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verfassungsgerichtlichen Verfahren

1. Problemaufriss und Problemabschichtung

a) Funktionsadäquate Kontrollteilung zwischen sog. Fachgerichts -barkeit und Verfassungsgerichts-barkeit beim Grundrechtsschutz Zu den Kernproblemen einer Verfassungsgerichtsbarkeit mit ausgeprägter Grundrechtsschutzfunktion zählt die (funktionellrechtliche) Auf ga -benabgrenzung gegenüber der sog. Fachgerichtsbarkeit.735Auch die sog.

Fachgerichte,736also die Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichte, sind im Rahmen ihrer Zuständigkeiten nämlich «kleine Verfassungsgerichte».737 Der Vorrang der Verfassung und die Ausstrahlungswirkung der Grund -rechte in alle Bereiche des Rechts738bewirkt eine umfassende Konsti tu -tio nalisierung der Rechtsordnung. Die Zugehörigkeit der Judikative zu den grundrechtsverpflichteten Staatsgewalten bedeutet, dass die Ge -richte in ihrer Tätigkeit die gesamte Rechtsordnung auf die Verfassung hin auszurichten und an ihr zu messen haben. Verletzt eine letztinstanz-liche Gerichtsentscheidung jemanden in einem verfassungsmässig gewährleisteten Recht, so kann er Verfassungsbeschwerde zum Staats ge -richtshof erheben. Das hat der Staatsge-richtshof im Übrigen schon in einer seiner ersten Entscheidungen klargestellt.739 Allerdings ist der Staats gerichtshof – und sind die Verfassungsgerichte ganz allgemein –

735 Dieser Konflikt zeigt sich im Übrigen auch in der jüngsten Phase der Expansion der Verfassungsgerichtsbarkeit in Mittel- und Osteuropa. Ein besonders dramatischer Konflikt zwischen dem Obersten Zivilgericht und dem Verfassungsgericht lässt sich etwa für Albanien nachweisen.

736 Schroff ablehnend gegenüber diesem Begriff jüngst Peter Häberle, Diskussions bei -trag, VVDStRL 61 (2002), 185 ff. (185), wo er sich «zugunsten einer erbarmungslo-sen Verabschiedung des unseligen Terminus ‹Fachgerichte›» äussert.

737 Diesen Begriff von Robert Alexy greift Peter Häberle, aaO, S. 186, auf.

738 Der «Urknall», der den entsprechenden Konstitutionalisierungsschub auslöste, ist für Deutschland das berühmte Lüth-Urteil (BVerfGE 7, 198 ff.); siehe hierzu Robert Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, VVDStRL 61 (2002), 7 (9).

739 Siehe StGH-Entscheidung vom 2. Dezember 1931, in: Entscheidungen des fürstlichliechtensteinischen Staatsgerichtshofes 1931, S. 39 (42); vgl. hierzu auch Wolf -ram Höfling, Die liechtensteinische Grundrechtsordnung, S. 74 f.

nicht zugleich oberstes Zivilgericht740 und nicht höchstes Strafgericht.

Dementsprechend hat es der Staatsgerichtshof – ebenso wie etwa das Bun desverfassungsgericht741– immer wieder abgelehnt, die Rolle einer zu sätzlichen, vierten Berufungs- bzw. Revisionsinstanz zu überneh-men.742 Mit solchen Feststellungen aber ist das eigentliche komplexe Problem der Abgrenzung von sog. Fachgerichtsbarkeit und Verfas -sungs ge richts barkeit erst benannt, nämlich dasjenige der Abschichtung von bloss unrichtiger Auslegung des einfachen Rechts und (qualifizier-ter) Grundrechtsverletzung.743

b) Entwicklungslinien der Judikatur des Staatsgerichtshofs – eine erste Bestandsaufnahme der Rechtsprechung bis Mitte der 90er Jahre

Das vorstehend skizzierte Problem ist in der Judikatur des Staats ge -richts hofs seit langem präsent. Den Ausgangspunkt der verfassungsgerichtlichen Reflexion des Themas bildet die nicht veröffentlichte Grund -satz entscheidung des StGH 1961/1 vom 12. Juni 1961, in der erstmals eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs als verfassungswidrig auf-gehoben wurde.744In dieser Entscheidung öffnet allerdings eine unpräzise Rezeption des Normtextes des Art. 23 StGHG dem Staatsgerichts -hof die Prüfung, wenn er ausführt, aufgrund der Vorschrift könne eine

«Beschwerde unter anderem gegen eine Entscheidung durch ein Gericht in folge unrichtiger Anwendung eines Gesetzes (!) … erhoben wer-den».745 Sodann wirft der Staatsgerichtshof einen rechtsvergleichenden Blick in die Schweiz und nach Österreich: In Lehre und Rechtsprechung

Problemaufriss und Problemabschichtung

740 So in seiner harschen Kritik Uwe Diederichsen, Das Bundesverfassungsgericht als oberstes Zivilgericht – ein Lehrstück der juristischen Methodenlehre, AcP 198 (1998), 171 ff.

741 Siehe bspw. BVerfGE 49, 168 (185).

742 Siehe bspw. StGH 1982/65/V – Urteil vom 15. September 1983, LES 1984, 3 (4);

StGH 1984/16/V – Urteil vom 7. April 1986, LES 1986, 99 (100); StGH 1992/10 und 11 – Urteil vom 23. März 1993, LES 1993, 82 (83).

743 Siehe Wolfram Höfling, Grundrechtsordnung, S. 75; näher im Folgenden, S. 171 ff.

744 Siehe StGH 1961/1 – nicht veröffentlichte Entscheidung vom 12. Juni 1961; hieran ausdrücklich anknüpfend die Entscheidung StGH 1987/18 – Urteil vom 2. Mai 1988, LES 1988, 131 ff. (131); vgl. auch schon oben, S. 129.

745 StGH 1961/1 – nicht veröffentlichte Entscheidung vom 12. Juni 1961, S. 3 – Hervor -hebung hinzugefügt.

beider Länder sei es unbestritten, dass der Grundsatz der Rechts gleich -heit sowohl die Rechtsetzung als auch die Rechtsanwendung binde. Da die Gesetze gegenüber jedermann in gleicher Weise vollzogen werden müssten, könnte unter Umständen hieraus geschlossen werden, dass jede Gesetzesverletzung gegenüber einem Staatsbürger auch eine Verletzung des Rechts der Gleichheit vor dem Gesetz bedeute. Doch sowohl die schwei zerische als auch die österreichische Lehre sowie Rechtsprechung seien sich darüber einig, «dass eine Verletzung des Gleichheitsrechtes nicht schon dann vorliegt, wenn eine Gesetzesverletzung schlechthin ge-geben ist, sondern nun dann, wenn es sich um Willkür handelt, d.h. um eine besonders qualifizierte Ungerechtigkeit bzw. Rechtsverletzung.746 Im gegenteiligen Falle wäre, wie erwähnt, jede Gesetzesverletzung zu-gleich eine Verfassungsverletzung und der Staatsgerichtshof somit regel-mässige Prüfungsinstanz für das gesetzregel-mässige Verhalten aller Behörden, was nicht der Fall ist».747

In der Folgezeit entwickelte sich dann bis weit in die 90er Jahre hinein unter gewissen Schwankungen eine Rechtsprechungslinie, die mit Hilfe bestimmter Formeln ein relativ flexibles Prüfprogramm748 bereit-stellt, dessen sich der Staatsgerichtshof – mal zurückhaltender, mal stärker interventionistisch – zur Kontrolle der grundrechtsrelevanten Judi -ka tur der sog. Fachgerichte bedient.

– StGH 1977/8749hebt ausdrücklich hervor, er sei zur Entscheidung über die Behauptung der Verletzung verfassungsrechtlich garan-tierter Rechte zuständig, «nicht jedoch zur materiellen Überprü-fung einer Entscheidung eines Höchstgerichtes». Es gehe nicht an, dass der Staatsgerichtshof «als sog. vierte Instanz zur Anfechtung

746 Unter Bezugnahme auf Fritz Fleiner/Zaccaria Giacometti, Schweizerisches Bun des -staatsrecht, 1949, S. 413 ff. und Leopold Werner/Hans R. Klecatsky, Das öster-reichische Bundesverfassungsrecht, 1961, S. 68 ff.

747 So StGH 1961/1 – nicht veröffentlichte Entscheidung vom 12. Juni 1961, S. 4, aaO, S. 4 f. hält der Staatsgerichtshof bei der Verletzung verfahrensrechtlicher Bestim -mun gen die grosszügigere schweizerische Rechtslehre für den liechtensteinischen Verhältnissen angemessener. Es sei deshalb nicht, wie in Österreich, zu prüfen, ob bei Verletzung von Verfahrensvorschriften eine subjektiv begründete Benachtei li -gung vorliege, sondern lediglich, ob das formelle Recht so wesentlich verletzt wur-de, dass es einer Rechtsverweigerung gleichkomme.

748 Siehe schon den Hinweis bei Wolfram Höfling, Die liechtensteinische Grund rechts -ord nung, S. 76.

749 StGH 1977/8 – Entscheidung vom 21. November 1977, LES 1981, 48 ff.

des Entscheides der ordentlichen letzten Instanz in einem Ge -richts verfahren verwendet wird. Dieser Versuch, einen unberech-tigten Schutz des FL Staatsgerichtshofes gegen oberstgerichtliche Urteile zu erwirken, muss ins Leere gehen …».750Die Problematik erscheint dem Staatsgerichtshof in dieser Entscheidung so wichtig, dass am Ende seiner Entscheidung er sich nochmals veranlasst sieht, seine Position im Verhältnis zur sog. Fachgerichtsbarkeit zu be stimmen. Es sei unzulässig, nach Erledigung des ordentlichen Instanzenzuges den Beschluss des OGH mit Mitteln und Behaup tun gen anzufechten, die Gegenstand eines ordentlichen Rechts -zuges wären. Damit werde offenbar beabsichtigt, den ordentlichen Rechtsmittelzug von einem Höchstgericht, das in letzter Instanz ent schieden hat, zum Staatsgerichtshof hin zu verlängern. Die Be schwerde setzt sich nur damit auseinander, die Entschei dungs -gründe des OGH zu widerlegen. Es mangele der Beschwerde aber

«an echten verfassungsrechtlichen Argumenten».751

– In den 80er Jahren lauten die Eingangsformulierungen in der Be -grün detheitsprüfung752 durchweg, der Staatsgerichtshof verstehe

«in ständiger gefestigter Rechtsprechung» seine Zuständigkeit zur Prüfung letztinstanzlicher gerichtlicher Entscheidungen im Rah -men von Verfassungsbeschwerden wie folgt: Die Kontrolle letztin-stanzlicher gerichtlicher Entscheidungen beschränke sich aussch-liesslich auf die Beachtung der in Art. 28 ff. der Landesverfassung und der in der EMRK gewährleisteten Rechte. Eine «weitere instanzenmässige einfachgesetzlich gründende Sach und Rechts prü -fung» könne mit der Verfassungsbeschwerde nicht bewirkt

wer-Problemaufriss und Problemabschichtung

750 StGH 1977/8, aaO, S. 50 f.

751 StGH 1977/8 – Entscheidung vom 21. November 1977, LES 1981, 48 (53).

752 Es ist darauf hinzuweisen, dass der Staatsgerichtshof von Anfang an die hier disku-tierten Aspekte nicht als Zulässigkeitsproblem aufgefasst hat, sondern als einen Aspekt der materiellen Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde; siehe auch Hilmar Hoch, Schwerpunkte der Entwicklung der Grundrechtsprechung des Staats gerichtshofes, in: Herbert Wille (Hrsg.), Festgabe Staatsgerichtshof, S. 65 (76), der hervorhebt, der Staatsgerichtshof trete – anders als das schweizerische Bun des gericht – auf Willkürbeschwerden «ohne weiteres ein», auch wenn die Er folgs -chancen solcher Verfassungsbeschwerden «zwangsläufig gering» seien. «Doch ist dies für den Staatsgerichtshof eine materielle und keine Legitimationsfrage». Unter Bezugnahme auf StGH 1998/42, LES 1999, 295 (2989 Erw. 4 f.) und StGH 1999/7.

Hilmar Hoch, aaO, FN 51, weist allerdings darauf hin, dass der Staats ge richtshof sich «noch nie explizit mit dieser Thematik befasst» habe.

den.753In behaupteter unrichtiger Anwendung von Gesetzen und Verordnungen allein sei eine Verletzung verfassungsmässig ge-währleisteter Rechte nicht zu erblicken,754sofern nicht eine als ver-fassungs- oder gesetzeswidrig erkannte Norm angewandt oder eine qualifiziert unsachliche Rechtsanwendung erweislich wäre, die einer Verletzung des Gleichheitsgebotes oder tragender Rechts -grund sätze als Willkür gleichkäme.755Gelegentlich sieht der Staats -ge richtshof sich zu der Feststellung veranlasst, we-gen der «sich meh renden Verfahren» komme er «nicht umhin, diese Prüf kri te -rien besonders genau zu beachten».756

– Bis weit in die 90er Jahre hinein bleibt das der massgebliche Kern der einschlägigen Judikatur des Staatsgerichtshofs, die lediglich in sprachlichen Nuancen variiert wurde, ohne dass in der Sache eine Neu konzeption ersichtlich wäre. Gelegentlich hebt der Staatsge -richts hof darauf ab, dass die von ihm zu überprüfenden Urteile auch in richterlicher Unabhängigkeit ergangen seien. Insbesondere verfahrensleitende und zwischenprozessuale Entscheidungen, die allerdings unmittelbare Rechtswirkungen für die Parteien hätten, könne er nur daraufhin überprüfen, ob das Gesetz «denkunmög-lich oder so unsach«denkunmög-lich grob verfehlt angewendet wäre, dass die ge-troffene Entscheidung einer erweislich verfassungswidrigen, oder im konkreten Fall erkennbar willkürlich unsachlichen Rechtsan -wen dung gleichkäme und damit der Rechtsfindung ein so schwerer

753 Andere Formulierung z.B.: «Eine rein appellatorische Begründung zum Zweck der Schaffung einer zusätzlichen Beschwerdeinstanz reicht … nicht aus, um eine Ver fas -sungs verletzung darzutun»; so StGH 1984/17 – Urteil vom 25. April 1985, LES 1985, 100 (104).

754 Siehe bspw. StGH 1984/17 – Urteil vom 25. April 1985, LES 1985, 100 (104): «Ob die Verwaltungsbeschwerdeinstanz das LVG unökonomisch ausgelegt (hat), ist ver-fassungsrechtlich unerheblich»; ferner StGH 1988/15 – Urteil vom 28. April 1989, LES 1989, 108 (114): Unzulässig sind auch «Geschäftsordnungs oder Disziplinar -ein wände».

755 So etwa StGH 1987/18 – Urteil vom 2. Mai 1988, LES 1988, 131 (132) unter Bezug und, wie es heisst, «in Zusammenfassung ständiger Rechtsprechung» zuletzt StGH 1984/6 und 1984/6/V in LES 1986, S. 61 ff.; StGH 1984/11 und 1984/11/V in LES 1986, S. 63 ff.; StGH 1987/4 vom 9. November 1987; ferner bspw. StGH 1984/18 – Urteil vom 24. April 1985, LES 1987, 33 (34).

756 So StGH 1984/9 – Urteil vom 25. April 1985, LES 1985, 108; StGH 1984/12 – Urteil vom 8./9. April 1986, LES 1986, 70 (71).

Fehler unterliefe, der mit erweislicher Gesetzwidrigkeit gleichzu-setzen wäre».757