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3 Weber-Question, Needham-Puzzle und Great Divergence -

3.2 Überlegungen zu einigen Paradigmen der

3.2.1 Sinologie

Als akademische Disziplin nahm die Sinologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Anfang als Appendix der Orientalistik. Ei-genständig konnte sie sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-derts etablieren, als sich nach der Öffnung Chinas ─ als Folge der Opi-umkriege ─ Ausländer sich im Land bewegen, Material sammeln und Studien betreiben konnten. Die wichtigste Aufgabe der Chinakundler war zunächst die Erschließung der chinesischen Sprache als zwingende Voraussetzung zur Erforschung von Schriftquellen und Kultur sowie als Grundlage für die Forschungstätigkeit weiterer Disziplinen: Auf-finden und Übersetzten von Quellen und das Aufbereiten von Daten sind ohne Kenntnis des klassischen respektive des modernen Chine-sisch kaum möglich. Kent Deng (2000) schätzt, dass es zehn Jahre in Anspruch nimmt, Studierende zu trainieren, bis sie in der Lage sind, zum Beispiel offizielle Register der späten Kaiserzeit auszuwerten.

Die Öffnung Chinas seit 1978 hat neben einem beachtlichen Wirt-schaftswachstum auch zu einem Aufschwung der Wissenschaften in China geführt. Bis 2030 strebt die Führung der Volksrepublik China an, etwa ein Drittel des weltweit tätigen hauptamtlichen Forschungs-personals in Naturwissenschaften und Technik zu stellen (Hu; Yan;

Wei 2014, S. 30). Herrmann-Pillath (2011) verweist auf die zuneh-mende Bedeutung von Beiträgen chinesischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur Volks- und Betriebswirtschaftslehre. Es sei durchaus damit zu rechnen, das Chinesisch als Wissenschaftssprache auch über die Chinakunde hinaus künftig eine Rolle spielen kann. Auf jeden Fall sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich mit China beschäftigen wollen, aber nicht über hinreichende Sprachkennt-nisse verfügen, auf die Arbeit der Sinologie angewiesen, oder darauf, dass Chinesen ihre Forschungsergebnisse in Fremdsprachen veröffent-lichen. Das Sprachproblem gilt natürlich auch für die Arbeiten der japanischen Chinaforschung, die aufgrund der Verwandtschaft der Schriftsprachen sowie der geographischen und kulturellen Nachbar-schaft traditionell einen etwas einfacheren Zugang zu chinesischen Quellen hat, als die europäische und daher eine reichhaltigere Tradition

aufweist.11 Elvin et al. (1994) sind der Ansicht, dass die westliche For-schung ─ wegen Sprachproblemen ─ ganze ForFor-schungszweige igno-riert hat, und dass es wegen mangelnder Daten und Informationen im-mer wieder zu Missverständnissen kommt.12

Eine zentrale Frage der wirtschaftshistoriographischen Chinafor-schung zielt auf die grundsätzliche Ausrichtung von Studien: Soll eine Studie komparativ ausgerichtet sein oder nicht? Dahinter steht das teleologische Problem, ob die nordwesteuropäische Entwicklung be-ziehungsweise ihre modellhafte Formulierung ─ ob jetzt marxistisch, klassisch, neoklassisch oder institutionenökonomisch ─ als Referenz-modell für die Entwicklung des Restes der Welt geeignet ist, so als hätten andere Teile der Welt, wie China beziehungsweise seine Mak-roregionen ein zweites, gegebenenfalls ein erstes Europa werden kön-nen. Das läuft darauf hinaus, dass nach bestimmten Störfaktoren ge-sucht wird, die eine Entwicklung entlang des europäischen Modells verstellt haben (Herrman-Pillath 2015, Deng 2000, Huang P. C. C.

1991). Feuerwerker (1992) stellt daher die Frage, warum hätte China oder irgendein anderer Teil der Welt so werden sollen wie Europa?

Eine Reihe von Sinologen vertritt dann auch die Position, dass China aus sich selbst heraus verstanden werden muss ─ Chinas Wirtschafts-geschichte sei sui generis und müsse analytisch auch so behandelt werden: Herrmann-Pillath (2017, 2015) hat kürzlich in diesem Sinn ein Modell eines chinesischen Wirtschaftsstils vorgestellt; Susanne Rühle (2012) verweist am Beispiel chinesischer interpersoneller Netzwerke (guanxi) auf die Unzulänglichkeit der Institutionenökonomik, diese zu begreifen und deren Bedeutung und Wirkungen angemessen zu inter-pretieren.

11 Beispielhaft sei hier auf die mantetsu-Studien verwiesen, die japanische Sozialwissenschaftler zur Erforschung der Sozialbeziehungen im ländli-chen China während der japanisländli-chen Besatzung in den 1930ern erhoben haben; später bildeten die mantetsu-Studien eine Grundlage für wichtige Arbeiten von Prasenjit Duara (1988) und Philip C. C. Huang (1985).

12 Als Beispiel mag die Lardy-Donnthorne-Kontroverse der frühen 1970er Jahre dienen. Audrey Donnithorne (1976) und Nicholas Lardy (1975) ver-traten ziemlich entgegensetzte Positionen in der Frage nach dem Verhält-nis von Zentralstaat und Regionen in der Volksrepublik der Mao-Zeit. Ein Aspekt dieser Kontroverse bestand sicherlich in einer unterschiedlichen Informationslage.

Die Sinologie ist über weite Strecken eine politische Wissenschaft gewesen. Selbstverständlich beschäftigt sie sich mit der Politik Chinas;

daneben war sie auch selbst oft Politikum: Missionare und Unterneh-mer trugen im 19. Jahrhundert erheblich zu ihrer Entwicklung bei, nutzten aber auch ihre Ergebnisse für unternehmerische und missiona-rische Zwecke. Später stand die Chinakunde mehrfach im Fadenkreuz der ideologisch-politischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhun-derts. Das Frühwerk des Marxisten Karl August Wittfogel (1931), eine Weiterentwicklung und Systematisierung der ‚asiatischen Produkti-onsweise‘, eine Hegelsche Kategorie, die Marx zwar benutzt, aber nie wirklich fundiert hatte, geriet gleich mehrfach zwischen die politischen Fronten der Zeit: Anfänglich bei den Kommunisten akzeptiert, ver-bannte Stalin schließlich Wittfogels Position, weil sie seiner Stufenlei-tertheorie der Weltgeschichte entgegenstand (Wittfogel 1951); die chinesischen Kommunisten entschieden sich für eine andere Interpreta-tion ihrer Geschichte (Dirlik 1982). Im Westen lehnten die Konservati-ven Wittfogel ab, weil sie seine Methode zu marxistisch fanden, die Linken sahen in Wittfogel einen Verräter. Die Ablehnung der Arbeit Wittfogels war mehr politisch als wissenschaftlich motiviert, so dass die westliche Chinaforschung sich einen versprechenden Ansatz lange verstellte (Needham 2008a). Nur in Japan ─ Wittfogels ‚Wirtschaft und Gesellschaft Chinas‘ wurde 1934 ins Japanische übersetzt ─ wur-de Wittfogels Forschungsansatz weiterverfolgt.

Im deutschsprachigen Raum geriet die Chinaforschung in die Müh-len der national-sozialistischen Unterdrückungsmaschinerie. Wurden einige Wissenschaftler ─ wie andere Bewohner des Großdeutschen Reichs auch ─ aus politischen und rassistischen Motiven verfolgt, ge-riet mit Ende des Jahres 1937 die Sinologie als Ganzes in Bedrängnis.

War Deutschland Anfangs mit der Nationalpartei (guomindang) Jiang Jishis verbunden, der große Sympathie für den Mussolini-Faschismus hegte, wechselte die Nazi-Führung Ende 1937 die Fronten und verbün-dete sich mit dem japanischen Kaiserreich, das seinerseits einen Ag-gressionskrieg gegen die Republik China führte. Während der Schlacht um Shanghai wechselten die deutschen Militärberater die Seiten.

Bernhard Führer (2001) zeichnet beispielhaft den Niedergang der

‚kleinen aber feinen‘ österreichischen Tradition der Chinaforschung in der Zeit des Nationalsozialismus nach.

In der Nachkriegszeit standen die Chinastudien vor allem in den USA unter dem Diktum des Ost-West-Konfliktes: Von Linken, wie von Konservativen flossen beabsichtigt oder unbeabsichtigt ideologi-sche Vorbehalte in das Design von Studien mit ein. Problematisch waren dabei personelle Verwicklungen der CIA in das ‚Asian Studies Program‘ in Harvard: Hier kommt das geo- und verteidigungspoliti-sche Interesse des Staates, der schließlich die Programme finanziert, an den Ergebnissen der Chinaforschung zum Tragen. Insgesamt ist die westliche Chinaforschung der 1960er und 1970er Jahre von explizit antikommunistischen Positionen einerseits und kulturrevolutionären, maoistischen Positionen andererseits flankiert.13 Philip Huang (2016) warnt daher vor möglichen ideologisch induzierten Einseitigkeiten und rät zur Skepsis bei der Benutzung von Studien.14

Die ideologische Einbindung der wirtschaftshistoriographischen Chinaforschung ist freilich für die Arbeiten volksrepublikanischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler besonders bedeutsam; hier werden die Raison eines autoritären Staates und das Selbstverständnis der Kommunistischen Partei Chinas berührt: Offiziell wird die Theorie der ‚sprouts of capitalism‘ vertreten. Dem liegt die durch Stalin de-terminierte Weltsicht zugrunde, dass sich alle menschliche Gesell-schaft materialistisch-dialektisch vom Urkommunismus über die Skla-venhaltergesellschaft und den Feudalismus zum Kapitalismus, von dort aus zum Sozialismus und schließlich zum Kommunismus entwickelt.

Das heißt, ohne das Stadium des Kapitalismus erreicht zu haben, kann keine kommunistische Gesellschaft erreicht werden. Die wirtschaftli-che Dynamik Chinas zwiswirtschaftli-chen 1500 und 1800 wird demnach als be-ginnender Kapitalismus gedeutet, was insbesondere an einer zuneh-menden Bedeutung der Lohnarbeit festgemacht wird. ‚Feudale Über-reste‘ und der westliche Imperialismus haben eine weitere Entwicklung blockiert. Mit der Gründung der Volksrepublik und der Revolution

13 Als Beispiel für die antikommunistische Position sei auf das Spätwerk Karl August Wittfogels (1962) verwiesen; eine maoistisch-kultur-revolutionäre Position vertritt Rosemarie Juttka-Reisse (1977).

14 “An important subsidiary point here is that, depending on the degree to which the influential scholars of each generation were ideologically driv-en, some might violate intentionally or unintentionally the available em-pirical evidence because of their determination to arrive at particular types of answers.” (Huang P. C. C. 2016, S. 117)

wurden diese Entwicklungshindernisse beseitigt (Feuerwerker 1992, Dirlik 1982), womit das ‚Thema‘ Modernisierung zu einem zentralen Referenzkriterium der kommunistischen Herrschaft geworden ist (Herrmann-Pillath 2015). Obwohl seit Beginn der Reformpolitik der Konformitätsdruck auf chinesische Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftler nachgelassen hat, jüngere Arbeiten namhafter Wissenschaft-ler scheinen dies zu belegen (Liu 2015, Lin 2012, Chen 2012, Wen 2011), bleiben die chinesischen Standardwerke, wie Richard von Glahn (2016) zeigt, im beschriebenen Paradigma gefangen.15

Die wichtigsten Ressourcen der wirtschaftshistoriographischen Chinakunde sind selbstverständlich die chinesischen Quellen selbst.

Spätestens seit Sima Qian (145-86 v. Chr.) verfügt China über eine reichhaltige historiographische Literatur sowie eine lange philosophi-sche Tradition, wozu insbesondere die klassiphilosophi-schen Werke der Daois-ten, Konfuzianer und Legisten gehören. Dazu kommen Verwaltungs-register wie Steuerlisten, Volkszählungen, WehrVerwaltungs-register, Gerichtsak-ten, Vertragssammlungen, Geschäftsunterlagen, Zeitungen16 etc. Bei den philosophischen Schulen geht es insbesondere um die Entwicklung von Strategien zur ‚Ordnung einer heterogenen Gesellschaft‘ (Vogel-sang 2013, Ommerborn; Weber-Schäfer 1988), wobei die Historiogra-phie zum Teil durch diese Tendenz überlagert wird. Geschichte war dabei, wie Vogelsang (2013, S. 154) feststellt: „kein getreuer Spiegel, sondern eine Lehrmeisterin des Lebens.“ Geschichtswerke wurden häufig als offizielle Auftragsarbeiten verfasst, um die Gegenwart in einer Art ‚affirmativer Rückschau‘ zu legitimieren, dabei galt dem konfuzianischen Autor „(…) die historische Wahrheit so wenig, wie die ethische viel“ (Franke; Trauzettel, 1993, S. 14 ff.).

Problematisch ist aber auch der Umgang mit historischen chinesi-schen Daten, zum Beispiel denen aus Volkszählungen oder Steuerre-gistern. Neben den üblichen Schwierigkeiten mit Datenerhebungen aus dem vorstatistischen Zeitalter, gab es in China Interessengruppen aus

15 Neuerdings scheint die Xi Administration den Konformitätsdruck auf Hochschulen und Akademiker zu erhöhen (South China Morning Post vom 28.04.2017, 23.02.2017, 10.12.2016)

16 Seit dem Aufschwung von Papierproduktion und Druck im 11. Jahrhun-dert verbreitet (Vogelsang 2013, Deng 2013).

den lokalen Eliten, die ein starkes Eigeninteresse an unrichtigen Daten hatten. Daher sind historische Daten zu Bevölkerungszahlen umstritten und somit stehen natürlich abgeleitete Größen, wie Pro-Kopf Produkti-on und ähnliches in Zweifel: Exemplarisch sei hier auf die Kritik Kent Dengs an Angus Maddisons Bevölkerungs- und Wirtschaftsdaten ver-wiesen, die oben für die Tabellen 1 und 2 benutzt wurden (Deng 2003).