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Gleichermaßen zurückgezogen wie Sochanskaja und nur von Z e it zu Zeit in Moskau und Petersburg Kontakt zur lite ra ris c h e n Ö ffent- lic h k e it suchend, lebte J u lija Valerianovna Žadovskaja (1824 - 1883). Ih r Schicksal durchzieht ein Hauch von u n e r fü llte r Sehn- sucht und der ständige Versuch, mit den M itte ln der Ratio Ruhe zu gewinnen. Von Geburt an mit einer Verkrüppelung behaftet - ih r fe h lte die lin k e Hand gänzlich und an der rechten zwei Finger ־ v e rlo r sie in früher Kindheit ihre Mutter, wurde zunächst von der Großmutter erzogen, wo sie auf dem Lande r e la t iv f r e i und in Liebe zur Natur aufwachsen konnte, und dann zu einer begüterten Tante nach Kostroma gegeben. Diese v e rö ffe n tlic h te unter ihrem Mädchennamen Gotovceva13 zwischen 1826 und 1839 selbst Gedichte, und J u lija Žadovskaja kam in jenem Moment zu ih r , a ls deren dichterische Versuche gerade in einzelnen Z e its c h rifte n erschienen. Dies mußte sich in Atmosphäre und Erziehung auf die Nichte auswirken, die U nterricht in Sprachen und L ite ra tu r e r h ie lt. Offenbar weckte die Tante dadurch ein besonderes Talent, denn als J u lija später ein Privatpensionat besuchen konnte, wurde

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der Philologe P. M. Perevlesskij auf ihre dichterische Begabung aufmerksam und förderte sie. Die sich aus diesen gemeinsamen Interessen entwickelnde Liebe zueinander fand jedoch keine E rfü llu n g . J u lija s Vater, in dessen Haus sie inzwischen zu־

rückgekehrt war, lehnte die Ehe seiner Tochter mit einem unbegü- te rte n Beamten ab.

Žadovskajas Empfindungen und Gedanken dazu haben in v i e l ־ fä ltig e n Formen und Varianten sowohl in ihre L yrik als auch in ihre Prosa Eingang gefunden, was zu dem vorschnellen Schluß v e rle ite n kann, in ihren Texten in erster L in ie das Biographische zu sehen: "In a l l ihren Werken gestaltete sie ein und dieselbe Heldin ־ sich se lb st"14. Erst wenn man mehrere Werke von ih r gelesen hat, wird deutlich, wie o f t sie das Thema der u n e rfü llte n Liebe aus Standesrücksicht v a r iie r t und dabei verschiedene Lösungsmodelle durchspielt.

Wohl i n t u i t i v meistert die Vierundzwanzigjährige t r a d it io - n e lle Verfahren des betont "re a listisch e n " Schreibens. 1848 v e rö ffe n tlic h t sie eine Povest mit dem T it e l "Der Briefwechsel"

(Perepiska), deren erster T e il aus kurzen Briefen einer jungen Frau, Ida, an ihren Geliebten, Ivan Petrovič, besteht, fla n k ie r t von ebenso kurzen Mitteilungen "wohlmeinender" Damen der Gesellschaft an Idas Tante, die in W irk lic h k e it Denunziationen darstelle n.

In den Notizen der jungen Frau - B riefe kann man sie n icht e ig e n tlich nennen, weil sie mit einer kurzen M itte ilu n g , einer B itte , einem Gedanken le d ig lic h die Zeit bis zum Wiedersehen mit dem Geliebten noch am gleichen Abend überbrücken sollen - drückt sich nicht nur ein tie fe s Gefühl fü r Ivan Petrovič aus, sondern sie re fle k tie re n auch die eigene, in vielem skeptische Haltung zu ih re r Umgebung: "Mich schaudert, Ivan Petrovič! Was, wenn in mir selbst eine zukünftige Herrin oder Dame verborgen i s t , vom Scheitel bis zur Sohle mit Visiten und Gewändern beschäftigt und außer diesem nichts im Leben mehr wahrnehmend?"15 Es i s t dies eine Welt mit Moralgesetzen, die dem reinen Gefühl Idas entgegenstehen. Die "wohlmeinenden" Damen unterrichten sich gegenseitig über den "Skandal" und legen dafür ihre eigenen Wertmaßstäbe an: "Welche Unmoral steckt in diesem jungen

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Mädchen!"16 So kann es n icht verwundern, daß es zu einer Auseinandersetzung zwischen Ida und ih re r Tante kommen muß, die nun, kennt man Žadovskajas Lebensgeschichte, wiederum ganz und gar biographische Ausgangspunkte zu haben scheint, in der Gesamtanlage jedoch zu einer fik tiv e n Geschichte fü h rt, die in einem längeren Prolog den weiteren Lebensweg der Heldin erzählt, der in beiden Fällen in eine Vernunftehe fü h rt.

Žadovskaja ging selbst diesen Weg, um von ihrem Vater unabhängig zu werden. Sei es nun die Ehe mit einem älteren Witwer und die Verantwortung fü r dessen Töchter, sei es der geringe E rfolg, den ihre letzten Prosaarbeiten, der Roman "Eine Frauengeschichte" (Ženskaja is t o r ija , 1861) und die Povest "Die Zurückgebliebene" (O tstalaja, 1861) bei den Lesern und in der K r i t ik hatten ־ J u lija Žadovskaja zog sich vollkommen von der L ite ra tu r zurück. Vor allem die G le ic h g ü ltig k e it der K r it ik gegenüber ihrem Werk hat sie sehr v e rle tz t. SkabiČevskij fü h rt in seinem Nachwort zur postumen Werkfiusgabe an, es sei bereits sehr schwierig gewesen, die beiden Prosatexte überhaupt in einer Z e its c h r ift unterzubringen, und als sie dann 1861 doch erschienen, "v e rh ie lt sich das Publikum mit v ö llig e r Gleichgül- t ig k e it zu diesen Werken, und die K r it ik v e rlo r n icht ein ein- ziges Wort darüber"17. Ob ihre beiden Stücke eine Realisierung auf der Bühne erfahren haben, i s t nicht bekannt18.

Dabei hatte ih r lyrisches Werk vielfache Beachtung gefunden.

Ih r e rste r Gedichtband erschien 1846 und wurde von einer Reihe p o s itiv e r Rezensionen b e g le ite t19. B e lin s k ij nahm ihn in seine Jahresbetrachtung 1846 auf, wobei er sich allerdings mit einiger Skepsis äußert: "Tatsächlich kann man in diesen Gedichten so

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etwas wie poetisches Talent nicht leugnen. Es i s t nur schade, daß Quelle und Ausgangspunkt dieses Talentes n ich t das Leben, sondern der Traum i s t und daß es deshalb k e in e rle i Beziehung zum Leben hat und arm an Poesie i s t " 20. Dieser von B e lin s k ij so typisch fü r die revolutionär-demokratische K r it ik gezogene d ire kte Vergleich von Lebenspraxis und Poesie t r i f f t nun Žadovskajas Intentionen w irk lic h n ic h t. In ih re r Lyrik i s t der Realitätsbezug wesentlich v e rm itte lte r, weniger d ire k t, und er

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vorwiegend über das Empfinden der Autorin gewonnen. Und dieses Empfinden wiederum i s t

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geprägt von dem Grunderlebnis einer Liebe, die fü r kurze Zeit Glück verhieß, später in Trauer und Resignation übergeht, wobei nur die Erinnerung Erleichterung b rin g t:

UÏ teper׳ ne to , tfto by lo preífde!

Grustno mne, как vspomnju о bylom:

Raskryvalas' sladko grud׳ nadeXde I meïtam о s b a s tii zemnom;21

Liebe, Leid und Einsamkeit sind Gegenstand v ie le r ih re r Gedichte.

Jedes fü r sich w irk t echt und unverfälscht, in der Summe f r e il i c h bedrückt das Gefühl der Resignation. Daß sich dieses ganz priva te Empfinden auch in einer erweiterten Sicht auf die Umgebung aus- w irk t, muß jedoch, entgegen B e lin s k ijs Ansicht, eher als eine sehr re a lis tis c h e Haltung angesehen werden, die auch fremdes Leid zu empfinden imstande i s t :

Vse как by v tumane, Vse, как budto s p it . . . V chuden'kom kaftane Mu£i£ok s t o it ,

Golovoj kačaet, ־ Umolot plochoj , - Dumaet-gadaet :

Как- to b y t' zimoj?22

Die S ch lich th e it der Sprache und B ilder in solchen Versen hat Glinka und DargomyXskij zu Vertonungen angeregt. So i s t Žadov- skaja wenigstens ein schmales Feld der Erinnerung geblieben.

Di• d re i Schwestern ChvoSiinskaja: NadeSda Dmitrievna (1825 - 1889), Sof' j a (1828 - 1865) und Praskov'ja (1832 - 1916)

Es i s t unverkennbar, daß sowohl Nadeida Sochańska ja als auch J u lija Žadovskaja sich in der Enge ihres Gesellschaftskreises und unter dem schmerzlichen Eindruck eines u n e rfü llte n Lebens als Frau n ich t v o ll in der L ite ra tu r e ntfa lten konnten. Beginnt man

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die Bekanntschaft m it den Schwestern ChvoŽČinskaja von den

biographischen Fakten her, so scheint ihnen ein gleiches Schicksal beschieden zu sein, was jedoch bei näherer Analyse ihres jeweiligen Gesamtwerkes zu d ifferenziere n sein wird.

Die gemeinsame Betrachtung der Schwestern Chvoš£inskaja s o ll n ic h t ihre schöpferische Eigenständigkeit verwischen, sondern über das Gemeinsame im persönlichen wie in ihrem Schicksal als Dichterinnen zur in d iv id u e lle n Beachtung ihres lite ra ris c h e n Talentes hinführen. Es i s t in der russischen Kulturgeschichte im gesamten 19. Jahrhundert keine Seltenheit, daß aus einer Familie mehrere Dichter, Künstler und Gelehrte hervorgehen.23 Im Falle der Schwestern ChvoSčinskaja sind es zunächst die bedrückenden Bedingungen im Elternhaus, dann der Ansporn durch erste lite ra ris c h e Erfolge der ältesten Schwester und sch lie ß lich die annähernd gleichen Ansichten vom Leben in der russischen Provinz, die sie a lle den Weg in die L ite ra tu r suchen ließen.

Fehlende Neuauflagen ih re r Bücher haben über Jahrzehnte eine Zuwendung des Lesers zu ihrem Werk verhindert. So konnte seine Bekanntschaft mit diesen S c h rifts te lle rin n e n nur über die widersprüchlichen Aussagen der zeitgenössischen L it e r a t u r k r it ik und deren wenig m o d ifiz ie rte Übernahme durch nachfolgende so- wjetische Literaturgeschichtsschreiber erfolgen.

Verwirrung s c h a fft auch h ie r der über Jahrzehnte dogmatische Wertungsmaßstab, in dem die Nähe oder Ferne zu den revolutionären Demokraten das entscheidene Kriterium fü r die Anerkennung eines S c h r ifts te lle r s war. Dies ausgerechnet h ie r zu vermerken, mag verwundern, wurden doch Nadeïda, Sof׳ j a und Praskov'ja Chvoščinskaja von dieser Literaturwissenschaft d e u tlich fa v o r is ie r t gegenüber Sochanskaja, Žadovskaja oder Čjumina.

Jedoch selbst zwischen den Schwestern vermag eine so angelegte K r i t ik Differenzierungen aufzubauen, die von ihrem produktiven lite ra ris c h e n Schaffen her kaum g e re c h tfe rtig t werden können. So b rin g t der Beitrag A. P. M ogiljanskijs im zweiten Band der 1956 erschienenen "Geschichte der russischen L ite r a tu r " , der ve rd ien stvoll a lle in deswegen i s t , weil h ie r überhaupt Frauen eines größeren monographischen Abschnittes gewürdigt werden, die folgende Gegenüberstellung: " . . . Sof ' j a übertraf in vielem ihre

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Schwester und h a lf ih r , sich den revolutionären Demokraten zu nähern"24. Der an vielen Stellen "u n lite ra ris c h e " Umgang mit ihrem Werk le g t die Vermutung nahe, daß der Verfasser stark von Nekrasovs25, Pisarevs26 und Cebrikovas77 Sekundärliteratur gezehrt und diese mit den sich in den fü n fz ig e r Jahren w eiter be- hauptenden soziologisierten Literaturansichten verknüpft hat.

Den Intentionen vor allem der ältesten der d re i Schwestern, Nade£da ChvoŽČinskaja, und ihrem beeindruckend v ie lg e s ta ltig e n und umfangreichen Werk i s t damit n ic h t gerecht zu werden. Nadežda sah ih r erstes Gedicht bereits 1842 p u b liz ie r t, erwarb jedoch e rs t 1847 mit größeren Veröffentlichungen in der ,,L ite ra tu rn a ja gazeta" eine rasch wachsende P o p u la ritä t.28 Bereits 1859 verfügte sie über eine sechsbändige Werkausgabe. Zu ih re r ö ffe n tlic h e n Anerkennung trugen weniger die Gedichte bei, die sie bis etwa 1858 schrieb, als ihre Erzählungen, Povesti und Romane, deren Herausgabe 1850 mit der Povest "Anna Michajlovna" begann.29 Nadeida Unterzeichnete ihre Gedichte mit ihrem Mädchennamen Chvoščinskaja (sie heiratete den nach Rjazan' verbannten Arzt Zajončkovskij ), ihre Prosa mit V. Krestovskij (als ein w irk lic h e r Vs. V. Krestovskij in der L ite ra tu r erschien, veränderte sie dieses Pseudonym in Krestovskij -psevdonim) und t r a t als K r itik e r in unter V. Рогейпікоѵ und N. Vozdviïenski j auf.

Pseudonyme sind in der russischen L ite ra tu r bei Männern und Frauen häufig anzutreffen, und es verwundert auch m it B lic k auf die W e ltlite ra tu r n ich t, wenn russische Dichterinnen männliche Pseudonyme wählten. Bei den Schwestern Chvoš£inskaja i s t der Drang nach Anonymität insofern besonders a u ffa lle n d , als die ä lte ste Schwester ein ganzes Arsenal von Namen selbst nach erschriebener Popularität benutzt und auch Sof ' j a m it Iv . Vesen'ev und Praskov'ja mit S. Zimarova unter Pseudonymen

schrieben. Sof ' j a Chvoščinskaja hat zudem a lle Versuche, ihre Person durch lite r a tu r k r itis c h e Beiträge stärker in die ö ffe n tlic h e Diskussion zu bringen, kategorisch unterbunden.

Ganz o ffe n s ic h tlic h muß man zwischen der wohlwollenden Auf- nähme durch die hauptstädtische L ite ra tu rg e s e lls c h a ft und der Ignoranz in der Provinz unterscheiden. In Briefen aus seiner Z e it als Redakteur der Z e its c h rift "Oteöestvennye za p iski" beschwört

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Saltykov-áőedrin mehrfach Nadeìfda Chvoáíéinskaja, ihm Texte zur Verfügung zu s te lle n , die er s o fo rt veröffentlichen w i l l : 1״Für unsere Z e its c h r ift sind Ihre Werke besonders w e rtv o ll, weil das Publikum in ihnen eine fü r sich stets hervorragende und gesunde Lektüre f i ndet 30. ״״ Andererseits wird ü b e rlie fe rt, daß man sie in Rjazan' selbst, wo sie den größten T e il ihres Lebens verbrachte, fü r etwas wunderlich, wenn nicht gar fü r verrückt h i e l t . 31

Nade£da ChvoŽČinskaja nutzte ihre s u b tile Kenntnis des länd- liehen Lebens um Rjazan', beobachtete ihre Umgebung sehr k r itis c h und mit einem scharfen verallgemeinernden Urteilsvermögen. Dies bezog sich besonders auf die kleinen Gutsbesitzer und Beamten, zu denen sie persönlichen Kontakt hatte. Sie gelangte zu feinsinnigen Zeitstudien und schuf o rig in a le Charaktere, die in ih re r Typisierung mitunter große Charakterstudien späterer Z eit vorwegnahmen.

Dies kann mit Sicherheit von der Erzählung ״״Brüderchen"

(Brat ec, 1858 ־) gesagt werden. Auf nur sechzig Seiten wird das Schicksal einer kleinen Gutsbesitzerfamilie e rz ä h lt. Während die Mutter mit d re i erwachsenen Töchtern auf ihrem verarmten Gut s i t z t , wird der Sohn in Petersburg erzogen und in den Staatsdienst gegeben. Er i s t das Id ol der Mutter, und er zeigt sich als Despot gegen die Schwestern. Der ältesten und m ittle re n Schwester hatte er das E rb te il bereits abgeluchst und verpraßt ē deren Schicksal, als a lte Jungfern im Dorf verbleiben zu müssen, war längst besiegelt. Zum Höhepunkt der Erzählung wird die Rückkehr des inzwischen aus dem Dienst gejagten Bruders, der zu einem Zeitpunkt bankrott nach Hause zurückkehrt, als die jüngste Schwester einen armen Beamten heiraten w i l l , wofür die ä lte s te heimlich 5000 Rubel aufgespart hatte. Mit Gewalt erpreßt er auch dieses Geld, fä h rt nach Petersburg zurück und lo c k t auch noch den Bräutigam durch leichtsinnige Versprechungen in die Hauptstadt. So i s t auch die Hoffnung der jüngsten Schwester auf ein selbständiges Familienleben z e rs tö rt.

Was an dieser Erzählung z u tie fs t e rsch ü tte rt, i s t die K ra ft, mit der die negative Gestalt, Sergej AndreeviČ, gezeichnet i s t

־ ein Heuchler, Blutsauger,^Tyrann, Demagoge, Spieler und Dieb.

Er i s t die Inkarnation des Bösen. Aber er i s t es n ic h t a ls eine

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exotische E in ze lfig u r, sondern er wird möglich in einem System der Zurückgebliebenheit des Landadels einerseits und in einer sich selbst erhaltenden Hierarchie der Beamtenschaft andererseits. In der Konsequenz, mit der Sergej Andreevič beides n u tz t, nimmt er den zwanzig Jahre später erscheinenden Typ des IuduSka Golovlev voraus, eine Figur der k ritis c h -re a lis tis c h e n russischen L ite ra tu r, die Weltgeltung erlangt hat. Chvoíííinskajas Erzählung i s t sogar kompakter, und sie bezieht die Opfer in ihre Analyse m it ein. Ih re r Leistung gerecht zu werden müßte einschließen, das Schicksal sowohl der Autorin als auch ih re r Erzählung zu berücksichtigen: beide geraten in Vergessenheit, und es v e rb ie te t sich, sie heute an Saltykov-Sdfedrin zu messen, dessen Vorgängerin sie sp e zie ll in diesem Falle war. Zudem i s t Chvoščinskajas Autorenposition eine andere. Versteht man ihre Erzählung eher als Persönlichkeitsstudie denn als ,,re a listisch e s Abbild von Klassenagonie", so e rö ffn e t sich die Einsicht in eine außerordentliche Beobachtungsgabe, die Nadeida ChvoS6inskaja auf

ihre A rt in einen lite ra ris c h e n Text ein b rin g t.

In der Erzählung "Bratec" müssen die Schwestern Opfer sein, eine andere künstlerische Lösung innerhalb dieses Beamtensystems

i s t n ic h t möglich. Der Protest beim Leser wird durch die V o llständigkeit ih re r Ohnmacht hervorgerufen, n icht durch das Andeuten eines Ausweges. Dies versucht sie in der etwas größeren Erzählung "Die Pensionärin" (Pensionerka, 1861), in der diesmal die Tochter einer kleinen Beamtenfamilie im M ittelpunkt der Handlung steht. Sie wird in eine höhere Mädchenschule geschickt, man erwartet von ih r , daß sie e rfo lg re ich abschneidet, um ihren Wert zu erhöhen. Kurz vor dem Examen begegnet ih r z u fä llig ein in diesen Ort verbannter ehemaliger Lehrer, der sich zu seinem Schutz ironisch-sarkastisch zu seinen Mitmenschen v e rh ä lt. Mit seinen Fragen und Bemerkungen, mit der Lektüre von Shakespeare erweckt er in dem Mädchen Protest gegenüber a l l dem unnützen Wissen, und sie f ä l l t mit Absicht beim Examen durch. Als man sie daraufhin verheiraten w i l l , weigert sie sich entschieden und

f l i e h t nach Petersburg.

Damit enden die ersten achtzig der zweiundneunzig Seiten, ohne einen anderen Eindruck zu hinterlassen als den der

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tigung der hoffnungslosen Lage dieser jungen Damen. Das eigent- lie h Erstaunliche v o llz ie h t sich auf den letzten Seiten in einer A rt erweitertem Epilog. Die beiden tre ffe n sich in Petersburg in der Ermitage wieder ־ sie kopiert B ilder, er h ä lt Vorträge.

Sie hat sich v ö llig aus ihrem einstigen M ilieu gelöst, verdient sich ihren Lebensunterhalt und i s t selbständig und äußerst selbstbewußt geworden. Vereticyn, der dieses Feuer in ih r geweckt hat, schreckt je t z t vor dessen Glut zurück und empfindet es als eine zerstörerische Schönheit: " , Ich erinnere mich', antwortete Vereticyn, , ganz genau daran, was ich Ihnen sagte, aber es war das Wort F re ih e it, und nicht Iso la tio n . . . /,,מ Die ehemalige Gymnasiastin aber i s t längst dazu übergegangen, die Vision ihres Lehrers in ihrem realen Leben zu verwirklichen, wobei sie ihre eigenen Gedanken entwickelte: "Ich weiß. Ich bin a lle in . Ein denkendes Wesen muß in der Lage sein, a lle in zu sein"33. Stender-Petersen verweist darauf, daß "Chvoščinskajas Romane aus den fü n fz ig e r und sechziger Jahren . . . bei der fo r ts c h r ittlic h e n K r i t ik eine gewisse Unsicherheit, ja Widerstand (erregten)"34, weil man vermutete, sie stünde nicht mit a lle r Konsequenz h in te r diesen Ideen. Damit unterschied sich die Einschätzung der Werke Chvoščinskajas nicht von jener, die Turgenevs "Väter und Söhne"

oder Avdeevs "Klippe unter Wasser" erfuhren.

Die Literaturgeschichtsschreibung, wo sie sich überhaupt diesen S c h rifts te lle rin n e n "der zweiten G arnitur"35 widmete, le it e te ChvošČinskajas Schaffen auch ganz " lite r a tu r z e n tr is tis c h "

ab, verweisend auf Turgenev, Gercen, Dostoevskij und černyševski j , die in der "großen L ite ra tu r" das Thema der Frau in Rußland aufgenommen und mit DruŽinin, Avdeev und Pisemskij diejenigen, die es b e lle tris tis c h erw eitert hatten. Der eigent- liehe Antrieb wird in doppelter Hinsicht von außen gesehen - durch die Thematisierung der Rolle der Frau in der Gesellschaft in den Werken der russischen Realisten und die s e it den v ie rz ig e r Jahren bekannt werdenden Bücher von George Sand.

Dies a lle s i s t fü r die Genesis der Prosa Nadežda Chvoāčin- skajas zw eifellos bedeutsam. Dennoch v e r s te llt die Konzentration auf das Thematische, gemeint als die Behandlung der

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,1Frauenfrage", den B lick fü r die v ie l längere Geschichte des weiblichen Teiles der russischen L ite ra tu r. Indem man diese ig n o r ie r t, w eil ihnen die soziale G erichtetheit, die organisierte Gemeinsamkeit zu fehlen schien, muß man f r e i l i c h zu dem Standpunkt gelangen, a lle s von Frauen Geschriebene sei "durchweg d ü r ftig und tendenziös"36. Mißt man also Chvoščinska ja vordergründig an der K ra ft ih re r sozialen Utopie, oder an der Konsequenz ihres Eintretens fü r die Gleichberechtigung der russischen Frau, so blieb sie durch die andere Strukturierung ihres Schaffens im Vergleich zu fo r ts c h r ittlic h e n Männern ih re r Z e it und m it in anderen Ländern bereits Möglichem zurück. Sie, die beinahe ih r ganzes Leben in der Provinz verbrachte, war sich

ih re r eingeschränkten Möglichkeiten, was soziale Entwürfe b e t r i f f t , jedoch bewußt. GorjaSkina z i t i e r t s ie : "Man w i r f t mir vor, daß ich keine Helden zeichne, aber ich kann n ic h t über etwas schreiben, was ich n icht gesehen habe"37. In diesem Sinne i s t ih r Werk stärker an "w irk lic h e r" R e a litä t o r ie n tie r t a ls das auf eine Utopie gerichtete s o z ia l-lite ra ris c h e Konzept der führenden revo- lutionären Demokraten, was es der Literaturwissenschaft verbieten s o llte , an solch unterschiedliche Konzepte die gleichen Wertungs- maßstäbe anzulegen.

Chvoš6inskajas ausgeprägte Analysefähigkeit durch Beobach- tung wurde deshalb auch hervorgehoben, wenn E. Friedrichs be-

Chvoš6inskajas ausgeprägte Analysefähigkeit durch Beobach- tung wurde deshalb auch hervorgehoben, wenn E. Friedrichs be-