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Diese markieren gleichzeitig Volkonskajas Schritt zur schrift- stellerischen Tätigkeit, der sowohl durch die autobiographische

Reflexion als auch ihre Erfahrung mit Opernlibrettos und

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lic h durch ein aufkeimendes Interesse am h is to ris c h - lite ra ris c h e n Erbe angeregt wurde. Im Zusammenhang m it ih re r endgültigen Übersiedlung nach Moskau 1824 widmete sie sich v e rs tä rk t dem Sammeln russischer und skandinavischer Folklore.

Offenbar entdeckten sich ih r aus diesem Vergleich und der Kenntnis der b e re its verfügbaren russischen Chroniken Zusammen- hänge, die sie zu ernsthaften historischen Studien veranlagten.

Im Druck erschienen diese 1824 in Paris (in Moskau 1825, in Warschau 1826) unter dem T it e l "Ein B ild der Slawen im V.

Jahrhundert" (Slavjanskaja kartina V. veka)44.

Ih re rs e its dienten diese h is to ris c h -fo lk lo ris tis c h e n Studien als Vorarbeit zu einem großen epischen Werk, das zu den Wurzeln des russischen Staates, der Kiever Rus', führen s o llt e . In den nach der Herausgabe durch Muzin-Pu£kin in den neunziger Jahren des 18• •Jahrhunderts aufgebrochenen S tr e it um das I g o r 'lie d , der sowohl ęeiner Echtheit als Dokument g a lt als auch der Deutung der historischen Vorgänge, w o llte sich Zinaida Volkonskaja über eine der weiblichen Zentralfiguren jener Z e it, die F ürstin Ol'ga, einschalten. Von dem als T rilo g ie geplanten Werk konnten le d ig lic h einige Kapitel r e a lis ie r t werden, die 1836 in der Z e its c h r ift "Moskovskij n a b lju d a te l'" unter dem T it e l "Skazanie ob Ol'ge" erschienen. Sie umfassen jene Begebenheiten, die mit dem Einzug Ol'gas als Braut Ig o r's in Kiev verbunden sind und mit dem Tod des regierenden Fürsten Oleg enden. F e in fühlig erfaßt und g e s ta lte t Volkonskaja die Widersprüche, die m it dem Erscheinen Ol'gas am Fürstenhof aufbrechen. Sie reichen vom Neid der Frauen Olegs, die um ih re P riv ile g ie n fürchten, nachdem sie die Klugheit Ol'gas im Umgang m it dem Fürsten beobachten konnten, b is zu ihren diplomatischen Fähigkeiten, die aufkeimenden Zw istigkeiten Olegs m it seinem Kriegsgefolge zu vertuschen. Diese waren aufgebrochen, weil der Fürst seine und des Landes Zukünft n ic h t in weiteren Kriegszügen, sondern in der Erweiterung des Handels m it seinen Nachbarn sah: "Nein, Kinder", antwortete Oleg, " j e t z t i s t eine Zeit des Handels angebrochen: mögen die Händler ih re Waren im heißen Süden kaufen und sie auf dem Dnepr tra n s p o rtie re n !"45 Doch die Zeit fü r solchen Wandel i s t noch n ic h t herangereift.

Symbolisch fin d e t Oleg den Tod durch den Biß einer Schlange

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gerade dann, als er das S kelett seines Lieblingspferdes aufsucht, mit dem er e in st in die Schlachten r i t t . Der neue Feldherr und Fürst deutete sich mit B lick auf Ig o r׳ in der Meinung der Krieger bereits an: " . . . es i s t doch a lle s sein Eigen. Man sp rich t davon, seine Z eit sei gekommen, unser Fürst zu sein"46.

Volkonskaja nutzt verschiedene M itte l, um die heranreifenden K o n flik te sichtbar zu machen. So fü g t sie in den Prosatext Ruhm- gesänge auf die Kriegshelden ein und g le ic h z e itig Grabgesänge slawischer und normannischer Herkunft, die n ich t nur die Stimmung, sondern auch die innere Spannung zwischen den Völker- Stämmen wiedergeben.

In den wenigen vollendeten Kapiteln deutet sich an, wie stark die Autorin das h istorische und fo lk lo r is tis c h e Element zu verarbeiten beabsichtigte.

Zinaida Volkonskajas bedeutsamster Einfluß auf die russische L ite ra tu r e rfo lg te zw eifellos über die lite ra ris c h e n Zusammen- künfte, die ab 1824 in ihrem Hause in Moskau stattfanden und sie weithin bekannt machten als die "Corinna des Nordens". Ih r lite r a r is c h e r Salon47 g a lt als "einer der glänzendsten künstlerischen Zentren Rußlands der zwanziger Jahre"4*. A lle bedeutenden Persönlichkeiten des k u ltu re lle n Lebens Moskaus und Petersburgs begegneten sich bei ihren Abenden, an denen L ite ra - tu r und Musik dominierten. Genannt werden als ständige Gäste Puškin, Odoevskij, D e l'v ig , Vjazemskij, Kozlov, Pogodin,

Sevy-

rev49. Die Bedeutsamkeit dieses wie auch anderer in den zwanziger bis v ie rz ig e r Jahren bekannter lite r a r is c h e r Salons der beiden Kulturzentren Petersburg und Moskau i s t schwer belegbar und wohl vor allem deshalb in der Literaturwissenschaft noch n ich t ausgeschöpft, w eil sich h ie r wie in kaum.einem anderen Bereich der L ite ra tu rg e s e lls c h a ft sehr Persönliches in einer schwer objektivierbaren Weise in L ite ra tu rv e rh ä ltn is s e überträgt.

Einer der äußeren Zwänge, L ite ra tu r in einer solch ursprüng- liehen Form d ire k te r Kommunikation zwischen Autor und seinen Lesern (Hörern) weiterzugeben, i s t die Tatsache der Bevormundung der L ite ra te n durch eine außerliterarische In s titu tio n , die zaristische Zensur. Wenn sich demnach in den lite ra ris c h e n Salons Dichter, S c h r ifts te lle r , K r it ik e r , Verleger sowie Kenner und

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Liebhaber der L ite ra tu r begegneten, so war das eine der möglichen Formen des Umgehens der durch die Zensur e rrichtete n Barrieren (andere z. B. waren das K ultivieren der sogenannten ,,äsopischen Schreibweise” oder das Verlegen der Texte im Ausland).

Solche Salons sind jedoch nicht ohne weiteres d ire k t m it l i - terarischen Gruppierungen vergleichbar. Die von N. L. Brodskij in seiner A rbeit "Literarische Salons und Z irk e l" (Literaturnye salony i krucki) gegebene Differenzierung i s t allerdings zu lin e a r, wenn Salons ausschließlich auf klassenmäßige Gemein- samkeit f i x i e r t wird und Z irkel sich auf eine gemeinsame Idee gründeten50. Sie sind jedoch schon deshalb n ic h t gleichzusetzen, w eil sich Salons einer breiteren k u ltu re lle n Palette widmeten, wobei die Musik eine sehr große Rolle s p ie lte . Im Salon von Evdokija Rostopčina (Winter 1836/37 und 1837/38 in Petersburg) verkehrten außer den Dichtern Žukovskij, Krylov, PuSkin, Gogol׳ , Odoevskij, Pletnev, Sollogub, A. Turgenev auch Franz L is z t und M ichail Glinka.

Die P ro filie ru n g solcher lite ra risch e n Abende hing stark von der Ausstrahlungskraft und den Intentionen der Gastgeberin51 ab.

Der in den v ie rz ig e r Jahren in Moskau berühmte lite ra ris c h e Salon der D ichterin Karolina Pavlova war geprägt von einem Geiste der Annäherung einander widerstreitender lite ra ris c h e r und g e s e lls c h a ftlic h e r Ansichten. Pavlova selbst stand weder im Lager der Slawophilen noch in dem der Westler (was später zu einer tragischen Is o la tio n der Dichterin führen s o llte ) und sah sich deshalb als eine Instanz, die durch persönliche freundschaftliche Beziehungen zu Vertretern verschiedener Strömungen52 zu deren g e is tig e r Annäherung beitragen w ollte.

In dem fundamentalen Werk "Literarische Z irk e l und Salons"

unter der Redaktion von B. M. Ejchenbaum wird dafür eine sehr feinsinnige Evolution des Umschlagens von privaten Reminiszensen in lite r a r is c h Bedeutsames vorgeführt: "Ö ffe n tlic h k e it und Häuslichkeit sind k o rre la tiv . Die Poesie der Abende und Z irk e l, die einen z u tie fs t , ö rtlic h e n ' Charakter trug - handschriftliche Epigramme, Parodien, Stegreifdichtungen . . . - a l l dies, ständig in einem solchen M ilieu zugegen, kann zu einem beliebigen Moment in die L ite ra tu r abgerufen werden"55.

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Wendet man sich heute diesen Erscheinungen der Salons und Z irk e l zu, i s t man beinahe ausschließlich auf Memoiren angewie- sen, also betont subjektive Niederschriften und Sichtweisen, wobei starke Sympathien und Antipathien der Schreibenden sichtbar werden. R ivalitäten zwischen den Salons blieben da n ic h t aus.

Der genannte lite ra ris c h e Salon der Evdokija Rostopöina verstand sich als eine S tätte, wo auch jüngeren Autoren Zugang zur e ta b lie rte n Literaturszene ermöglicht wurde. Dies i s t um so bemerkenswerter, als es sich insgesamt bei diesen Zusammenkünften - und auch deshalb können sie n icht a lle in unter dem Aspekt des Literarischen gesehen werden ־ um eine Form des g e s e ll- schaftlichen Lebens handelt, die von einer bestimmten begüterten Schicht p r a k tiz ie r t wurde und a l l den Regeln unterworfen war, die in diesen Kreisen galten. Die herrschende E tik e tte zu durchbrechen, gelang dabei selten. Davon schreibt NadeXda Durova in ihrem Buch "Ein Lebensjahr in Petersburg, oder Die Nachteile des d r itte n Besuches" (God Xizni v Peterburge, i l i Nevygody tre t'e g o poseščenija, 1838) mit einiger B itte r k e it. Nachdem sie als eine A rt "Amazone" zunächst in den Salons empfangen wurde, fand man sehr bald M itte l, sich dieses als n ich t standesgemäß empfundenen Gastes wieder zu entledigen.

Geringe Kenntnisse, sind bisher darüber vorhanden, wie der Einfluß lite ra ris c h e r Salons auf die ästhetische Formierung der schreibenden Frauen v e r lie f . Volkonskajas durch ihre offene pa- tr io tis c h e Haltung und unverblümte Sympathie fü r die f o r t s c h r it t - lie h e Adelsbewegung, Pavlovas durch die e n tfa lte te Pracht und die Brisanz ih re r zwischen den lite ra ris c h e n Fronten zu verm itteln suchenden und Rostop£inas auf die Förderung neuer Talente gerich- teten Bestrebungen verhalfen diesen Dichterinnen zu unm ittelbarer P opularität in ihren Kreisen. Mit Sicherheit kann man annehmen, daß einige der überlieferte n sehr subjektiven54 Einschätzungen ih re r lite ra ris c h e n Talente mehr dem Eindruck einer persönlichen Begegnung als der soliden Analyse ih re r Werke entsprungen sind.

Sieht man sich die in späteren Literaturgeschichten ü b e rlie fe rte n Angaben zu den Begegnungen in diesen Salons an, die sich im wesentlichen in Aufzählungen erschöpfen, so fin d e t man darunter n ic h t eine einzige Frau genannt. Hier lie g t offenbar ein

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Wertsystem zugrunde, wie es über Jahrzehnte hinweg - unterbrochen le d ig lic h durch die russischen Symbolisten - gegenüber den schreibenden Frauen des 19. Jahrhunderts angewendet wurde. Ohne die konkreten Bedingungen der ihnen zugewiesenen Rolle in der Gesamtkultur der Gesellschaft zu berücksichtigen, wird ih r Werk an *,männlichen" L ite r a tu r k r ite r ie n gemessen und fü r mittelmäßig befunden.

Für die Einschätzung der Frauen in den lite ra ris c h e n Salons heißt das, sie werden le d ig lic h in ih re r Gastgeberrolle gesehen und ih r Beitrag zum w irklichen geistigen Leben einer konkreten Z e it deshalb n ich t wahrgenommen, w eil er in anderer Form e r fo lg t, als es fü r L ite ra tu r typisch zu sein scheint.

Insgesamt kann eine wissenschaftliche Beschäftigung m it dem Phänomen der lite ra ris c h e n Salons Einblicke ermöglichen in sehr konkrete Prozesse des Weitertragens von Ideen, deren Gebundenheit an Individuen, des Zusammenwirkens von objektiven und subjektiven Bedingungen.

Zinaida Volkonskaja gebührt in dieser Reihe ein besonderer Platz auch deshalb, w eil in ihrem Salon ein geistiges Klima herrschte, das über spezifische lite ra ris c h e Aspekte hinausging.

Die historischen Studien und f o lk l o r istischen Sammlungen, die lite ra ris c h e Auseinandersetzung m it der Geschichte des russischen Staates ließen die Fürstin Volkonskaja zu einer patriotischen und dabei dem Geiste der dekabristischen Bewegung nahestehenden Per- sö n lic h k e it werden. Seinen ö ffe n tlic h e n Ausdruck fand dies auch durch einen sehr persönlichen Anlaß. Als Schwägerin Sergej Volkonskijs und Cousine Ekaterina Trubeckajas (der Gattin Sergej Trubeckojs), eine jener legendären russischen Frauen, die nach dem fehlgeschlagenen Aufstand 1825 ihren nach S ib irie n verbannten Gatten nachfolgten, offenbarte sie ihre Sympathie dadurch, daß sie diesen Frauen bei ih re r Abreise aus Moskau eine triumphale Verabschiedung b e re ite te , wodurch sie sich fü r a lle sichtbar auf ihre Seite s t e llt e . Das hatte fü r sie selbst Bespitzelung und Bedrohung zur Folge. Sie entschloß sich deshalb 1829, Rußland fü r immer zu verlassen und nach I t a lie n zu gehen.

Sie b lie b auch d o rt der russischen Kunst und L ite ra tu r weiter verbunden. In ih re r V illa in Rom wohnte lange Z e it N.

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Gogol׳ , empfing sie A. Ivanov und K. B rju llo v 55. Zu eigener lite r a r is c h e r P ro d u ktivitä t jedoch fand sie immer weniger. So b lie b ih r geplantes großes episches Werk über die Fürstin 01׳ да ein Fragment. Mit zunehmendem A lte r wandte sie sich gänzlich dem Katholizismus zu und setzte ih r gesamtes Vermögen fü r wohltätige

Zwecke ein.

Ih r Einfluß auf das lite ra ris c h e Leben Rußlands i s t insge- samt durch die Ausstrahlungskraft ih re r Person sehr d ire k t und sehr groß gewesen. Sie i s t unmittelbar verbunden m it dem Leben und Schicksal v ie le r großer russischer Dichter. Dies fin d e t n ic h t z u le tz t seinen Ausdruck in Gedichten Puškins, Venevitinovs, Kozlovs oder Mickewiczs, die dieser bemerkenswerten Frau gewidmet sind.

Somit wird etwa 1829/30 eine gewisse Zäsur d e u tlic h . Nachdem Elizaveta Kul'man bereits 1825 aus ihrem schöpferischen Leben gerissen wurde, Zinaida Volkonskaja 1829 gezwungen war, nach I t a lie n zu gehen, und Anna Bunina 1829 verstarb, neigte sich ein zweiter Abschnitt des Eintretens russischer Frauen in die L ite r a tu r seinem Ende zu.

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CHRONISTINNEN DER EIGENEN UNFREIHEIT

Dichterinnen und P rosaschriftstellerinnen - e in • Differenzierung in den Gattungen.

Die zwanziger Jahre des 19• Jahrhunderts hatten sich ihrem Ende zugeneigt, und die russische L ite ra tu r war um v ie le Namen von Dichterinnen, S c h rifts te lle rin n e n , Übersetzerinnen und M ita r- beiterinnen von Z e itsch rifte n reicher geworden. Entsprechend den gegenüber Westeuropa deutlich anderen Herausbildungsbedingungen dieser N a tio n a llite ra tu r hatte sich das Hineinwachsen der Frauen in einen noch offenen, wenig in s titu io n a lis ie r te n und kaum pro fessionalisierten Literaturprozeß vollzogen. So e rfo lg te n die ersten S ch ritte russischer Dichterinnen unter ähnlich schwierigen Literaturbedingungen, wobei sie sich der gleichen äußeren Standeszwänge zu erwehren hatten.und Staatsräson und Zensurvor- Schriften sie in gleicher Weise zwangen, Salons als Orte l i t e - rarischer Kommunikation inten siver zu nutzen a ls über Z e it- Schriften und eigene Buchausgaben an die Leser zu gelangen.

In dieser Phase waren Frauen dichtend an die Ö ffe n tlic h k e it getreten, ohne daß ein Widerspruch zwischen fem inistischer Selbstverständigung und pa tria rch a lisch e r Positionsverteidigung in der ö ffe n tlich e n Auseinandersetzung jene Rolle g e sp ie lt hatte, wie das in Westeuropa bereits der F a ll war. V e rfo lg t man aufmerksam noch vorhandene Zeugnisse über jene Vorgänge aus den zwanziger Jahren, so stößt man auf eine bemerkenswerte Akzeptanz, auf offene Unterstützung der schreibenden Frauen durch einzelne Dichter - ïu k o v s k ij, Krylov, SiSkov, Karamzin - als auch auf Akzeptanz durch dichterische Vereinigungen - Anna Bunina war M itglied der "Tafelrunde der Freunde des russischen Wortes" vom Gründungstage an.

Der Bekanntheitsgrad dieser Dichterinnen war zeitweise groß, ihre Aufnahme in der Gesellschaft vollzog sich mehrfach a ls sen- s a tio n e lle r, stürmischer E rfo lg, wenn dem auch n ic h t immer nur das geschriebene Wort, sondern ih r besonderes, o f t schweres Schicksal zugrunde lag.

Gemessen an dem in den Ständen üblichen V erhältnis, in dem

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Männer und Frauen am ö ffe n tlic h e n Leben in Rußland b e t e ilig t waren, könnte auch ihre Repräsentation durch das dichterische Wort als durchaus adäquat angesehen werden, wenn dieser Eindruck n ic h t zu sehr dem Moment v e r p flic h te t wäre. Denn was fü r ihre unmittelbare Präsenz und Ausstrahlungskraft z u t r i f f t , v e r lie r t schon nach kürzester Z e it seine G ü ltig k e it, wenn es um ein Verbleiben, eine Evolution ihres dichterischen und erzählerischen Werkes geht, und kehrt sich gar offen gegen diese Frauen, wenn es um ein Aufgehobensein ih re r Leistungen in der resümierenden L it e r a t u r k r it ik und ihren Eingang in nachfolgende Literaturgeschichtsschreibung geht.

Kaum eine der genannten Dichterinnen ragte fü r längere Zeit heraus• Nicht einmal v o lle zwanzig Jahre später s t e l l t B e lin s k ij fe s t: HMit dem Heraufkommen PuŠkins wurde das Erscheinen von S c h rifts te lle rin n e n weitaus häufiger, jedoch berühmte Namen unter ihnen gab es weniger"1. Wenn also, wie es Simone de Beauvoir fü r Frankreich und England f e s t s t e l l t , "keine . . . den Rang eines

«

Dante oder Shakespeare e rre ic h t" , so kann man dies zwar ebensogut auf Rußland übertragen, sich jedoch n icht ohne weiteres ih re r auf die westeuropäischen Verhältnisse zutreffenden Begründung bedienen, daß sich dies "durch die Mittelmäßigkeit ihres Gesamtniveaus"2 erkläre* Das begründet sich in dem großen historischen Zeitraum, der zwischen den Anfängen einer französischen F ra u e n lite ra tu r lie g t , und den gleichen Vorgängen in Rußland. De Beauvoirs Einschätzung g i l t fü r Rußland wieder, wenn man auf Begründungen zu rü ckg re ift, die sie selbst fü r das Frankreich des 17. Jahrhunderts gegeben hatte:

" . . . gerade dadurch, daß sie n ic h t an der Gestaltung der Welt b e t e ilig t waren, hatten sie Muße, sich der Konversation, den Künsten, der L ite ra tu r zu widmen . . . " 3.

Diese A rt " F re ih e it" , sich den Künsten widmen zu können, wird später eine Rolle spielen und sich immer verhängnisvoller auswirken. Während nun auch in Rußland die führenden Ideen und Taten n ic h t mehr nur auf den Stand des Adels beschränkt bleiben, sondern b re ite Schichten erreichen und dann auch von diesen ausgehen, schöpfen die Frauen w eiterhin dichtend aus der gleichen häuslichen Abgeschiedenheit wie bisher. Der Widerspruch ih re r

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Dichtung zu den Idealen einer sich stärker auf Gesellschaftsutopien denn auf klassische Kunstideale beziehenden L ite ra tu r

mußte

größer werden.

Die Situation der beginnenden dreißiger Jahre, mit denen dieses Kapitel e in g e le ite t wird, i s t jedoch einer von Frauen vor- getragenen Dichtung noch geneigt. Sie sind von den Möglichkeiten, die sich russischen Literaten bieten, n icht ausgeschlossen, sondern haben t e i l an den nach dem Scheitern des Dekabristenaufstandes kärglichen Verwirklichungsmöglichkeiten.

Daß dies zunächst in m usikalisch-literarischen Salons geschieht, kommt ihnen eher entgegen, weil diese T e il ih re r Häuslichkeit sind.

Nachdem in den dreißiger und vie rzig e r Jahren eine allmäh- liehe Kommerzialisierung der D istributionsverhältnisse eingesetzt hatte, e rfä h rt auch die Wirksamkeit der schreibenden Frauen in den Gattungen eine Belebung und g leichzeitige Differenzierung.

Entschiedener als bisher k r is ta llis ie r e n sich Dichterinnen und S c h rifts te lle rin n e n heraus, die sich, selbst wenn sie sowohl lyrische als auch epische und dramatische Werke schaffen, le t z t lic h doch in einer der Gattungen ö ffe n tlic h stärker durch- setzen. Zum zweiten verfügen S ch riftste lle rin n e n je t z t über ein ansehnlich großes, gedruckt vorliegendes Werk, das sie zunehmend unabhängiger macht von der *,Salonwirksamkeit" und das ihre m aterielle Situation verbessern h i l f t . Dies hat zum d r itte n zur Folge, daß sich eine umfangreicher werdende professionelle L ite - r a t u r k r it ik nun auch ihrem Werk zuwendet.

F re ilic h markieren solche Zäsuren, wie sie v o rlä u fig von uns mit den Jahren 1829/30 angenommen wurden, nie sehr feste Grenzen.

So gaben Anna Gotovceva 1826 und Nadežda Teplova 1827 zwar ih r lite ra ris c h e s Debüt, doch lie g t der Schwerpunkt ihres Schaffens s ic h tlic h in den dreißiger Jahren. In diesem Jahrzehnt treten dann Evdokija RostopSina, Karolina Pavlova, NadeSda Durova, Mar׳ ja Žukova, Elena Gan (Zeneida R-va) und Sarra Tolstaja in die L ite ra tu r ein und geben dieser bereits das angedeutete d iffe re n z ie rte Gepräge.

Offenbar wurde dieser Einschnitt von Zeitgenossen ähnlich empfunden. 1843 erschien im "Archiv fü r wissenschaftliche Kunde

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von Rußland" eine kurze Übersicht russischer S c h rifts te lle rin n e n . Nachdem die Namen der Fürstin DaSkova, Ekaterina Urusovas, Marija Suškovas, Marija Frejtags, Mar׳ ja Izvekovas und Anna Buninas ge- nannt sind, wird k o n s ta tie rt: " F re ilic h sind diese Namen und v ie le andere je t z t längst vergessen, aber dieses i s t ein Schicksal, welches sie mit den meisten lite ra ris c h e n Nota- b ilit ä t e n ih re r Zeit gemein haben."4 Der Autor, der in einer Fußnote vermerkt, er stütze sich auf die Z e itsch rifte n "Oteie- stvennye zapiski", "Moskvitjanin" und "Biblioteka d ija Stenija "

läßt in seine Wertung s ic h tlic h U rte ile B e lin s k ijs e in fließ e n, ohne diesen e x p liz ite zu erwähnen5.

Die in den dreißiger Jahren wirksam werdenden Dichterinnen e r e ilte gegen Ende des 19. Jahrhunderts zwar auch das Schicksal des Vergessenwerdens, doch hatten sie in ih re r Z eit eine große ö ffe n tlic h e Ausstrahlungskraft, und sie waren im 20* Jahrhundert diejenigen, derer man sich zuerst wieder erinnerte und von denen aus heute offenbar ein neuer Zugang zur Frauenliteratur des 19.

Die in den dreißiger Jahren wirksam werdenden Dichterinnen e r e ilte gegen Ende des 19. Jahrhunderts zwar auch das Schicksal des Vergessenwerdens, doch hatten sie in ih re r Z eit eine große ö ffe n tlic h e Ausstrahlungskraft, und sie waren im 20* Jahrhundert diejenigen, derer man sich zuerst wieder erinnerte und von denen aus heute offenbar ein neuer Zugang zur Frauenliteratur des 19.