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verfassungsgerichtlichen Verfahren

VII. Entscheidungsinhalt und Entscheidungswirkungen 1. Normative Grundlagen und Grundsatzaspekte

2. Die Sachentscheidung

Tritt der Staatsgerichtshof auf eine Verfassungsbeschwerde hin auf die Sache ein, wendet er sich also – weil alle Sachentscheidungs voraus set zun gen erfüllt sind – der Begründetheitsprüfung der Verfassungs -beschwerde zu, ergeht am Ende eine Sachentscheidung. Nach Art. 38 Abs. 1 hat der Staatsgerichtshof bei Beschwerden wegen Verletzung ver-fassungsmässig gewährleisteter Rechte «die Entscheidung auszuspre-chen, ob eine Verletzung solcher Rechte stattgefunden hat und bejahen-denfalls die verfassungswidrige Entscheidung oder Verfügung ganz oder teilweise aufzuheben». Anders als in Deutschland, wo das Bundes ver fas -sungsgericht nur dann eine Feststellung über die Verfassungsgemässheit trifft, wenn es der Verfassungsbeschwerde stattgibt (§ 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG), stellt somit der Staatsgerichtshof in jedem Fall einer zulässi-gen Verfassungsbeschwerde fest, ob der angegriffene Hoheitsakt mit den massstabsbildenden Grundrechten vereinbar ist oder nicht.848

a) Kassation

Wird der Verfassungsbeschwerde stattgegeben, wird sie gutgeheissen, ist – wie Art. 38 Abs. 1 1. HS StGHG formuliert – «die verfassungswidrige Entscheidung oder Verfügung ganz oder teilweise aufzuheben». Die Kassation ist die klassische Entscheidungsform der Verfassungs be -schwerde.849Der Staatsgerichtshof agiert – wie er gelegentlich etwas pau-schalierend hervorhebt – «rein kassatorisch».850Hebt er eine Entschei -dung auf, so bedeutet dies, «dass das Verfahren in den früheren Stand zurücktritt».851 Gelegentlich hebt der Staatsgerichtshof in diesem Zu -sam menhang «der Vollständigkeit halber» hervor, «dass auch im Falle der Beschwerdestattgebung die angefochtene Entscheidung selbstredend nur gerade aufgehoben, nicht aber antragsgemäss abgeändert hätte

wer-Sachentscheidung

848 S. a. Herbert Wille, Normenkontrolle, S. 299.

849 Für die Schweiz siehe nur Madeleine Camprubi, Kassation und positive Anord nun -gen bei der staatsrechtlichen Beschwerde, S. 143.

850 StGH 1998/3 – Urteil vom 19. Juni 1998, LES 1999, 169 (173).

851 So StGH 1987/7 – Urteil vom 9. November 1987, LES 1988, 1 (2) im Blick auf die Auf hebung einer Entscheidung der VBI.

den können».852Fungiert der Staatsgerichtshof hingegen zugleich auch als Verwaltungsgerichtshof,853fühlt er sich «nicht auf eine kassatorische Ent scheidung beschränkt». So gibt er etwa, wenn alle Voraussetzungen vorliegen, einem Einbürgerungsantrag statt.854

Der Entscheidungsausspruch richtet sich nach Art. 38 StGHG.

Da nach hat der Staatsgerichtshof bei Beschwerden wegen Verletzung ver fassungsmässig gewährleisteter Rechte auszusprechen, «ob eine Ver -let zung solcher Rechte stattgefunden hat und bejahendenfalls die verfas-sungswidrige Entscheidung oder Verfügung ganz oder teilweise aufzu-heben.» Demnach stellt der StGH in jedem Fall einer zulässigen Beschwerde fest, ob der angegriffene Hoheitsakt mit der Verfassung ver-einbar ist oder nicht. Das unterscheidet die liechtensteinische Rechtslage von der Rechtslage in Deutschland, wo das Bundesverfassungsgericht nur dann eine Feststellung über die Verfassungsgemässheit trifft, wenn es der Verfassungsbeschwerde stattgibt (§ 95 Abs. 1 S. 1 BVerfGG).

Ist die Verfassungsbeschwerde begründet, dann ist im Ent schei -dungs ausspruch zugleich noch auszusprechen, dass der angegriffene Hoheitsakt aufzuheben sei (Art. 38 Abs. 1 StGHG). Dabei handelt es sich um eine unmittelbar gestaltende Entscheidung, die ex nunc zum Fort fall der angegriffenen Entscheidung führt.855Allerdings gilt dies für auf gehobene Gesetzes- oder Verordnungsnormen nur, wenn der aufhebende Ausspruch von der Landesregierung unverzüglich im Landes ge -setz blatt veröffentlicht wird, «womit sodann die Aufhebung rechtskräf-tig wird, sofern der Entscheid des Staatsgerichtshofes nicht eine andere, sechs Monate übersteigende Frist bestimmt» (Art. 43 Abs. 2 StGHG).

Die Kundmachung hat konstitutive Wirkung.856

Abgesehen von den Besonderheiten der Gesetzes bzw. Verord -nungs aufhebung, ist mit der Aufhebung die Situation hergestellt, wie sie sich darstellte, bevor die angegriffene Verfügung oder Entscheidung be-stand.857

852 So StGH 1997/23 – Urteil vom 29. Januar 1998, LES 1998, 283 (287).

853 Dazu schon oben, S. 137 f.

854 So StGH 1997/13 – Urteil vom 4. September 1997, LES 1998, 258 (263).

855 Andreas Kley, Landesbericht Liechtenstein, S. 25.

856 Herbert Wille, Normenkontrolle, S. 344. – Nach deutschem Verständnis wirken Nich tig erklärungen extunc; Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Bundesverfassungsge -richt, Rn. 367 ff. m.w.N.

857 Vgl. Walter Kälin, Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, S. 399.

b) Wirkungen

Die Wirkungen einer gutheissenden Entscheidung des Staatsgerichtshofs sind nur zum Teil normativ vorgezeichnet. In dogmatischer Hinsicht lassen sich insoweit Wirkungen

– im Blick auf die (personelle) Reichweite der Bindung

– und hinsichtlich der Wirkungen in der Zeitdimension unterschei-den.

aa) Personelle Reichweite der Bindung

Im Verhältnis zu den anderen Staatsorganen bestimmt Art. 42 Abs. 2 StGHG, dass eine Gerichts- oder Verwaltungsbehörde, die aufgrund einer Entscheidung des Staatsgerichtshofs «eine Entscheidung oder Ver fügung zu treffen hat, … an die Rechtsanschauung des Staatsgerichts -hofes gebunden» ist. Hat beispielsweise der Staatsgerichtshof eine Entscheidung der Verwaltungsbeschwerdeinstanz wegen mangelhafter Begründung aufgehoben, so bedeutet die Bindungswirkung des Art. 42 Abs. 2 StGHG, «dass die VBI eine angemessene Entscheidungs be grün -dung zu formulieren hat».858 Auf diese Bindungswirkung weist der Staatsgerichtshof im Tenor hin.859Die Bindungswirkung bezieht sich auf die Rechtsanschauung, wie sie für die konkrete Entscheidung massgeb-lich war. Das geht weiter als die sehr fallbezogene Bindungswirkung des

§ 31 Abs. 1 BVerfGG, die sich nicht auf einen generellen Obersatz, sondern eher auf die für die konkrete Fallentscheidung relevante Ent schei -dungsregel, d.h. die speziell auf den Fall und seinen Sachverhalt zuge-spitzte Norm referiert.860Im Unterschied zur deutschen Regelung sind aber durch Art. 42 Abs. 2 StGHG nicht alle Gerichte und Behörden ge-bunden,861sondern nur die Gerichts- und Verwaltungsbehörden, die als

Sachentscheidung

858 So StGH 1987/7 – Urteil vom 9. November 1997, LES 1998, 1 (2 f.).

859 S. etwa StGH 1993/18 und 1993/19 – Urteil vom 16. Dezember 1993, LES 1994, 54;

StGH 1994/3 – Urteil vom 23. Juni 1994, LES 1994, 103; StGH 2000/45 – unveröf-fentlichtes Urteil vom 25. 10 2000, S. 2.

860 Hier ist allerdings manches umstritten, s. Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Bundes -ver fas sungs gericht, Rn. 463 ff.

861 § 31 Abs. 1 BverfGG.

Folge des StaatsgerichtshofEntscheids in der Sache, die zur Verfas -sungs beschwerde geführt hat, neu zu entscheiden haben.

Soweit eine Entscheidung des Staatsgerichtshofs im Verfassungs be -schwerdeverfahren eine Verfügung oder ein Urteil aufhebt, so hat dies nur Wirkung für die betroffenen Parteien (inter partesWirkung). Kas -siert die Entscheidung des Staatsgerichtshofs hingegen ein Gesetz, eine Verordnung oder Teile davon, so besitzt diese Aufhebung erga omnes-Wirkung.862

bb) Die Entscheidungswirkungen in zeitlicher Hinsicht

Nach Art. 42 Abs. 1 StGHG ist die Entscheidung des Staatsgerichtshofs mit Ablauf von vierzehn Tagen seit ihrer Zustellung rechtskräftig und vollstreckbar. Sie ist also materiell rechtskräftig, weil über den konkre-ten Streitgegenstand verbindlich als verfassungswidrig oder verfassungs-gemäss entschieden ist, und sie ist auch – vorbehaltlich der Möglichkeit einer Wiederaufnahme (Art. 41 StGHG i.V.m. Art. 104 LVG) –863 for-mell rechtskräftig, also endgültig, wie es am Ende der Entscheidungen des Staatsgerichtshofs zutreffend heisst («Diese Entscheidung ist end-gültig.»).864Die Entscheidung des Staatsgerichtshofs entfaltet ihre Wir kun gen mit dieser Rechtskraft, unabhängig davon, ob sie eine Ver -fügung, ein Urteil, eine Verordnung oder ein Gesetz «kassiert» bzw.

«aufhebt».865 Der Entscheidung des Staatsgerichtshofs kommt damit eine ex nunc-Wirkungzu.866Hier wird der Einfluss der österreichischen Judi katur und Lehre besonders deutlich.867Im Blick auf die Aufhebung von Rechtssätzen bedeutet die ex nunc-Wirkung, dass diese bis zum Zeit punkt ihrer Aufhebung zwar verfassungswidrig bzw.

gesetzeswid-862 Siehe auch Andreas Kley, Landesbericht Liechtenstein, S. 25, der auch darauf hin-weist, dass es nur folgerichtig ist, wenn eine normaufhebende Entscheidung des Staats gerichtshofs im Landesgesetzblatt veröffentlicht wird, womit die Aufhebung erst ihre Wirkung für und gegen jedermann entfalten kann (Art. 43 Abs. 2 StGHG).

863 Als Beispiel StGH 1985/11/W – Urteil vom 11. November 1987, LES 1988, 3 (4).

864 So statt aller StGH 2000/10 – Urteil vom 5. 12. 2000, S. 22 (unveröffentl.).

865 Siehe auch Andreas Kley, Landesbericht Liechtenstein, S. 25.

866 Vgl. demgegenüber die traditionelle deutsche Auffassung von der ex tuncNich tig keit eines verfassungswidrigen Gesetzes: Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Bun des -verfassungsgericht, Rn. 366 ff.

867 Dazu eingehend Herbert Wille, Normenkontrolle, S. 329 ff.

rig, aber dennoch gültig und wirksam sind.868 Eine Wirkung ex tunc – und damit eigentlich lediglich die Feststellung der Nichtigkeit – kommt nur dann in Frage, wenn der angefochtene Hoheitsakt an derart schwer-wiegenden Mängeln leidet, dass er erst gar nicht in Kraft treten konnte.869

Wird im Rahmen eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens auf Aufhebung eines Gesetzes oder einer Verordnung erkannt, so ist gemäss Art. 43 Abs. 2 StGHG der entsprechende Entscheidungsausspruch des Staatsgerichtshofs von der Regierung unter Bezugnahme auf die Ent -scheidung des Staatsgerichtshofs «unverzüglich im Landesgesetzblatt zu veröffentlichen, womit sodann die Aufhebung rechtskräftig wird, sofern der Entscheid des Staatsgerichtshofes nicht eine andere, sechs Monate nicht übersteigende Frist bestimmt». Zumindest in der neueren Judi ka -tur nimmt der Staatsgerichtshof die Verpflichtung zur Kundmachung in den Tenor auf.870Die Verschiebung der Aufhebungswirkung, die auch nach österreichischem Recht möglich ist (Art. 140 Abs. 5 B-VG sieht eine Frist von bis zu 18 Monaten vor), lässt Zeit für die Sanierung der ver fassungswidrigen Lage.871 Die Verpflichtung zur unverzüglichen Kund machung gilt auch bei einer Fristsetzung; sie betrifft das Inkraft tre -ten (Rechtskräftigwerden i.S. des Art. 43 Abs. 2 StGHG) der Aufhebung und bezieht sich nicht auf das Inkrafttreten der Pflicht zur unverzüg -lichen Kundmachung.872

Die Möglichkeit der Fristsetzung besteht nach dem Text des BVerfGG in Deutschland nicht, allerdings hat das BVerfG praeter legem ein funktionales Äquivalent mit der Möglichkeit «erfunden»,873 verfas-sungswidrige Normen für unvereinbar mit der Verfassung zu erklären und gleichzeitig ihre vorläufige Weiteranwendung für eine Übergangs-zeit anzuordnen.874«Das BVerfG nimmt sich hier Befugnisse, wie sie der

Sachentscheidung

868 Siehe Herbert Wille, Normenkontrolle, S. 329; Andreas Kley, Landesbericht Liech -ten stein, S. 25.

869 Dazu näher Andreas Kley, Grundriss des liechtensteinischen Verwaltungsrechts, S. 127 ff.; ders., Landesbericht Liechtenstein, S. 25.

870 Herbert Wille, Normenkontrolle, S. 344 mit FN 243.

871 Andreas Kley, Landesbericht Liechtenstein, S. 25; eingehend Herbert Wille, Nor -men kontrolle, S. 346 ff.

872 Herbert Wille, Normenkontrolle, S. 345.

873 Von einer «Erfindung des BVerfG» sprechen Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 383.

874 Dazu m.w.N. Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 393 ff.

Österr. VerfGH kraft ausdrücklicher Regelung hat»875und, wie gesehen, auch der liechtensteinische Staatsgerichtshof.

Der Staatsgerichtshof weist in diesem Zusammenhang gelegentlich darauf hin, dass er selbst verfassungswidrige Gesetze oder Verordnun -gen nur kassieren, nicht aber ergänzen oder gar neue Gesetze erlassen könne. Letzteres sei eben allein Aufgabe der rechtsetzenden Gewalt.876 Nach Auffassung des Staatsgerichtshofs ergibt sich hier «nicht selten»

die Problematik für den Staatsgerichtshof als «gewissermassen ‹negativer Gesetzgeber›», «dass die Aufhebung einer als verfassungswidrig erkann-ten Rechtsnorm nur gerade um die gesetzliche Maximalfrist von sechs Monaten gemäss Art. 43 Abs. 2 StGHG aufgeschoben werden kann».877 Der Staatsgerichtshof hat allerdings angedeutet, dass er seine Zu -rück haltung aufgeben werde, «wenn der Gesetzgeber trotz der aus grund rechtlicher Sicht nicht unbedenklichen Gesetzeslage längere Zeit nicht tätig würde».878Der Fristaufschub gilt nicht für den obsiegenden Be schwerdeführer. Ansonsten würde dieser um den Erfolg seiner Be -schwerde gebracht.879