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V a le r ij Brjusov schrieb 1905 in seiner Betrachtung "Frauen als D ich te r": "Für Mirra Lochvickaja können die Worte Goethes von den , zwei Seelen, die in einer Brust wohnen', gelten"5. Brjusov sieht in ihren lyrischen Bildern zwei einander widerstrebende Gefühle verkörpert, eine allumfassende menschliche Liebe in ihrem Wider- s t r e i t gegen das Böse einerseits und einen unverkennbaren Egois- mus, verbunden mit s ic h tlic h e r Verachtung der Massen anderer- s e its .

Diesen Gedankengängen kann nur ganz wenige Jahre später ein gegenüber der russischen F rauenliteratur so fe in fü h lig e r S lā v is t wie A. Luther n icht folgen. Vielmehr rühmt er sie als "das ursprünglichste und weiblichste lyrische Talent unter den russischen S c h rifts te lle rin n e n . Sie hat nur ein Thema: die Liebe, und zwar weiß sie von Liebesleid sehr wenig zu sagen, um so mehr aber von dem Glück der schrankenlosen, hingebenden, durch und durch weiblichen Liebe"4.

Mirra Aleksandrovna Lochvickaja (1869 - 1905) wurde in Petersburg geboren. Der Vater, Juraprofessor, förderte die Talente seiner beiden Töchter Mirra und Nadežda, indem er sie durch Hauslehrer auf ihren weiteren Bildunqsweg vorbereiten lie ß . Nadežda schrieb später unter dem Pseudonym " T é f fi" , aus Mirras Feder erschien bereits kurz nach ih re r Beendigung des I n s tit u t s 1888 in Moskau ein kleines Gedichtbändchen. Von 1900 bis 1904 werden in regelmäßig kurzen Abständen fünf Bände v e rö ffe n tlic h t, die vorwiegend Gedichte, aber auch Balladen, ein Märchen und zwei große Dramen in fünf Akten enthalten. 1896 erscheint ein w eiterer Gedichtband, nachdem die D ichterin kurz vorher mit dem Puškinpreis geehrt wurde. Konnte sie die Auszeichnung noch entgegennehmen, so erlebte sie das Erscheinen des Gedichtbandes bereits n ich t mehr. Ih r 1904 geschriebenes Gedicht "Ich möchte jung sterben" (Ja choču umeret׳ molodoj) s o llte sich nur ein Jahr später tragisch e rfü lle n :

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Ja cho£u umeret' molodoj,

Ne l ju b lj a , ne g r u s t'ja n i о kom;

zo lo to j z a k a tit's ja zvezdoj, Obietet ׳ neuvj ad£ im cvetkom. 7

Das Vorwort zu diesem Gedichtband, unterzeichnet m it den I n i - tia le n K. R., das i s t Konstantin Romanov, versucht, ein Resümee ih r e r bevorzugten lite ra ris c h e n M itte l zu geben, und s t e l l t die immer wieder v a riie rte n lite ra ris c h e n B ild e r heraus: " l i l i i , rozovye k r y l 'j a , dychan'e viSen i s ir e n i, lunnuju gresu nad t'm o ju . . . zemnoj, parus p ly v u ä ij v lazurnyj tuman, dychan'e ïasminov i roz"s. Die in diesem Band gesammelten Gedichte nehmen das Gefühl der Liebe auf, gedenken aber auch ihres Gegenpols, des Leids. So beginnt das Gedicht "Was i s t der Frühling?" (čto takoe vesna?) jeden seiner d re i Abschnitte m it einer Frage, die in den nachfolgenden Versen b ild h a ft e rw e ite rt wird:

Rasskaifite vy mne, i t o zovetsja vesnoj?

Vy povedajte mne о pedali zemnoj

čto zovetsja lju b o v 'ju v p e ia li zemnoj?

um sie abschließend zu einem gemeinsamen Sinn zusammenzuführen:

Smert׳ nad mirom c a r it , a nad sm ert'ju ־ lju b o v '!9

Zieht man in Betracht, daß Lochvickaja sich auch in zwei großen Dramen m it sehr ernsten Problemen auseinandersetzte - das im Jahre 1900 im Band I I I gedruckte Stück "In nomine Domini" i s t nach den Akten des 1610/11 gegen Louis G a u ffrid i geführten Inquisitionsprozesses geschrieben - so f ä l l t es immer schwerer, sich dem einen oder anderen, Brjusovs oder Luthers, U r te il anzuschließen. In den "K ritischen Untersuchungen des 5. Bandes der Gedichte M. A. Lochvickajas" nimmt K. R. sein Resümee wieder auf und ' e rw e ite rt es zu einer generellen Wertung. Nachdem er eingangs fe s tg e s te llt hat, daß "Fráu Lochvickaja ( ïib e r ) ein poetisches Talent b e s itz t" , schlußfolgert er nach penibler K r i t i k , die eher einem Verriß gleichkommt: "Ih re Werke hätten zu den Schätzen unserer L ite ra tu r gehören können, wenn sie n ic h t mit Erscheinungen verbunden gewesen wären, die wenig m it echter Poesie gemein haben, n ic h t Worte gebraucht h ä tte , die dem gesunden Menschenverstand zuwiderlaufen, n ic h t zu bei ihrem Talent und ih re r reichen Phantasie v ö llig überflüssiger

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G eziertheit und K ünstlichkeit Zuflucht gesucht hätte10" .

Widersprüchlich f ä l l t das U r te il also dort aus, wo ih r l y r i - sches Credo in unterschiedlicher Weise in Beziehung zu den sie umgebenden Strömungen gesetzt wird. Wo "das Glück der schrankenlosen Liebe" und der "melodisch einschmeichelnde Klang ih re r Verse"11 geschätzt und die Dichterin als eine Vorläuferin der Moderne gesehen und neben N. Minskij und K. Bal1mont g e s te llt wird - der ihres frühen Todes durch das Gedicht "Dem Gedenken der von uns gegangenen M. A. Lochvickaja" (Pamjati usedsej o t nas M. A. Lochvickoj) gedacht hat - dort e rh ä lt sie in der L ite ra tu r- geschichtsschreibung einen bescheidenen Platz.

Sieht man hingegen ihre Dichtung als "begrenzt in der Sphäre persönlicher, intim er Gemütsbewegungen"12 und beschreibt ih r Ver- h ä ltn is zum Dargestellten als "bedingte, dekorative, der L ite ra tu r entlehnte Leidenschaften"13, so muß man ihre L yrik als von den dominant auch in der Ästhetik angesehenen sozialen Prozessen weit e n tfe rnt empfinden. Nachdem der russischen Deka- denz fü r Jahrzehnte dieser Stempel aufgedrückt wurde, war fü r eine Vorläuferin dieser Dichtung kaum mehr ein Platz zu finden.

Mirra Lochvickajas lyrisches Talent konnte sich n ich t v o ll e n tfa lte n , obwohl von außerordentlichen Erfolgen b e rich te t wird, die sie bei A u ftritte n zu Slučevskijs "Freitagabenden" oder bei ö ffe n tlich e n Konzerten hatte, was außer ih re r Lyrik auch ihrem persönlichen Charme zugesprochen wurde. Nehmen w ir es als Lob eines überaus kritisch e n Betrachters russischer L y rik , wenn Brjusov 1905 prophezeit: "Für eine künftige ,Anthologie der russischen Poesie1 wird man von Lochvickaja etwa 10 - 15 w irk lic h untadelige Gedichte auswählen können"14.

Daß dies bei Brjusov w irk lic h ein großes Lob i s t , zeigt seine vernichtende Rezension zu G la fira Adol*fovna Galinas (1870 - 1942) Buch "Lieder der Morgendämmerung" (Predrassvetnye pesni), das 1906 in Petersburg erschien. Er widmet ih r ganze acht Zeilen, die in den Worten "schablonenhafte Gefühle, schablonenhafte Ge- danken, schablonenhafter Rhythmus"15 g ip fe ln . Doch fü r eine Frau mit einer sehr bürgerlichen Biographie - nach der Gymnasialzeit stand sie sechs Jahre im Dienst des Petersburger Telegrafenamtes - die zwischen 1899 und 1910 in vielen Z e its c h rifte n Gedichte

v e rö ffe n tlic h te , die eine Povest aus dem M ilieu des Telegrafenamtes schrieb, fü r ein Jahr Aufenthaltsverbot in der Hauptstadt e r h ie lt, w eil sie m it dem Gedicht "Man schlägt den Wald - den jungen zartgrünen Wald" (Les ru b ja t - molodoj neáfno-zelenyj les . . . ) gegen Gewaltakte gegenüber Studenten p ro te s tie rte , fü r eine solche Frau i s t dies ein zu einseitiges U r te il• Gerade das letztgenannte Gedicht, zuerst in Genf und später in Rußland gedruckt, muß die D ichterin in breiten Kreisen bekannt gemacht haben•

In einem einfühlsamen B ild läßt die D ichterin Mitgefühl fü r den zu früh geschlagenen Wald, fü r die aufbegehrenden, nach dem Lichte strebenden jungen Pflanzen der Demokratie erstehen. Dieser Wald wird sich zu seiner vollen Größe n ic h t erheben, doch die Erde, die je t z t die Samen der geschlagenen Bäume bedeckt, wird einen neuen Wald hervorbringen:

Projdut goda, i moSínoj ifiz n i s i l o j Podnimaetsja borcov zelenaja stena ־ I snova zašumit nad bratskoju m ogiloj16

Ihre offene Sympathie fü r das demokratische Recht drückte sie auch an anderer S te lle aus, als sie einen Gedichtzyklus aus Anlaß des Burenkrieges schrieb. Über ihren weiteren Lebensweg i s t wenig bekannt, das neueste verfügbare Lexikon begnügt sich mit dem Satz

"Nach 1917 nahm sie keinen A n te il am lite ra ris c h e n Prozeß"17. Galina indes lebte auf andere Weise im Gedächtnis der Men- sehen weiter• Ihre sch lich te , melodische Dichtung regte v ie le Komponisten zu Vertonungen an - M. Gnesin, S. Rachmaninov, A.

Gre£aninov• Ob ihre Märchen und Erzählungen fü r Kinder lebendig geblieben sind, müßte erforscht werden.

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L id ija Zinov'eva-Annibal

Ih re Prosa - mehr als nur erotische Provokation

Bevor man sich dem Gesamtwerk L id ija Petrovna Zinov'eva-Annibals (1866 1907 ־ ) widmen kann, muß man sich ih re r Povest 1,Dreiunddreißig Z e rrbilder" (T rid ca t׳ t r i uroda) zuwenden, die 1907 erschien und Publikum und K r it ik in h e lle Aufregung ver- setzte. Selbst wenn die damalige Diskussion eher die äußere Hülle b e tra f und das e ig e n tlich Literarische mehr v e rh ü llte als offenbarte, so b lie b doch gerade diese Wertung fü r eine lange Z e it ausschlaggebend, denn L id ija Petrovna verstarb kurz nach der Veröffentlichung und mitten in der heftigsten K r it ik zu diesem Büchlein. Sie ging so, wo überhaupt, mit eben dieser tendenziösen Einschätzung in die Literaturgeschichte ein.

Die Povest th em atisiert die Liebe zweier Frauen zueinander und beschreibt sie aus einer Position der Achtung und des Ver- ständnisses. Dies r u f t eine L it e r a t u r k r it ik auf den Plan, die zum Beispiel in G. Novopolin einen fanatisch puritanischen V ertreter hat: "In der Person Zinov'eva-Annibals f ä l l t eine S c h r ifts te lle r in derart t i e f - sich weidend an sexueller Per- v e r s itä t, bis zum K ult lesbischer Liebe

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- so l e i t e t er seine Verurteilung ein. Doch geht es ihm offenbar weniger um die Existenz solcher zwischenmenschlicher Beziehungen, auch n ich t um deren Beschreibung an sich - S c h r ifts te lle r gleicher Thematik wie M. ArcybaSev oder A. Kamenskij nennt er "wahre Kolosse im Ver- gleich mit dem winzigen Talent eines Kuzmin oder einer Zinov'eva-Annibal19" - wie er es vielmehr fü r absolut undenkbar h ä lt, daß gerade eine Frau die Liebe zwischen zwei Frauen beschreibt: "Von einer russischen Frau könnte man etwas anderes erwarten als das Propagieren einer der 48 Möglichkeiten menschlicher Vereinigung"20.

M it s ic h tlic h e r H ilflo s ig k e it muß der Verfasser dieser K r it ik deshalb am Schluß seines A rtik e ls einräumen, daß diese Frau dennoch einen unerhörten Erfolg hat und T o ls to j, G o r'k ij und Andreev in der Gunst der Leser weit h in te r sich lie ß . Dies veranlaßte weder den K r itik e r zu tieferem Nachdenken noch hinderte es die Zensur, den zweiten T e il der Ausgabe 1907 zu

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konfiszieren.

Näher an das Buch heran kommt ein ernsthafter S c h r ifts te lle r und K r itik e r wie A. Amfiteatrov, der in seinem Buch "Gegen den Strom" (P rotiv teifenija) auch Zinov'eva-Annibals Povest betrach- t e t . Er s t e l l t zunächst einmal fe s t: "Dies i s t ein Buch sexueller Verirrung, n icht aber Pornographie"21, nimmt ihm dadurch den Vor- wurf des "Unanständigen" und wendet sich endlich seiner w irklich en Beschreibung zu: "Von einer lite ra ris c h e n Bedeutsamkeit lohnt es sich f r e i l i c h n ich t zu reden • •. Die Povest i s t nur dort gut, wo sie eine Beichte von d ire kte ste r O ffenheit d a r s te llt" 22. Dies scheint zunächst mit A. Belyjs U r te il übereinzustimmen, das einem Verriß der L it e r a r iz it ä t dieses Textes gleichkommt: "Weder das Thema noch seine Darstellung können die Langeweile vertreiben, die den Leser von den ersten Seiten an e r g r e ift und zum Einschlummern drängt"23. Dies wiederum e n tsp rich t so gar n icht den lautstarken Diskussionen, und es korrespondiert auch n ich t gänzlich m it Amfiteatrov. Dieser sucht den Wert der Povest n icht in ih re r künstlerischen Form, sondern in der Dokumentation eines ta b uisierten Themas, dessen Erörterung er zwar le t z t lic h in den medizinisch-psychlogischen Bereich verweist, wozu jedoch die l it e r a r i s ie r t e Beichte beitragen könne:

"Ja, wenn die gleichgeschlechtliche Liebe in Rußland e in st n icht nur süßlich-sentimentale dekadente Seufzer und Äußerungen puritanischen Abscheus hervorrufen wird, sondern Gegenstand seriöser wissenschaflicher Forschung i s t , so wird d o rt, unter den , lite ra ris c h e n Dokumenten', das Buch Annibal-Zinov'evas einen Platz haben - einen in höchstem Maße nützlichen und aus- drucksvollen"24. Die von Amfiteatrov h ie r p ra k tiz ie r te Vorgehens- weise e rin n e rt sehr an Puákins Herausgabe der ersten K apitel von N. Durovas "K a va lle rist-d e vica ", in denen er das historische Dokument würdigte und lite ra ris c h e "Abschweifungen"

herauszunehmen suchte. Durova hatte darauf sehr brüsk re a g ie rt und Puškin die weitere Herausgabe entzogen. Offenbar v e r s t e llt die Konzentration auf das "Dokument" den B lic k fü r den beabsichtigten Selbstausdruck der Autorinnen, fü r die Be- Sonderheit ihres fik tiv e n Welterfassens. So spürt Amfiteatrov wohl selbst, daß die Autorin sein Lob bezüglich des "Dokumentes"

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kaum b e frie d ig t hätte: "Es i s t interessant, daß Annibal- Zinov'eva n ic h t einmal ahnte, zu welchem Triumph sie dem ih r verhaßten Realismus in ih re r Povest ve rh a lf"25.

*

Die so umfängliche Wiedergabe lite r a tu r k r itis c h e r Äußerungen noch vor der Betrachtung des Werkes selbst i s t an sich ungewöhn- lie h , in diesem Falle jedoch ve rtre tb a r, i s t doch ein größerer Gegensatz von Werk und K r it ik kaum v o rs te llb a r. Ein von heutigem Verständnis von S exualität, Homosexualität und Pornographie ausgehender Leser wird bei der Lektüre von "Dreiunddreißig Z e rrb ild e r" kaum glauben wollen, daß die K r itik e r w irk lic h über dieses Buch s tre ite n . Der "offenste" Satz der Povest könnte v ie lle ic h t sein: "Sie küßte mir die Augen, die Lippen, die Brust und s tre ic h e lte meinen Körper"26. Dieser S tre it sei denn auch b e iseite gelegt und gefragt, welcherart Intentionen diesem Text zugrunde liegen.

Aufgebaut i s t er in der Form eines Tagebuches, geführt von einer jungen Frau, die in das magnetische Feld einer lesbischen Schauspielerin gerät. Diese Form einer auf sich selbst bezogenen Beichte i s t in der russischen Frauenliteratur nicht dominierend.

Die Autorinnen konzentrierten sich o f t auf die Wiedergabe h is to - ris c h mehr oder weniger bedeutsamer Personen und Ereignisse, dabei den eigenen A n te il ־ je nach Temperament - mehr oder weniger einbringend, einer psychologischen Selbstanalyse jedoch ausweichend. Nun übersehen w ir f r e ilic h n ich t, daß es sich h ie r um einen fik tiv e n Ansatz handelt. Wir wissen jedoch heute, wie sowohl f ik t iv e Lebensbeichten von Frauen als auch Dokumente wie Tonbandaufzeichnungen und Protokolle zu Ansätzen geführt haben, das Thema der Selbstverwirklichung der Frau fü r die Gesellschaft wieder zu öffnen.

Die Povest i s t in kurzen, prägnanten Sätzen geschrieben, sie vermeidet jede Langatmigkeit, konzentriert sich ausschließlich auf die Beziehung der beiden Protagonistinnen, der Ich - Erzählerin und der Schauspielerin Vera, und fü h rt g e ra d lin ig zum Höhepunkt, dem tragischen Selbstmord Veras. Von den ersten Seiten bis zum Schluß i s t Vera die herrschende, starke Frau:

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Vera strannaja. (S. 11)

Vera! Ona sovsem ne dobraja. (S. 15)

Ja te p e r' otdaju Vere vsju svoju v o lju . (S. 51)

Ja dopišu, potomu i t o takaja byla ее v o lja . . . (S. 69)מ Die Erzählerin wird von dieser starken Frau am Tage vor ih re r Hochzeit m it der Erklärung an sich gebunden, nur m it ih r könne sie w irk lic h g lü cklich werden. Es folgen Tage v o lle r Gefühls- ausbrüche, Tränen und Liebesbezeucfungen• Vera, die vor zweierlei Verhaltensweisen Angst hat - Untreue und Gewöhnung - s e tz t einen sich s te tig zuspitzenden K o n flik t in Bewegung: Sie w i l l die Erzählerin "der Menschheit" schenken. Dazu nimmt sie sie mit ins Theater, versch afft ih r kleine Rollen und stimmt nach langem Zögern zu, daß jene dreiunddreißig Maler, die gemeinsam ein A te lie r benutzen, sie malen dürfen. Die Bekanntschaften, die sie auf diese Weise schließt, könnten ih r die große Welt eröffnen - eine Reise nach Paris, nach Amerika. Vera jedoch i s t auf ihren Erziehungserfolg s to lz , und g le ic h z e itig zerreißt er ih r das Herz* Längst hat sie begriffen, daß ihre Geliebte fü r sie verloren i s t , und doch bekennt sie : "Das.habe ich so gew ollt"28.

Das Öffnen der In d iv id u a litä t der anderen, das Geschenk des Körpers und die Transformation der eigenen K ra ft hat Veras Selbstvernichtung zur Folge. Dies a lle s i s t in bewundernswerter Form, in einer Verknappung, der unendliche Mühe vorausgegangen sein muß, von Zinov'eva-Annibal aufgeschrieben worden. Als Povest in Tagebuchform. Als w irklich e L ite ra tu r.

Um auf Amfiteatrovs Aussage von der unw illkürliche n Nähe zum Realismus zurückzukommen, könnte man dieser Povest die Komposition d re ie r kle in e r Erzählungen entgegenstellen, die im 1906 erschienenen ersten Band des Almanachs "Fakely" enthalten sind. Beginnt die Autorin mit einer ganz tra d itio n e lle n Erzählung wie "Die Bärenkinder" (Medvežata), in der von einer Erzählerin Kindheitserlebnisse mit zwei kleinen Bären wiedergegeben werden, so s te lle n die beiden nachfolgenden "So helfen Sie doch!"

(Pomogite vy) und "PaSa" einen fortlaufenden Gedankenstrom dar.

Ausgehend von der Frage nach dem Sinn des Lebens, Gedanken über den Tod einschließend, Erinnerungen an die Mutter weckend, diese erweiternd in Überlegungen zur Stellung der Frau in der

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Gesellschaft und endend mit der Frage nach der in d ivid u e lle n Schuld am Zustand des beschriebenen Seins und einer Hoffnung in Gott! wird ein 1'In h a lt11 im realistischen Sinne vermieden. Der Kontrast zur einleitenden Erzählung i s t offenkundig T e il der Gesamtaussage, indem sich Handlung in einen Gedankenstrom a u flö s t.

Zinov'eva-Annibals Erzählungen, vor allem der ebenfalls in ihrem Todesjahr 1907 erschienene Band "Tragische Menagerie" (Tra- g iő e s k ij zverinec), erreichten ein positiveres Echo in der K ri- t i k , wobei A. Blok, der insgesamt "von einem bemerkenswerten Buch" s p ric h t, auf die großen Hoffnungen verwies, zu der ein solches Talent berechtigt hatte. Wie aus Briefen VjaSeslav Ivanovs29 an V. Brjusov hervorgeht, hatte L id ija Zinov'eva- Annibal in den wenigen Jahren ih re r lite ra ris c h e n T ä tig k e it - sie debütierte 1904 mit dem Drama "Die Ringe" (Kol'ca) - v ie lf ä lt ig e Talente entwickelt. Sie schrieb nicht nur in a lle n drei Gattungen, sondern b e te ilig te sich an der A rbeit der Z e its c h r ift

"Vesy", schrieb Rezensionen und ein lite ra ris c h e s P o rträ t Andre Gides. Ih r bereits 1903 gewähltes Pseudonym30 "Annibal" geht auf Vorfahren m ütterlicherseits zurück.

Ih r früher Tod beendete v o rz e itig den eben e rs t begonnenen Weg in die L ite ra tu r. Sie selbst g e rie t r e la t iv schnell in Vergessenheit, ih r Thema aus "T rid c a t׳ t r i uroda" jedoch wurde rasch von anderen Frauen aufgenommen und w eitergeführt.

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