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Elena Andreevna Gan (1814 - 1842), deren Werke ab 1837 erschie- nen, hat tr o tz einer nur kurzen Schaffensperiode - sie starb nach langer, schwerer Krankheit im A lte r von 28 Jahren in Odessa - einen eigenen, unverwechselbaren Zug in die von Frauen gegebene lite ra ris c h e Weltbeschreibung eingebracht. Vereinte sie das allgemeine Schicksal einer russischen Frau des m ittleren Standes mit vielen anderen - r e la tiv unbeschwerte Kindheit, eine humanistische Bildung, die Jugend v e rg ä llt durch den D r i l l von festgeschriebenen Formen gesellschaftlichen Umgangs, Heirat mit einem um fünfzehn Jahre älteren O ffiz ie r , der fü r das s c h rifts te lle ris c h e Talent seiner Frau weder Interesse noch Verständnis zeigte - so war doch gerade die Tatsache, einen O ffiz ie r im aktiven Truppendienst zum Manne zu haben, Quelle eines Realitätsbezuges, wie sie vielen anderen S c h r ifts te lle - rinnen n icht zur Verfügung stand. Vielmehr bezogen diese ihre Gefühle und Gedanken beinahe ausschließlich aus der Kunst, vorwiegend der Musik, der L ite ra tu r und der Malerei. Sie e r- reichten in dieser Beziehung ein anerkannt hohes Niveau, blieben aber im Umgang mit der R ealität stark in ihrem eigenen, engen Lebenskreis gebunden.

Bereits Durova hatte in ihren Erinnerungen den Stand der O ffiziersfrauen als fr e ie r und eigenständiger eingeschätzt.

Gezwungen, nach der Devise zu leben "Wohin man dich n icht schickt, dahin dränge dich nicht, schickt man dich aber, dann weigere dich n ic h t", folgten sie zwar einem äußeren Zwang, jedoch machte gerade die Frauen dieses Wanderleben der Truppe fle x ib le r , welterfahrener, tä tig e r, im U rte il eigenständiger und weniger von einem sich kaum wandelnden Kreis G leichgestellter abhängig.

Aufschlüsse über dieses besondere W irklichkeitsverh ältnis und die daraus erwachsenden breiteren Reflexionsmöglichkeiten g ib t die Povest "Das Weltgericht" ("Sud sveta") , die 1840 in der

"Biblioteka d ija Čtenija" erschien. Die Komposition erscheint außerordentlich tr a d itio n e ll: eine Erzählerin gelangt in den Besitz der Lebensbeichte eines jungen Adligen, der durch

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Eifersucht zum Mörder seiner Geliebten wird und sich daraufhin in die Einsamkeit eines seiner Landgüter zurückzieht. Elena Gan ergänzt diese betont o b je k tiv ie rte Darstellung noch durch einen B rie f, den das Opfer dieser Leidenschaft geschrieben hatte und der die Lebensgeschichte einer russischen Frau e n th ä lt, wie sie fü r Gan selbst charakteristisch i s t . Von der Form her lie g t das a lle s in der Norm und in den Gewohnheiten der Z e it. Ein ak- tio n sre ich e r In h a lt, die den K o n flik t zuspitzende Eifersucht im Kontrast zu w irk lic h e r und vermeintlicher Liebe - a l l das kor- respondiert m it vielen anderen Werken dieser A rt und n icht nur von Frauen geschriebenen.

Und doch sind einige Veränderungen spürbar, die Gans Povest eine Note verleihen, die über T ra d itionelles hinausreicht. Zum einen geht Eigenständigkeit von der Figur der Erzählerin und ih re r Funktion im kompositorischen Gefüge aus. Sie i s t als eine S c h r ifts te lle r in konzipiert, die von ih re r Umwelt in besonderer Weise gesehen wird: " . . . Sie i s t nicht bloß eine Frau, sondern eine s c h rifts te lle rn d e Frau, das heißt, ein besonderes Geschöpf, eine abnorme Laune der Natur oder, r ic h tig e r , eine Mißgeburt des weiblichen Geschlechts11*4.

Verglichen mit dem Leben der Autorin, läßt sich in dieser Figur der Erzählerin v ie l Biographisches entdecken, sowohl von einzelnen Fakten her - dem ständigen Wohnortwechsel, der Schwierigkeit, neue Bekanntenkreise aufzubauen - als auch in dem Hauch jener von Durova besungenen größeren F re ih e it und Souveränität, mit denen die O ffiziersfrauen diese ihre Stellung re fle k tie re n . Und eben darin geht Gan über T ra d itio n e lle s im Aufbau der weiblichen Erzählerfigur hinaus. S c h r ifts te lle r in , Erzählerin und teilw eise handelnde Figur liegen nahe beieinander und legen ein bestimmtes Wertungssystem offen. Die eingangs tr a d itio n e lle n M itte l des Einführens in die Erzählung: "Hier i s t eine Kopie, die von mir Wort fü r Wort von den Aufzeichnungen V lo d in skijs abgeschrieben worden i s t . . . 15" weichen einer schwindenden Distanz zum Dargestellten, wie sie zunächst noch durch einen gänzlich "objektiven", unbeteiligten Beobachter- Standpunkt suggeriert worden war.

M it einiger Selbstironie wird diese O b je k tiv itä t zudem

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w eiter demontiert: "Die arme S c h r ifts te lle r in fä h rt in der Unschuld ih re r Seele zum Mittagessen und argwöhnt n ic h t, daß man sie zum Vorzeigen eingeladen hat wie einen tanzenden A ff e n . ..8611 So e rg ib t sich weit mehr als eine Vorrede, ein k ü n s tle ri- sches Hinlenken auf den "eigentlichen" V o rfa ll, das Drama von Liebe und Eifersucht. E. Gan g e lin g t ein in Ansätzen sa tirisch e s B ild eines bestimmten Teiles des kleinen Landadels. Sie fängt die In trig e n und die Langeweile, die Einförm igkeit und die Zerstreuungen, das t r i s t e Alltagsleben und die wenigen Höhepunkte

im Leben der Frauen dieser Schicht ein. So w irk t der Übergang zu der "wahren Begebenheit", der Beichte V lo d in skijs, zunächst sogar als Bruch, weil der begonnene Weg nicht fo rtg e s e tz t wird.

Eine zweite Besonderheit in Gans Povest besteht darin, daß auf eine ganz o rig in e lle Weise die von der Erzählerin i n i t i i e r t e Sicht wieder aufgenommen wird. Die Generalin N**״, jene Frau, deren Leben durch die Eifersucht Vlodynskijs zugrunde g e ric h te t

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wurde, e rin n e rt n icht an die angenehmen Seiten des Standes der O ffizie rsfra u e n , sondern an deren ־ le t z t lic h analog der m ittle re n und höheren Gesellschaftsschicht - generellen Schattenseiten: Abhängigkeit von der W illkür des Ehemannes, dramatische Rechtlosigkeit, Ausgeliefertsein an Macht und Geld.

Die L e ic h tfe rtig k e it, die mit der ironisierenden Erzählweise anfangs e rre ic h t wurde, gewinnt zunehmend an Tiefe und l e t z t li c h S o z ia lk r itik . Und dieser Ansatz macht Gans in v ie le r H insicht tr a d itio n e lle Liebesgeschichte zu einem Ereignis, mit dem sie über bloßes Beschreiben und über bloßes Klagen hinausgeht.

B e lin s k ij nimmt 1842 gerade ih r Werk zum Anlaß, um Rückschau auf die Leistungen der russischen Frauen in der L ite ra tu r insgesamt zu halten*7. Gan bewegt sich in ih re r Analyse .der Gesellschaft bereits weit auf jene Frauen zu, die in den sech- ziger Jahren nicht mehr mit der passiven Rolle in der Gesell- schaft zufrieden sind, die Universitäten besuchen, promovieren, Berufe ausüben, Z irke l gründen, fin a n z ie ll unabhängiger werden.

Diese Frauen gehen weniger einen an Prinzipien o rie n tie rte n Weg - ÖernySevskij, B e lin s k ij, Dobroljubov haben in dieser theore- tischen R a d ika litä t keine weibliche Entsprechung ־ und es beweist sich ein weiteres Mal, daß die Betrachtung z e it lic h

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aufeinanderfolgender Autorinnen nicht automatisch dazu berech- t i g t , von einer "Entwicklungslinie" der Frauenliteratur zu reden.

Dennoch wäre zu fragen, ob nicht Gan zumindest im s o z ia l- k ritis c h e n Ansatz ein Bindeglied d a r s te llt, das die S c h rift- s te lle rin n e n der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die sich etwa dem Thema der erzwungenen Ehe widmeten, mit jenen verbindet, die sich in den fünfziger und sechziger Jahren am Gedankengut der neuen Generation russischer revolutionärer Bewegung orie n tie re n .

Der frühe Tod Gans macht die Beantwortung dieser Frage schwer. B e lin s k ij jedenfalls g ib t zum Stand der russischen F rauenliteratur zur Jahrhundertmitte eine diplomatische Antwort:

,,In Rußland schreiben die Frauen wenig. Im übrigen, darüber muß man sich n ic h t wundern: in Rußland schreiben auch die Männer fa s t n ic h t. Von diesem Standpunkt aus sehen sie, daß die Frauen bei uns eben n ic h t mehr und nicht weniger schreiben, als sie können"88.

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SCHICKSALE VON SCHRIFTSTELLERINNEN IN DEN WIDERSPRÜCHEN 8LAWO-