europäischen Gemeinschaftsrechts. Neue Juristische Wo-chenschrift. 1963

439 Krylova, I. S., Pravovyje aspekty burschuasnyh integrazionnyh teorij i problema suvereniteta (Die rechtlichen Aspekte von bourgeoisen Integrationstheorien und das Problem der Souveränität) // Problemi burschuasnoj gosudarstvennosti I politiko-pravovaja ideologia (Die Probleme der bourgeoisen Staatlichkeit und die poli-tisch- rechtliche Ideologie). Sammelband. Moskau 1990. S. 111

440 Schelenkova, N. B., Evropejskaja Integrazija: politika i pravo (Die europäische Integration: die Politik und das Recht). S. 16

441 Tolstopyatenko, G. P., Das Europäische Steuerrecht. Rechtsvergleiche. Analyse. Moskau 2001. S. 19f

und die Dichte der Gesetzgebung seitens der EG oder die Notwendigkeit, das Proportionali-tätsprinzip einzuführen, betrifft, ermöglichen es, bestimmte «Kooperationsbereiche» zwi-schen der EU und den Mitgliedstaaten zu definieren. Dass der größte Teil der EG-Gesetzge-bung als Direktiven gestaltet wird, setzt die Kooperation der Mitgliedstaaten bei der Realisierung der Rahmenbedingungen voraus. Laut Vertrag über die Europäische Union müssen die Handlungen einzelner Mitgliedstaaten mit dem acquis communitare (Art. )kon-form sein. Das Einbeziehen aller Mitglieder (EG, Mitgliedstaaten, Regionen) in den euro-päischen gesetzgeberischen Prozess, ist eine bestimmte Art, die politische Gewalt kooperativ zu organisieren. Die Rolle der Regionen wird besonders betont. In diesem Zusammenhang wird die Rechtsstruktur der Europäischen Union als «multilevel constitutionalism» bezeich-net.442 Die Kompetenzaufteilung zwischen den drei Ebenen der Europäischen Union und die Einführung des Subsidiaritäts- und Proportionalitätsprinzips spiegelt sich im Kompetenz- und Souveränitätsumfang der Mitgliedstaaten wieder, der dementsprechend reduziert wird. Ob die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten nur «EU-Teilordnungen» sind und in einem «System kooperativer Verfasstheit»443 undifferenziert verschmelzen, ist bestritten.444

Supranationaler Föderalismus

Die Entwicklung des EU-Rechtes nach dem Inkrafttreten des Maastrichter und des Amsterdamer Vertrages führte zu einer theoretischen Diskussion über den supranationalen Föderalismus. Föderalismus wird dabei nicht in Zusammenhang mit einem Staat verstanden, sondern als Gewaltorganisationsprinzip mit der Gewaltenaufteilung zwischen dem Zentrum und den Subjekten. Viele russische Autoren vertreten diese Meinung.

So behauptet Kapustin, dass es sich bei der Europäischen Union um die Bildung einer neuen «völkerrechtlichen Föderation» handelt.445

Levin schreibt Folgendes: die Gründungsverträge sehen eine föderalistische Struktur der Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union vor.446

Topornin betont den Mischcharakter der Europäischen Integration und ist der Meinung, dass das Maß der Supranationalität sich nach den Interessen der Souveränitätssicherung der

442 Pernice, I., Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam: European Constitution- Making Re-visted? In: Common Market Law Review 36, 1999. S. 703ff

Kassim, H., G., B., Wright V. The National Coordination of EU Policz. Oxford 2000

443 Siehe dazu: Bieber, Die Europäisierung des Verfassungsrechts, in: Kreuzer/ Scheuling/Sieber (Hrsg.) (Fn.19)

444 Arnold, R.., Begriff und Entwicklung des Europäischen Verfassungsrechtes. Festschrift für Mauer. S. 860f

445 Kapustin, A. J., Die Europäische Union: Integration und Recht. Moskau 2000. S. 60

446 Levin, I. D., Die moderne bürgerliche Wissenschaft des Staatsrechtes. Moskau 1960. S. 373ff

Mitgliedstaaten richte, und dass die Gemeinschaften und die Europäische Union einen «Hy-bridcharakter» haben und die Qualitäten von Internationalen Organisationen und «quasiföde-ralen Strukturen» kombinieren.447

Die anderen russischen Autoren einigen sich auf die Theorie des supranationalen Föde-ralismus. Tolstopjatenko ist der Meinung, dass die Haupttendenz der Europäischen Gemein-schaften es mit großer Wahrscheinlichkeit erlaubt, von der Gemeinsamkeit der EU-Prinzipien und föderalistischer Prinzipien moderner Staaten zu sprechen.448

Tchetverikov und Kaschkin charakterisieren die Europäische Union als ein zwar staats-ähnliches Gebilde, das mit einer Föderation vergleichbar, aber eben nicht ganz mit dieser identisch ist449

Die öffentliche Gewalt auf der Ebene der Europäischen Union geht weit über die Kom-petenzen einer Internationalen Organisation hinaus. Die Struktur und die Entwicklung der EG/ EU sind aber auf einem völkerrechtlichen Charakter dieser Verbindung begründet. In diesem Zusammenhang spricht Kirchhof von der Entstehung einer öffentlichen Gewalt ohne einen Staat, ohne staatliche Organisation.450

Diese Theorie bringt einen positiven Aspekt mit sich, nämlich die Kategorisierung des föderativen Prozesses und die Ausarbeitung seiner wichtigsten Merkmale. Sie betont unserer Meinung nach auch die Dynamik der Integration, die nicht immer zu einer fixen rechtlichen Form führt, sondern in ihrer Entwicklung zu behandeln ist. Hierbei ist die Integrationstheorie von Kamarowskij, die im ersten Kapitel dieser Arbeit dargestellt wurde, zu beachten.