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REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER

ANHÄNGER: ca. 3.200 Baden-Württemberg (Schätzung; 2017: geschätzt 2.500) ca. 19.000 Deutschland

(Schätzung; 2017: geschätzt 16.500)

Dem Milieu der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ gehören in Baden-Württem-berg aktuell schätzungsweise 3.200 Personen an. Bundesweit lassen sich nur ca. fünf, in Baden-Württemberg nur etwas mehr als zwei Prozent der bisher bekannten Szeneangehörigen auch rechtsextremistischen Organisationen zu-rech nen. Folglich handelt es sich bei diesem Phänomen um eine eigene Art des Extremismus, wenngleich sich Versatzstücke rechtsextremer Ideologie in weiten Teilen des Milieus finden. Hierzu gehören geschichtsrevisionistische und antise-mitische Einstellungen sowie die Ablehnung einer pluralistischen Gesellschaft.

Das Milieu gliedert sich in viele kleinere Gruppierungen und Einzelpersonen, die aber untereinander zum Teil gut vernetzt sind.

„Reichsbürger“ verneinen die Existenz der Bundesrepublik Deutschland, wobei sie sich u. a. auf verschwörungstheoretische Argumentationen berufen. Dement-sprechend weigern sie sich beispielsweise, Steuern oder Bußgelder zu bezahlen, und leisten häufig Widerstand gegen staatliche Maßnahmen. „Selbstverwalter“

definieren sich selbst als außerhalb der Rechtsordnung stehend. Sie wollen sich durch Ausrufung eigener Fantasiestaaten vom Bundesgebiet abgrenzen. Beide Strömungen eint die grundsätzliche Ablehnung des deutschen Staates und seiner Repräsentanten, die sie überwiegend als Vertreter einer „BRD-GmbH“ ansehen.

Die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder beobachten das

„Reichsbürger“- und „Selbstverwalter“-Milieu seit Ende 2016. Damals war die Szene besonders durch zwei Vorkommnisse in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt: Bei einer Zwangsräumung in Elsteraue-Reuden/Sachsen- Anhalt kam es im August 2016 zu einem Schusswechsel, bei dem ein „Selbstverwalter“

schwer und drei Polizeibeamte leicht verletzt wurden. In Georgens gmünd/

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Bayern schoss im Oktober 2016 ein „Reichsbürger“ während einer Hausdurch-suchung auf die Einsatzkräfte. Dabei wurde einer der Polizei beamten so schwer verwundet, dass er am Folgetag seinen Verletzungen erlag. Der Täter wurde 2017 wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.

EREIGNISSE UND ENTWICKLUNGEN 2018:

Reichsbürger in Baden-Württemberg leisteten er-neut teils erheblichen Widerstand, um Gerichts-verhandlungen oder behördlichen Maßnahmen wie Zwangsräumungen zu entgehen. Hierbei wurden mehrfach Polizeibeamte verletzt.

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„Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“

verneinen aus unterschiedlichen Moti-ven und mit unterschiedlichen Begrün-dungen die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und ihres Rechtssystems.

Unter anderem berufen sie sich hierbei auf das historische Deutsche Reich oder auf verschwörungstheoretische Argu-mentationsmuster. Sie sprechen den demokratisch gewählten Repräsen-tanten ihre Legitimation ab.

„Selbstverwalter“ gründen Fantasie- Staaten nach ihren eigenen Vorstellun-gen. Sie betrachten sich, zum Teil unter Bezugnahme auf ein selbstdefiniertes Naturrecht, als außerhalb der Rechts-ordnung stehend.

1. 1.

IDEOLOGIE

„Indigenes Volk Germaniten“

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Die Angehörigen des Milieus eint eine fundamentale Ablehnung der Bundes-republik Deutschland und ihrer Re-präsentanten. Zu ihren Feindbildern gehören dementsprechend hauptsäch-lich Vertreter von Polizei, Justizvollzug,

Gerichten und Finanzämtern sowie po-litische Mandatsträger. Sowohl „Reichs-bürger“ als auch „Selbstverwalter“ sind häufig bereit, Ordnungswidrigkeiten und Straftaten zu begehen.

Antisemitische Einstellungen finden sich auch in Teilen des Milieus der

„Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“, insbesondere in Verbindung mit Ver-schwörungsmythen, die Juden direkt oder indirekt als Feindbild benutzen.

Sie werden darin als planvoll agierende Verursacher für verschiedene Unheil-szenarien dargestellt, aber oftmals nur codiert benannt, beispielsweise als

„Hochfinanz“, „Finanzeliten“ oder durch Anspielungen auf die Bankiersfamilie Rothschild. „Reichsbürger“ und „Selbst-verwalter“ finden oft Anschluss an diese Erzählungen: Sie glauben, einer abso-luten Wahrheit zu folgen, die von einer zumeist kleinen Gruppe von Personen verborgen oder unterdrückt wird.

Außerdem finden sich Solidaritätsbe-kundungen im Zusammenhang mit Personen, die den Holocaust leugnen oder relativieren und dafür strafrecht-lich zur Verantwortung gezogen wer-den. So teilte etwa die „Selbstverwalter“- Gruppierung „Verfassunggebende Ver-sammlung“ Anfang Januar 2018 auf ih-rem Blog einen Beitrag, der u. a. die Aussage enthält, das „jüdische Establish-ment“ versuche, „seine Geschichtsfäl-schung fest in unserem kollektiven Be-wußtsein zu verankern“. Ebenso ist ein übersetztes Interview zu lesen; darin wird eine verurteilte Holocaust-Leugnerin zur „mutigen“ Person stilisiert, wäh-rend das Gerichtsverfahren als „Inqui-sition“ und die Verfahrensbeteiligten als „Inquisitoren“ diffamiert werden.

2. 2.

ANTISEMITISMUS

Anders als es die Be-zeichnung vermuten lässt, handelt es sich beim „Reichsbürger“- und „Selbstverwalter“- Milieu nicht um eine

einheitliche Strömung, die gemeinschaft-lich agiert und strukturiert vorgeht. Viel-mehr treten die Anhänger als Einzel-personen in Erscheinung oder organi-sieren sich in kleinen Gruppierungen.

In Baden-Württemberg sind etwa die

„Germaniten“, der „Freie Volksstaat Württemberg“ (ehemals „Bundesstaat Württemberg“), die „Republik Baden“

(ehemals „Bundesstaat Baden“), die „Ver-fassunggebende Versammlung“ oder der

„Global Common Law Court (GCLC)“

aktiv. Häufig kommt es in den verschie-denen Gruppen zu Konkurrenzsituatio-nen, was oftmals zu Abspaltungen und Neugründungen führt.

3. 3.

STRUKTUR

„Republik Baden“

„Freier Volksstaat Württemberg“

Bis zum Herbst 2016 standen bei den Verfassungsschutzbehörden diejenigen

„Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“

im Fokus, die auch dem deutschen Rechtsextremismus zugerechnet wur-den. Beispiele sind die „Kommissari-sche Reichsregierung“ (KRR) und die

„Neue Gemeinschaft von Philosophen“.

Aufgrund zunehmender Militanz im Agieren gegen den Staat und seine Re-präsentanten, die insbesondere im Jahr 2016 festzustellen war, wurde die Be-obachtung im Herbst 2016 auf das ge-samte Milieu ausgeweitet.

4. 4.

UMGANG MIT „REICHSBÜRGERN“ UND „SELBSTVERWALTERN“

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Vor diesem Hintergrund verfügte das Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration Baden-Württemberg fang 2017, dass waffenrechtliche Erlaub-nisse von „Reichsbürgern“ und

„Selbst-verwaltern“ zu widerrufen sind. In einem entsprechenden Erlass wurde festgehal-ten, dass es den Angehörigen des Milieus in der Regel an der erforderlichen Zu-verlässigkeit fehlt, da sie Bestrebungen gegen die Verfassung verfolgen oder unterstützen. Außerdem legt ihre Ab-lehnung des deutschen Rechts insge-samt die Vermutung nahe, dass sie auch Waffengesetze nicht anerkennen. Beide Strömungen haben eine besondere Af-finität zu Schusswaffen. Im Zuge der Bearbeitung leitet das Landesamt für Verfassungsschutz entsprechende Sach-verhalte an die zuständigen Waffenbe-hörden weiter und wirkt so am Entzug waffenrechtlicher Erlaubnisse mit.

„Staatenbund Deutsches Reich“

5. 5.

ÖFFENTLICHES AUFTRETEN

Anhänger des „Reichsbürger“- und

„Selbstverwalter“-Milieus weigern sich, Steuern, Abgaben oder Bußgelder zu bezahlen, und leisten – teilweise kör-perlichen – Widerstand gegen hoheit-liche Maßnahmen. Mitunter stellen sie eigene „Ausweispapiere“ her, maßen sich hoheitliche Befugnisse an und weisen eigene „Staatsgebiete“ aus, auf denen sie die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland für nicht gültig erklären.

Teile des Milieus vertreten zudem ras-sistische, fremdenfeindliche, geschichts-revisionistische und – wie beschrieben – antisemitische Positionen. Einschlägige Beiträge werden in der Szene auch über die sozialen Medien geteilt und befür-wortet. Ein Beispiel ist die Forderung nach der Rückgewinnung deutscher biete, welche die „Reichsbürger“- Grup-pierung „Deutsches Reich“ unter ande-rem in Ausgabe 10 ihres „Amtsblatts“

offen fordert:

Wir sind die rechtmäßigen

Eigentümer unseres Grund und Bodens und halten an unseren Bodenrechten in den Grenzen von 1914 fest (…).

„Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“

bezeichnen die Bundesrepublik des Öfteren als „Firma“ („BRD-GmbH“), deren Bürger nach dieser Lesart nur „Per-sonal“ sein sollen. Als vermeint liches Indiz führen sie z. B. die Bezeichnung des Identitätsnachweises als „Personal-ausweis“ an. Die Umdeutung des deut-schen Staates zur GmbH basiert darauf, dass tatsächlich ein bundeseigenes Un-ternehmen namens „Bun desrepublik Deutschland – Finanz agen tur GmbH“

existiert. Dieses ist im Geschäftsbe-reich des Bundesministeriums der Finan-zen angesiedelt und erbringt

Dienst-leistungen bei der Haushalts- und Kas-senfinanzierung der Bundesrepublik sowie ihrer Sondervermögen an den Finanzmärkten.

Durch eine solche Deutung staatlicher Stellen bzw. Organe sprechen „Reichs-bürger“ und „Selbstverwalter“ der Bun-desrepublik die Legitimation zur Durch-setzung bestehender sowie zum Erlass neuer Gesetze und Verordnungen ab.

„Verfassunggebende Versammlung“

6. 6.

BEDEUTUNG DES „GELBEN SCHEINS“

Innerhalb der „Reichsbürger“-Szene wird dem Staatsangehörigkeitsausweis, dem sogenannten Gelben Schein, eine hohe Bedeutung beigemessen. Dies hängt damit zusammen, dass „Reichs-bürger“ und „Selbstverwalter“ den Per-sonalausweis sowie den Reisepass nicht als Ausweisdokumente anerkennen; sie verlangen eine aus ihrer Sicht sichere

Bescheinigung ihrer Herkunft über die Abstammung. Der Staatsangehörigkeits-ausweis geht auf das Reichs- und Staats-angehörigkeitsgesetz (RuStAG) von 1913 zurück und wird somit von der Szene ak-zeptiert. Daher rufen zahlreiche „Reichs-bürger“ und „Selbstverwalter“ dazu auf, den Staatsangehörigkeitsausweis zu be-antragen. Dieser wird jedoch nur in

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Fällen benötigt, in denen die Staatsan-gehörigkeit zweifelhaft sein kann, bei-spielsweise bei einer Adoption im Aus-land.

Bei Beantragung des Staatsangehörig-keitsausweises geben „Reichsbürger“

meistens nicht (mehr) existente Gebiets-bezeichnungen als Staatsange hörigkeit an, etwa das „Königreich Württemberg“

oder das „Großherzogtum Baden“.

7. 7.

VORFÄLLE IN ZUSAMMENHANG MIT „REICHSBÜRGERN“

UND „SELBSTVERWALTERN“

Auch 2018 waren zahlreiche Vorfälle in Zusammenhang mit „Reichsbürgern“

und „Selbstverwaltern“ zu verzeichnen.

Gewaltdelikte, die mit denjenigen im Jahr 2016 vergleichbar sind, blieben zwar aus. Dennoch ist eine erhöhte Ge-waltbereitschaft vieler „Reichsbürger“

und „Selbstverwalter“ nach wie vor ge-geben und muss auch zukünftig einkal-kuliert werden.

Im Vorfeld einer Verhandlung vor dem Amtsgericht Konstanz kam es am 22. Mai 2018 zu lautstarken Zwi-schenrufen und Drohgebärden des als „Reichsbürger“ bekannten

An-geklagten und anderer Milieu- An ge-höriger gegenüber der Vorsitzen-den. Die Verhandlung konnte nur mit Unterstützung von 13 Polizei- sowie vier Justizbeamten fortgeführt werden.

Am 7. Juni 2018 leistete in Dit zingen/

Kreis Ludwigsburg ein „Reichsbür-ger“ erheblichen körperlichen Wi-derstand gegen Polizeibeamte, be-leidigte diese und zerriss einen gegen ihn erwirkten Vorführbefehl. Ein Beamter wurde verletzt.

Beim Stromzählerwechsel in einem Gewerbebetrieb in Erlenbach/Kreis Heilbronn am 12. Juli 2018

leiste-„Global Common Law Court“

ten insgesamt acht Personen des

„Reichsbürger“-Milieus Widerstand gegen einen Gerichtsvollzieher und mehrere Polizeibeamte. Ein „Reichs-bürger“ filmte den Gesprächsverlauf entgegen der ausdrücklichen Anwei-sung der Polizei. Beim Widerstand eines der „Reichsbürger“ trugen drei Beamte leichte Verletzungen davon.

Während einer Gerichtsverhand-lung am Amtsgericht Schwetzingen am 26. Juli 2018 wehrte sich ein

„Reichsbürger“ körperlich gegen die Aushändigung einer mitgebrachten Stiftkamera und beleidigte die ein-gesetzten Beamten. Auch hier kam es im Zuge der Auseinandersetzung zu Verletzungen.

Bei einer Zwangsräumung in Nie-dereschach/Schwarzwald-Baar-Kreis am 31. August 2018 versammelten sich ca. 20 „Reichsbürger“, die der zuständigen Gerichtsvollzieherin und den hinzugerufenen Polizei-beamten den Zutritt erst nach lang-wierigen Diskussionen ermöglich-ten. Einige Milieuangehörige wider-setzten sich der Personalienfest-stellung und beleidigten die Beam-ten. Drei Polizeibeamte und einer der „Reichsbürger“ wurden dabei leicht verletzt.

Die genannten Fälle stehen exemp-larisch für eine Vielzahl weiterer Vor-kom mnisse im Zusammenhang mit

„Reichs bürgern“ und „Selbstverwaltern“, die vor allem die Widerstandsbereit-schaft gegenüber staatlichen Maßnah-men und die Aggressivität innerhalb des Milieus belegen.

Daneben traten „Reichsbürger“ und

„Selbstverwalter“ auch 2018 überwie-gend dadurch in Erscheinung, dass sie – teils äußerst umfangreiche – Schreiben an Behörden, Politiker, Richter und sonstige öffentliche Stellen versandten.

In der Regel forderten sie darin die An-erkennung ihrer Ideologie, außerdem diffamierten und bedrohten sie Reprä-sentanten des Staates. Jene Bedro-hungen spielten sich sowohl auf einer

„pseudojuristischen“ als auch auf einer persönlichen Ebene ab. So wurde bei-spielsweise die Durchsetzung erfun-dener Forderungen gegenüber Behör-denmitarbeitern angedroht, haupt säch-lich mit dem Ziel, zuvor ergangene Gebührenbescheide abzuwehren oder anderen staatlichen Maßnahmen zu ent-gehen. Die Androhung, insbesondere Mitarbeiter von Behörden in auslän-dische Schuldenregister einzutragen, zählt nach wie vor zu den Einschüchte-rungsmethoden von „Reichsbürgern“

und „Selbstverwaltern“.