• Keine Ergebnisse gefunden

Zur Regelungstechnik des Gesetzgebers 1. Vertragsprinzip versus Gremienentscheidung

D. Eine erste Analyse

II. Zur Regelungstechnik des Gesetzgebers 1. Vertragsprinzip versus Gremienentscheidung

Die gemeinsame Selbstverwaltung im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung zeigt sich wie dargestellt an der Existenz gemeinsam besetzter Ausschüsse und am Vertragsprinzip, das vor allem das Leistungserbringungsrecht prägt. Man mag sich zunächst fragen, wann der Gesetzgeber welches Modell zum Einsatz kommen lässt – wo also liegen die grundlegenden Unterschiede zwischen beiden Formen der gemeinsamen Selbstverwaltung? Oder fällt die gesetzgeberische Entscheidung für einen gemeinsamen Ausschuss oder eine vertragliche Vereinbarung eher zufällig?

Die beiden Formen der gemeinsamen Selbstverwaltung unterscheiden sich weitaus weniger als man zunächst denken möchte. Jeweils beteiligt ist stets die Kostenträgerseite – sie ist es, die als einzelne Krankenkasse,909 durch die Landesverbände910 oder durch den Spitzenver-band Bund der Krankenkassen911 in Ausschüssen mitwirkt oder vertragliche Vereinbarungen trifft. Hinzu kommt die Leistungserbringerseite: Die Ärzteschaft, die Krankenhäuser oder andere Leistungserbringer wirken, als einzelner Anbieter912 oder aber ebenfalls vertreten durch die jeweiligen Organisationen auf Landes-913 oder Bundesebene914, an der Umsetzung des SGB V mit. Dieses Zusammenwirken findet sich bei der Ausschusstätigkeit – man den-ke hier an den jeweiligen Landesausschuss nach § 90 SGB V, der beispielsweise eine Unter-versorgung nach § 100 Abs. 1 SGB V feststellt und in dem die Kassenärztlichen Vereinigun-gen und die Landesverbände der Krankenkassen sowie die Ersatzkassen gemeinsam vertre-ten sind. Für diese beiden Organisationen gilt an anderer Stelle aber das Vertragsprinzip – so schließen sie etwa miteinander die Gesamtverträge nach § 83 SGB V. Die Entscheidung des Gesetzgebers für eine gemeinsame Tätigkeit in Gremien oder die Begründung einer

909 Vgl. etwa § 132a Abs. 4 SGB V.

910 § 90 Abs. 1 SGB V.

911 Er ist etwa vertreten im Gemeinsamen Bundesausschuss (§ 91 Abs. 1 SGB V).

912 Vgl. nur § 132d Abs. 1 SGB V.

913 Vgl. etwa § 112 Abs. 1 SGB V zur Landeskrankenhausgesellschaft.

914 So ist es etwa im Kontext der Versorgung mit Hebammenhilfe gemäß § 134a SGB V.

142

chenden Vertragsverpflichtung hat also – das ist die erste Erkenntnis – nichts mit den han-delnden Personen oder Institutionen zu tun.

Beide Formen der gemeinsamen Selbstverwaltung finden im Übrigen sowohl auf Landes- wie auch auf Bundesebene statt. Der Landesausschuss nach § 90 SGB V agiert auf Landes-ebene, der Gemeinsame Bundesausschuss auf Bundesebene. Auch das Vertragsprinzip ist für beide Ebenen relevant: Im Kontext zahlreicher Normen – genannt seien hier nur die

§§ 129 Abs. 2, 130b Abs. 1 oder 132a Abs. 1 SGB V – werden Vereinbarungen915 auf Bun-desebene getroffen; die Verträge nach § 115 SGB V werden dagegen auf LanBun-desebene ge-schlossen.

Nicht nur auf vertraglicher Ebene geht es mitunter um die Rechtsstellung eines Einzelnen, also etwa eines Leistungserbringers für die häusliche Krankenpflege nach Maßgabe von

§ 132a Abs. 4 SGB V; auch Ausschüsse treffen durchaus Einzelfallentscheidungen. Das gilt etwa für den Zulassungs- und den Berufungsausschuss916 oder auch für den Beschwerdeaus-schuss nach § 106c Abs. 3 SGB V.917

Auch in thematischer Hinsicht lässt sich keine klare Zuordnung vornehmen. Zwar findet sich das Vertragsmodell häufig im Kontext der Vergütung von Leistungen – allerdings be-schränkt es sich keinesfalls darauf. Das zeigen die in § 115 SGB V aufgelisteten Regelungs-gegenstände für die dreiseitigen Verträge und Rahmenempfehlungen zwischen Krankenkas-se, Krankenhäusern und Vertragsärzten – hier geht es gerade nicht um Vergütungsfragen.

Auf der anderen Seite entscheidet auch der Landesausschuss im Kontext der Förderung der vertragsärztlichen Versorgung gemäß § 105 Abs. 4 SGB V über die Höhe der zu zahlen Si-cherstellungszuschläge, also über Fragen der Vergütung. Nichts anderes tut – wenn auch mittelbar – der Bewertungsausschuss nach § 87 SGB V.

Eine Bindungswirkung erzeugen beide Handlungsformen der gemeinsamen Selbstverwal-tung. Die Bindungswirkung an Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses hat der Gesetzgeber aufgrund der jahrelangen Diskussion über diese Frage in § 91 Abs. 6 SGB V ausdrücklich normiert. Manche Beschlüsse der Selbstverwaltung ergehen allerdings als Ver-waltungsakt und binden jenseits von dessen Tatbestandswirkung dann nur die Beteiligten.918 Bei den vertraglichen Vereinbarungen zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern handelt es sich überwiegend um so genannte normsetzende Verträge, d.h. jedenfalls für die Mitglieder der Vertragsschließenden haben sie dieselbe Wirkung wie Normen.919 Ausdrück-lich angesprochen wird diese besondere Form der Bindung von nicht am Vertrag unmittel-bar Beteiligten etwa in § 129 Abs. 3 SGB V. § 134a Abs. 2 S. 2 SGB V bestimmt dagegen, dass „Hebammen, für die die Verträge nach Absatz 1 keine Rechtswirkung haben, … nicht als Leis-tungserbringer zugelassen“ sind.

915 Sprachlich ist dann zumeist die Rede von Rahmenverträgen oder auch Rahmenempfehlungen (vgl. etwa

§ 129 Abs. 2 SGB V).

916 Hierzu oben unter C. III. 3. f.

917 Hierzu oben C. III. 3. G. (b).

918 Das gilt etwa für die Entscheidungen des Zulassungsausschusses.

919 Düring/Schnapp in: Schnapp/Düring, Handbuch des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, Rn. 59; hierzu grundlegend auch Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, S. 100.

143

Auch die Patienten sind von beiden Handlungsformen betroffen: Gemäß § 91 Abs. 6 SGB V wirken sich Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses unmittelbar auf ihren Leistungsanspruch gegen die Krankenkasse aus; aber selbst eine Vereinbarung über die Hö-he der Vergütung einer Leistung hat – jedenfalls gewisse mittelbare – Konsequenzen für die medizinische Versorgung der Versicherten.920

Bezüglich beider Arten der gemeinsamen Selbstverwaltung besteht eine Bindung der Han-delnden an die gesetzlichen Vorgaben. Weder durch Vertrag noch durch eine Ausschussent-scheidung dürfen die Beteiligten Vorschriften des gesetzlichen Krankenversicherungsrechts verletzen.921

Auf einer rein formalen Ebene liegt der Unterschied also lediglich in der jeweiligen Hand-lungsform. Das Vertragsprinzip führt zum Abschluss einer Vereinbarung, für die neben spe-zialgesetzlichen Normen die Vorschriften der §§ 54 ff. SGB X922 und damit mittelbar auch die des Bürgerlichen Gesetzbuchs maßgeblich sind,923 während die Ausschüsse der gemein-samen Selbstverwaltung durch Beschluss – oder auch durch Verwaltungsakt – handeln.

Es liegt im Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, sich für das eine oder das andere Modell der gemeinsamen Selbstverwaltung zu entscheiden.924 Offenbar sieht er in manchen Kons-tellationen schlicht keinen Spielraum für eine vertragliche Vereinbarung – und das lässt sich auch zumeist gut begründen. Über die Frage, ob eine Leistung den zwingenden Vorgaben des § 12 Abs. 1 SGB V entspricht, lässt sich ebenso wenig „verhandeln“ wie über das Vor-liegen einer Unterversorgung gemäß § 100 Abs. 1 SGB V. Hier geht es vielmehr um die normativ geprägte Feststellung von Fakten, die einem spezialisierten Gremium der gemein-samen Selbstverwaltung übertragen wird. Vergleichbares dürfte für Fragen der Qualitätssi-cherung gelten; bestimmte Vorgaben sollen hier strikt eingehalten werden. Dem Gemeinsa-men Bundesausschuss, der der maßgebliche Akteur in diesem Kontext ist, hat der Gesetzge-ber zusätzliche Kontroll- und Durchsetzungsaufgaben üGesetzge-bertragen sowie entsprechende Be-fugnisse eingeräumt.925 Auch über das „Ob“ einer Förderung neuer Versorgungsformen nach § 92a und b SGB V lässt sich eher entscheiden denn verhandeln. Manche Zuweisung zu einer der beiden Handlungsformen im Recht der gemeinsamen Selbstverwaltung mag aber auch der Historie geschuldet sein – die Zulassung von Ärzten ließe sich ebenso wie diejenige von Krankenhäusern durchaus auf vertraglicher Ebene regeln.

920 Am Beispiel innovativer Medizin wird das anschaulich deutlich: Was über § 6 Abs. 2 KHEntgG nicht finanziert wird, wird sich in der Praxis nicht durchsetzen. Gerade deshalb hat § 137e SGB V mit seinen Finanzierungsregelungen so große Bedeutung (Felix/Ullrich, NZS 2015, S. 921 ff.).

921 Dass diese gesetzlichen Vorgaben dabei sehr unterschiedlich ausgeprägt sind, liegt auf der Hand. Die in

§ 87 SGB V enthaltenen Vorgaben für den einheitlichen Bewertungsmaßstab füllen ganze Seiten; auch die gesetzlichen Vorgaben des KHEntgG für die Krankenhausschiedsstelle nach § 18a Abs. 1 KHG sind um-fassend. Im Kontext von anderen Normen schweigt das Gesetz vollständig – bezogen auf § 111c Abs. 3 SGB V beispielsweise finden sich keinerlei Vorgaben. Für die Frage der demokratischen Legitimation der einzelnen Gremien dürfte diesem Aspekt allerdings maßgebliche Bedeutung zukommen (hierzu unter B.)

922 Die Anwendung dieser Normen auf Normsetzungs- bzw. Normenverträge ist allerdings bekanntermaßen umstritten (hierzu Axer in: Schnapp/Wigge, Handbuch des Vertragsarztrechts § 10 Rn. 32 m.w.N.).

923 Vgl. insoweit auch § 69 SGB V.

924 Ein Vorrang des Vertragsmodells lässt sich insoweit ebenso wenig begründen wie ein Vorrang des Aus-schussmodells.

925 Das geht bis zu Vergütungsabschlägen oder sogar zum Wegfall des Vergütungsanspruch für bestimmte Leistungen (hierzu § 137 Abs. 1 S. 2 SGB V).

144

2. Mischformen der gemeinsamen Selbstverwaltung

Dass eine prinzipielle Grenzziehung zwischen der Beschlussfassung in einem Entschei-dungsgremium und dem Vertragsprinzip nicht möglich ist, zeigen im Übrigen die in der Bestandsaufnahme zu Tage getretenen Mischformen im Recht der gesetzlichen Krankenver-sicherung.

Zu nennen ist hier zunächst der Bewertungsausschuss nach § 87 SGB V.926 Dieser ist zwar ein paritätisch besetztes Entscheidungsgremium der Kostenträger auf Bundesebene und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, seine eigentliche Aufgabe ist aber der Vertragsschluss zwischen den genannten Parteien. Der Bewertungsausschuss ist damit ein bloßes Vertrags-hilfeorgan und mutiert im Fall der Nichteinigkeit der Ausschussmitglieder gleichsam zu sei-ner eigenen Schiedsstelle.927

Der in § 90 SGB V geregelte Landesausschuss bekommt im Kontext von § 99 Abs. 2 SGB V die Funktion einer Schiedsstelle, also einer Einrichtung, die bei Streit über den Inhalt eines Vertrags dessen Inhalt festsetzt.928 Umgekehrt ist die in § 92 Abs. 1 S. 4 f. SGB V ausdrück-lich so bezeichnete Schiedsstelle keine Schiedsstelle im übausdrück-lichen Sinne, weil sie gerade keinen Vertragsinhalt festsetzt – vielmehr geht es um eine Verkleinerung und Veränderung des schlussgremiums nach § 91 Abs. 2 SGB V zur Vermeidung einer Blockade bei der Be-schlussfassung.929

3. Vertragsersetzung durch Ausschüsse der gemeinsamen Selbstverwaltung

Schließlich sollte im Rahmen der Bestandsaufnahme deutlich geworden sein, dass die Fest-setzung des Vertragsinhalts nach dem Scheitern der Vertragsverhandlungen ihrerseits häufig durch Gremien der gemeinsamen Selbstverwaltung erfolgt. Wenn die Vertragsfestsetzung nicht einer Schiedsperson zugewiesen ist – was allerdings zunehmend der Fall ist930 – ent-scheiden das Schiedsamt nach § 89 SGB V oder die zahlreich im SGB V und im Kranken-hausfinanzierungsrecht normierten Schiedsstellen. All diese Gremien sind solche der ge-meinsamen Selbstverwaltung, wobei auf der einen Seite stets die Kostenträger und auf der anderen Seite die Leistungserbringer vertreten sind. Der Vertragsschluss wird also gleichsam ersetzt durch eine Ausschussentscheidung.