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3 Weber-Question, Needham-Puzzle und Great Divergence -

3.1 Einige Vorbemerkungen zur Evolution von Ökonomie,

Karl Popper (2003) hat einmal bemerkt, dass alles was lebt, ‚auf der Suche nach einer besseren Welt‘ sei. Alle lebenden Organismen versuchten ständig ihre Lage zu verbessern, mindestens aber eine Ver-schlechterung zu vermeiden. Der Mensch könne dabei ─ um einen Gedanken Günter Hesses (1991) aufzunehmen ─ auf seine Fähigkeit zur ‚kognitiven Kreativität‘ zurückgreifen. Er sei in der Lage alternati-ve Handlungskonzepte (Technologien, Institutionen, etc.) zu entwi-ckeln und anzuwenden sowie ihren Erfolg zu evaluieren und gegebe-nenfalls sein Verhalten anzupassen. Insofern kann man Rationalverhal-ten unterstellen; was freilich nicht heißen soll, dass Menschen und Gesellschaften in historischen Situationen in der Lage sind ─ ex-ante

─ aus einer kontingenten (oder nichtkontingenten) Zahl künftiger Möglichkeiten, die optimalste Variante zu identifizieren und umzuset-zen. Vielmehr kann man davon ausgehen, dass, wenn eine hinreichen-de Variante, im Sinne einer beabsichtigten Problemlösung gefunhinreichen-den wird, ihre Umsetzung zu Pfadabhängigkeiten führt, die die weiteren Wahlmöglichkeiten in der Zukunft einschränken. Die Einwohner des chinesischen Territoriums waren im Verlauf ihrer Geschichte mit der Lösung mehrerer grundlegender Probleme konfrontiert, deren Lö-sungsversuche die Evolution von Ökonomie und Staat in signifikanter Weise geprägt haben.

Die erste Herausforderung ist wohl in der Flächenausdehnung und der geophysikalischen Vielfalt Chinas zu sehen. Das Gebiet der Volks-republik umfasst heute etwa 9,6 Millionen km² ─ annähernd die Fläche ganz Europas ─ und beinhaltet verschiedenste Klimazonen und Land-schaftstypen (Vogelsang 2013). Die chinesische Zivilisation hat sich den geographischen Raum über die letzten 3000 Jahre sukzessive

er-schlossen und erobert. Dabei kam es über weite Strecken nicht zu einer gleichmäßigen Besiedelung des Raumes, sondern zur Bildung von selbständig identifizierbaren Kernregionen, die William Skinner (1985) für die späte Kaiserzeit als Makroregionen analysiert (Abbil-dung 2). Die erste Makroregion verortet Skinner um das nordchinesi-sche Wei-Fen-System, dort wo der Gelbe Fluss (huanghe) das Löss-Plateau verlässt und sein weiterer Verlauf in die nordchinesische Tief-ebene führt. Hier lag das Kernland der bronzezeitlichen Zhou-Dynastie (von Glahn 2016). Von hier aus breitete sich die chinesische Zivilisati-on erst nach Osten in die Tiefebene, dann nach Süden und Westen aus.

Abbildung 2: Die acht Makroregionen der späten Kaiserzeit

Darstellung nach Skinner 1985, S. 273 (stilisiert und nicht maßstabsgetreu)

Das Gebiet der letzten der acht Makroregionen, die Skinner beschrie-ben hat ─ Teile der heutigen Provinzen Guizhou und Yunnan ─, wurde erst im 18. Jahrhundert von China her kolonisiert. Es stellt sich die Frage, warum sich verschiedene physikalisch getrennte, nach Skinners Ansicht ökonomisch untereinander schwach integrierte, Großregionen

mit unterschiedlichen Wachstumszyklen und -dynamiken als Einheits-reich und nicht als Einzelstaaten etabliert haben ─ oder wie Vogelsang (2013) es formuliert hat, wie konnte eine derart heterogene Gesell-schaft erfolgreich geordnet werden?

Aus der Geographie Chinas resultierten weitere Probleme, die ein Bündel öffentlicher Güter erforderten, die ein Zentralstaat wahrschein-lich besser bereitstellen konnte, als eine Gruppe selbständiger Staaten:

Abbildung 3: Die 400-mm-Isohyete und Chinas nomadische Nachbarvölker

Darstellung nach Huang, R. 1997, S. 26 (stilisiert und nicht maßstabsgetreu)

Die 400-mm-Isohyete (15 Inches-Isohyet-Line) unterteilt das konti-nentale Gebiet Ostasiens nach dem Kriterium der durchschnittlichen jährlichen Niederschlagsmenge. Nördlich dieser Linie ist und war Ackerbau kaum möglich. Sie verläuft von Südwesten her nördlich des Yunnan-Plateaus und des Sichuan-Beckens nach Nordosten, teilt das Gebiet innerhalb des Ordos-Bogens nördlich des Löss-Plateaus und grenzt schließlich die nordchinesische Tiefebene von der

mongoli-schen Steppe und teilt die Mandschurei (Abbildung 3). Interessant ist, dass die Große Mauer der Ming-Dynastie in weiten Abschnitten der 400-mm-Isohyete folgt (siehe Abbildungen bei Vogelsang 2013, S. 19 und Huang, R. 1997, S. 26). Die Verteidigung der ackerbauenden chi-nesischen Bevölkerung gegen die nomadischen Völker der Steppe ─ insbesondere Turkmenen, Mongolen, Tanguten und Jurchen ─ stellt ein zentrales Motiv der chinesischen Geschichte dar. Kent Deng (2000) nennt die Zahl von 1.109 großen militärischen Konflikten mit Step-pennomaden zwischen 215 v. Chr. und 1684 n. Chr.; signifikante Häu-fungen der Konflikte lassen sich für prekäre Klimasituationen feststel-len (Zhang; Zhang; Lee; He 2007).

Abbildung 4: Der Gelbe Fluss mit Bett und Deich

Darstellung nach Pietz 2015, S. 19 (nicht maßstabsgetreu) Wetterextreme treten in China gehäuft auf: Dürren im Norden und Hochwasser im Norden und Süden sind nicht ungewöhnlich. Ray Huang (1997) schreibt im Rückgriff auf offizielle imperiale Register, dass es über eine Zeitspanne von 2117 Jahren zu 1.621 Überflutungen und 1.392 Dürren gekommen sei, die wichtig genug gewesen seien, um Aufnahme in die offiziellen Herrschaftschroniken zu finden ─ das sind 1,42 Katastrophen im jährlichen Durchschnitt. In vorimperialer Zeit haben katastrophenbedingte Nahrungsknappheiten häufig zu Kriegen zwischen den protofeudalen Fürstentümern Nordchinas geführt, so dass Aufspeicherung und intra- aber auch interregionale Umverteilung von Nahrungsmitteln ein wichtiges Stabilisierung- und

Befriedungs-instrument wurden (Huang J.; Needham 2008). Bis in die Gegenwart sind 4% bis 25% der landwirtschaftlichen Fläche jährlich von Wetter-extremen signifikant betroffen (Taubner 1998).

Der Gelbe Fluss (huanghe) ist unter den großen Strömen der Erde weder der Längste noch der Gewaltigste ─ aber der Sedimentreichste:

ca. 40% seines fließenden Inhaltes sind Sedimente; das ist das Vierfa-che des Colorado-Rivers und das VierzigfaVierfa-che des Nils (Huang, J.;

Needham 2008, Greer 1979). Die Masse der Sedimente ─ nach Charles Greer allein eine bis eineinhalb Milliarden Tonnen Löss jährlich ─ nimmt der Gelbe Fluss während der Durchquerung des Lössplateaus auf.8 Die Hälfte der Sedimente lagert der Gelbe Fluss dann auf seinen Weg zum Meer auf der Nordchinesischen Tiefebene ab, dabei erhöht er immer wieder den Grund seines Flussbettes (siehe Abbildung 4), so dass es in der Vergangenheit schließlich zu Hochwassern, Wechseln des Flussbettes und zum Teil großräumigen Verlagerungen der Fluss-mündung gekommen ist (siehe die Abbildungen bei Prietz 2015, S. 17, Gernet 1998, S. 516-517). Charles Greer schätzt für die letzten 3500 Jahre 1.500 große Überschwemmungen, 20 signifikante Wechsel des Flussbettes und 6 weiträumige Verschiebungen der Flussmündung (Greer 1979). Einerseits hat der Gelbe Fluss damit den fruchtbaren Alluvialboden der nordchinesischen Tiefebene geschaffen, die über 1000 Jahre hinweg der Hauptstandort der chinesischen Zivilisation sein sollte, andererseits war er eine ständige Bedrohung für seine Anwoh-ner: Große Deichbrüche und Kurswechsel konnten Hunderttausende töten und ganze Regionen verwüsten (Deng 2013, Elvin 2004, siehe auch Tabelle 2.3 bei Jones 2012). Die Eindeichung des Gelben Flusses und die Instandhaltung der Deiche gehören daher zu den unverzichtba-ren öffentlichen Gütern, die ein Staat anzubieten hatte.9

8 Mark Elvin (1998) vermutet, dass ein Teil dieser Sedimentfracht durch den Bewässerungsintensiven Feldbau im Wei-Fen-System, der dort wohl mindestens seit dem 7. Jahrhundert v. Chr. betrieben wird (von Glahn 2016, Greer 1979), verursacht wird. Siehe auch Saito; Yang; Hori (2001).

9 “No visitor to the dikes along the Yellow River could fail to be impressed by their immense scale. Flowing eastward from its sources in the moun-tains and plateaus in the west, the river's rate of flow slows as it enters the plains, as does its capacity for carrying the silt picked up along the way.

The result is a continual build-up, so that now, 100-odd years after the

riv-Die chinesische Zivilisation, die meist über mehrere Kernregionen mit unterschiedlichen ─ zum Teil gegenläufigen ─ Wachstumsdyna-miken verteilt war, hat über die letzten 3000 Jahre verschiedene Pro-duktionsweisen, Technologien, Institutionen und administrative Sys-teme entwickelt, um die notwendigen, lebenswichtigen öffentlichen Güter anbieten zu können. Wichtige Fragen waren dabei die Überbrü-ckung von Entfernungen, um einen inter- und intraregionalen Fluss von Informationen und Ressourcen sicherzustellen und die Frage, wie der Staat die notwendigen Ressourcen apropriieren konnte? ─ und wie hat die Wechselwirkung von Staat und Ökonomie die wirtschaftliche Entwicklung beeinflusst? Es darf dabei nicht vergessen werden, dass es an unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Zeiten der Problem-druck unterschiedlich hoch war und die Gesellschaft auch über unter-schiedliche Möglichkeiten verfügte, den jeweiligen Herausforderungen zu begegnen (Wei; Fang; Su 2014). Die Konfigurationen aus zu lösen-den Problemen und sowohl ökonomischen als auch administrativen Lösungswegen waren im Zeitverlauf verschieden, Diskontinuität die Regel, so dass durchgängige makrohistorische oder makroökonomi-sche Interpretationen problematisch ermakroökonomi-scheinen.

3.2 Überlegungen zu einigen Paradigmen der