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verfassungsgerichtlichen Verfahren

2. Die neuere Judikatur des Staatsgerichtshofs

In der zweiten Hälfte der 90er Jahre kam dann allerdings – so der Ein druck – «Bewegung» in das auf die skizzierte Weise austarierte Bezie hungs geflecht zwischen sog. Fachgerichtsbarkeit und Verfassungsge richts barkeit. Gleich in doppelter Weise entwickelte der Staatsgerichts -hof seine Konzeption weiter:

(1) Zum einen stellte er die Willkürbeschwerde auf ein neues grund -rechtsdogmatisches Fundament.758

(2) Zum anderen modifizierte und verfeinerte er sein Kontroll pro gramm hinsichtlich einer stärker einzelgrundrechtlich orientierten Überprüfung fachgerichtlicher Entscheidungen letzter Instanz.759

a) Nochmals: Zum Verhältnis von sog. Fachgerichtsbarkeit und Ver -fassungsgerichtsbarkeit – zugleich zum «Widerstand» des OGH Das gleichsam systemimmanente Spannungsverhältnis zwischen sog.

Fachgerichtsbarkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit ist naturgemäss im-mer wieder kleineren und grösseren Belastungsproben ausgesetzt. Mehr oder weniger spürbare tektonische Bewegungen sind das Resultat. In den späten 90er Jahren – so der durch die Judikatur vermittelte Eindruck – formulierte der OGH sein zunehmendes Unbehagen an Art und Ausmass der verfassungsgerichtlichen Kontrolle seiner Judikatur. In sei-nen Gegenäusserungen weist er immer wieder darauf hin, dass aus seiner Sicht die erhobenen Verfassungsbeschwerden nichts anderes als den ver-geblichen Versuch darstellten, den Staatsgerichtshof als eine Art vierte

Neuere Judikatur des Staatsgerichtshofs

757 So StGH 1993/13 und 14 – Urteil vom 23. November 1993, LES 1994, 49 (51) un-ter Bezugnahme auf eine ständige Rechtsprechung, «zuletzt zusammenfassend StGH 1992/10/11, 23.3.1993, LES 1993, 82 ff.».

758 Dazu unten 2. b), S. 173 f.

759 Dazu im Folgenden sub 3, S. 174 ff.

Sachinstanz in Anspruch zu nehmen.760 Der Staatsgerichtshof stimmt dieser grundsätzlichen Einschätzung des OGH zwar zu, versäumt aber nicht darauf hinzuweisen, dass er – im Gegensatz zum österreichischen Verfassungsgerichtshof – «aber doch gemäss Art. 23 StGHG die Auf gabe (habe), sämtliche mit Verfassungsbeschwerde angefochtene End -ent scheidungen – also nicht nur Entscheidungen der VBI, sondern auch diejenigen des OGH – auf ihre Verfassungsmässigkeit zu überprüfen und allenfalls zu kassieren».761

Auch wenn kein spezifisches Grundrecht betroffen ist, sieht sich der Staatsgerichtshof auf einen entsprechenden Antrag doch zur Prüfung berufen, ob eine Verletzung des Willkürverbots vorliege. Wann nun die Grenze zwischen einer in einem Rechtsstaat gerade noch ver-tretbaren und einer qualifiziert falschen und damit willkürlichen Entscheidung überschritten sei, habe er – so der Staatsgerichtshof in ei-ner deutlichen Akzentverschiebung gegenüber der bisherigen Judikatur – «im Einzelfall ab(zu)wägen und nachvollziehbar zu begründen – letz-teres jedenfalls solange, als der Gesetzgeber dem Staatsgerichtshof nicht die Möglichkeit einräumt, offensichtlich unbegründeten Verfassungs -beschwerden ohne nähere Begründung keine Folge zu geben».762 Und hieran schliesst der Staatsgerichtshof die Feststellung an: «Nach der gel-tenden gesetzlichen Regelung hat der Staatsgerichtshof indessen bei jeder Willkürbeschwerde die vorgebrachten Argumente des Beschwerde -füh rers grundsätzlich nicht anders als eine vierte Rechts- oder allenfalls sogar Sachinstanz genau zu prüfen – auch wenn die vom Staatsgerichts -hof aus dieser Analyse zu ziehenden rechtlichen Folgerungen grundsätz-lich andere sind als bei einer ordentgrundsätz-lichen Gerichtsinstanz. Eine von vorn herein eingeschränkte Prüfung von Willkürbeschwerden würde da-gegen eine Rechtsverweigerung darstellen».763

760 Siehe bspw. StGH 1995/28 – Urteil vom 24. Oktober 1996, LES 1998, 6 (11).

761 StGH 1995/28, aaO, S. 11.

762 Diese letztere Bemerkung deutet wohl auf die zunehmende Belastung des Staats ge -richtshofs durch das Institut der Verfassungsbeschwerde hin und weist einen mög-lichen Entlastungsausweg.

763 So StGH 1995/28 – Urteil vom 24. Oktober 1996, LES 1998, 6 (11) unter Bezug -nahme auf die Ausführungen von Fritz Gygi, Freie und beschränkte Prüfung im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren, in: Kurt Eichenberger u.a., Festschrift für Hans Huber, S. 192. – Zu den Parallelen und Unterschieden zur schweizerischen Judi katur siehe noch sogleich, S. 176 f.

Es dürften diese und ähnliche Ausführungen des Staatsgerichthofs gewesen sein, die wenig später den OGH zu einer deutlicheren «Protest -note» veranlasst haben. Im Verfahren StGH 1997/1 erstattete der OGH eine Gegenäusserung, in der er sich zunächst gegen die Bezeichnung als

‹Beschwerdegegner› verwahrte. Er sei ein unabhängiges Gericht und so-mit bemüht, ohne Ansehen der Person oder der Sache dem geltenden Recht zwischen den Verfahrensparteien Beachtung zu verschaffen. Im Übrigen seien die Ausführungen in der Beschwerdeschrift nicht geeig-net, die Argumentationslinien und das Ergebnis der angefochtenen letz-tinstanzlichen Entscheidung der ordentlichen Gerichtsbarkeit zu er-schüttern. Der OGH habe nach seiner eigenen und ausführlich belegten Rechts auffassung entschieden, was in richtiger Würdigung aller Um -stände noch lange keine Willkür beinhalte. Auch der Staatsgerichtshof habe sich bislang auf die Überprüfung grob unsachlicher Verletzungen beschränkt. Neuerdings aber sei darauf hingewiesen worden,764«mit der Willkürformel einen Spielraum zur differenzierten, einzelfallbezogenen Beurteilung zu eröffnen. Gerade dies halte der OGH aber für sehr ge-fährlich, weil ein solcher Spielraum die Rechtssicherheit im liechtenstei-nischen Staatswesen gefährden und rechtlichen Modetrends Tür und Tor öffnen würde».765

b) Die «Antwort» des Staatsgerichtshofs

Der Staatsgerichtshof indes lässt sich offenkundig auf seinem neu einge-schlagenen Weg hierdurch nicht beirren und weist die Gegenäusserung zurück: «Der Staatsgerichtshof hat … in seinem jüngsten Grund satz ur -teil einen im Wesentlichen mit Höfling übereinstimmenden Standpunkt vertreten. Danach hat das Willkürverbot die Funktion eines Auffang -grund rechts und kommt dann zur Anwendung, wenn kein spezifisches anderes Grundrecht betroffen ist. Der Staatsgerichtshof hat auch bei Will kürbe schwerden die vorgebrachten Argumente des Beschwerde füh -rers grundsätzlich anders als eine vierte Rechts- und allenfalls sogar

Neuere Judikatur des Staatsgerichtshofs

764 Der OGH nimmt dabei Bezug auf meine Ausführungen in «Die liechtensteinische Grundrechtsordnung», S. 221 f.

765 So die Wiedergabe der Gegenäusserung des OGH in StGH 1997/1 – Urteil vom 4. September 1997, LES 1998, 201 (204).

Sach instanz genau zu prüfen … Denn ob eine ihm vorgelegte Entschei -dung nur unrichtig und somit noch vertretbar oder aber geradezu un-haltbar und folglich willkürlich ist, kann der Staatsgerichtshof nur dann fundiert beurteilen, wenn er sich mit den Einzelheiten des Falles einge-hend befasst».766Bei der Überprüfung von Eingriffen in spezifische, in der Verfassung normierte Grundrechte – so führt der Staatsgerichtshof weiter aus – nehme er nach seiner neueren Rechtsprechung im Übrigen nicht nur eine Willkürprüfung, sondern jedenfalls bei schweren Grund -rechts eingriffen eine differenzierte Prüfung vor.767

Die verfahrensrechtliche Neuakzentuierung in der Judikatur des Staats gerichtshofs768wurde begleitet und abgesichert durch eine Fort ent wick lung in der (materiellen) Grundrechtsdogmatik. In seiner Grund satzentscheidung vom 22. Februar 1999769 hat der Staatsgerichtshof nunmehr dem Willkürverbot den Status eines eigenständigen ungeschrie-benen Grundrechts zuerkannt. Zu Recht hat das Verfassungsgericht in einer genauen Analyse der Normbereiche und Normdirektiven des Gleich heitsgebots des Art. 31 Abs. 1 LV und des Willkürverbots770den Charakter des Willkürverbots als eines grundrechtlichen Auffangrechts hervorgehoben.771

3. Zusammenfassende Überlegungen zum Kontroll pro