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Prognose

Im Dokument 25 02 (Seite 66-72)

Zur Prognose über die weitere Entwicklung im Bereich Neozoen / Invasive Tierarten ist nochmals auf die generelle Einbindung des Phänomens hinzuweisen. Drei Aspekte sind dabei wesentlich:

• Neben Mutation und Selektion ist für die Entstehung von Arten die Isolation eine notwendige Voraussetzung. Sie wird ermöglicht durch die Inhomogenität der ökologischen Bedingungen auf der Erdoberfläche. Diese verändern sich im Sinne einer Zonierung von den Polen zum Äquator (Einstrahlung mit Folgenkaskade für Klima, Bodenbildung, Vegetation usw.). Die Regelmäßigkeit der Zonen wird durchbrochen von der vertikalen Dynamik der Erdoberfläche (Höhen, Tiefen), der dynamik der Erddrehung und Gezeiten, der Konvektion der Luft und des Wassers (Unterschiede in Temperatur und Dichte, folgen für Meeresströmungen, Winde, Verteilung von Niederschlag usw.), schließlich ganz besonders durch das Aufbrechen von Pangaea und die wechselnde Verteilung und Zersplitterung der Erdoberfläche durch Kontinente und Inseln. Die Folge ist eine Hierarchie erdgeschichtlich entstandener Groß-Isolate, mit Untergliederungen bis in den lokalen Bereich.

Ia

IIa

IV

V a

V b

Ib

III

Abb. 2. Die zoogeographischen Großregionen. Erdgeschichtlich entstandene, mehr oder minder stark durch Ausbreitungsschranken getrennt (DE LATTIN 1967). Ia Paläarktis, Ib Nearktis, IIa Afrotropis, III Orientalis, IV Neotropis, V Australische Region, Vb Ozeanien.

(2) Die historisch und phylogenetisch wirksame Isolation wird von den Lebewesen nach Möglichkeit wieder durchbrochen, um sicherzustellen, dass jeder für eine einzelne Art aufgrund ihrer autökologischen Eigenschaften potenziell besiedelbare Raum auch tatsächlich besiedelt wird. Dazu dient das artspezifische Dispersionsvermögen. Es ist maximal bei den Bakterien. Daher konnte ROBERT KOCH für Bakterien postulieren:

Das Milieu ist alles, die Bakterie ist nichts (Kochsche Regel)

Das heißt, dass jedes Milieu über kurz oder lang von den passenden Bakterien besiedelt werden wird.

Ermöglicht wird dies durch die Masse, die Robustheit und Kleinheit der Mikroben, die durch Bewegungen von Luft, Wasser und Organismen fast unbegrenzt überall hin verschleppt werden können. Sie unterliegen einer fast vollständigen Dispersion. Jede andauernde räumliche Zuordnung (Verbreitungsgebiete, Areale) unterbleibt.

Dieses Modell bakterieller Infektionen kann auch auf die höheren Organismen übertragen werden (s.o.

„Infektion“, „Epidemie“). Allerdings ist der Vorgang der allgemeinen Verteilung auf alle potenziell besiedelbaren Milieus (Habitate) durch die unter (1) genannten natürliche Verbreitungsschranken (Klimazonen, Meere, Flüsse, Gebirge usw.) entweder dauerhaft oder langfristig verhindert oder wird zumindest stark verlangsamt. Anschaulich formuliert: Es wird extrem lange dauern bis ein Lama aus Südamerika aus eigener Kraft nach Europa gelangt und dort eine Population aufbaut.

(3) Der Mensch hat viele dieser Schranken beseitigt und gestattet eine ganz erheblich größere Dispersionsrate auch für große Organismen. Er ist beteiligt:

• Als Vektor, mit seinem Körper, seiner Kleidung, seinem biologischen und materiellen Umfeld,

• Durch die Herstellung neuer Habitate (z. B. Rodung, Monokulturen) und Setzung neuer Selektionsfaktoren (z. B. Überdüngung, Umweltgifte)

• Durch die Schaffung von Verbindungen oder Wegen zwischen bislang getrennten biogeographischen Räumen (Z. B. Kanäle, ggf. Dämme, Brücken).

Insofern ist der derzeitige Austausch zwar im Anlass anthropogen (Neozoen), im weiteren Verlauf jedoch ein ganz natürlicher Vorgang (Invasive Arten), allerdings mit ggf. für den Verursacher Homo sapiens unerwünschten Folgen.

Die Beeinflussung der Dispersion der Organismen über die Erdoberfläche ist eine der zahlreichen Aktivitäten der zunehmenden menschlichen Population. Sie ist eingebettet in den generellen Vorgang der Überführung von „Natur“ in ein vom Menschen dominiertes Gebilde „Kultur“ (Konversion), das im Zeitalter des Menschen (Anthropozoikum) mit der Zunahme der Bevölkerung und ihrer globalen Aktivität allumfassend wird (Abb. 3, 4).

Abb. 3. Die Zunahme der Erdbevölkerung. Nach verschiedenen Quellen.

Abb. 4. Der historische Vorgang der Transformation von Natur in Kultur.

In diesem Rahmen gewinnt eine Prognose über die Verfrachtung von Organismen durch den Menschen zwei Ausgangskriterien:

(1) Die Dispersion ist ein natürlicher Vorgang, der durch den Menschen (als Art unter Arten) weiter fortgesetzt wird und der durch das weitere Wachsen der Population von Homo sapiens und durch seine immer weiter ausgreifenden und intensivierten Aktivitäten der Globalisierung in steigendem Maße noch zunehmen wird. Prognose: Es ist in Zukunft mit einer steigenden Zahl von

Verschleppungen zu rechnen bzw. bereits erfolgte werden in zunehmendem Maße wahrnehmbar und wirksam.

(2) Der Transport und die Freisetzung eines Neozoons ist ein zufälliges, historisches Ereignis von meist geringer Wahrscheinlichkeit. Auch die Etablierung einer Art (Agriozoon) erfolgt unter den jeweiligen Bedingungen zufällig. Sie ist, wie wiederholte Ausbringungsversuche gezeigt haben, in der Regel nicht reproduzierbar. Der Vorgang ist irreversibel, abgesehen von ganz wenigen erfolgreichen, mit sehr viel Aufwand betriebenen Ausrottungsaktionen; selbst dann haben weit verbreitete bzw. sehr aktive Invasionsarten bereits eine nachhaltige Spur im Neo-Ökosystem hinterlassen. Prognose: Es ist prinzipiell nicht voraussagbar, welche Art als nächste eingeschleppt, eingebürgert (Agriozoon) oder als Invasive Art aktiv und auffällig werden wird. Dies deckt sich mit zahlreichen Versuchen, Regeln und Modelle für eine Voraussage von Bioinvasionen zu erlangen (z. B. BAKER & STEBBINS 1965, EHRLICH 1986, ROUGHGARDEN 1986, WILLIAMSON & BROWN 1986, DRAKE ET AL. 1989, PIMM 1989, TOWNSEND 1991, HOLMES 1993, HOLMES et al.1994, HASTINGS 1996). CARLTON & GELLER (1993) gebrauchten zu Recht den Ausdruck „Roulette“.

Dazwischen liegt ein Spielraum für Plausibilitäten, bzw. ein Entwicklungspotenzial für die Übertragung der prognostischen Methoden der medizinischen Epidemiologie:

• Es wurde bereits festgestellt, dass anders als bei den Höheren Pflanzen das bereits im Lande befindliche Infektionspotenzial bei Tieren aufgrund seiner speziellen Situation (Käfig, Aufsicht, keine vegetative Vermehrung) weniger für Auswilderung, Bildung agriozoischer bzw. invasiver Populationen in Frage kommt. Dies gilt in gleichem Maße für transgene Tiere.

• An Orten intensiver Einschleppung (z. B. Häfen, Frachtflughäfen, Lager, allgemein Ballungsräume) werden eher die Pforten für Neozoen zu suchen sein als in verkehrsmäßig abgelegenen oder weniger erschlossenen Gebieten.

• In Biozönosen mit Störungscharakter (Agriozönose, Forst, Ballungsräume, belastete Gewässer) werden sich eher Neozoen einfinden und halten können als in intakten Naturräumen. Dies gilt nicht unbedingt und ist außerhalb Europas widerlegt (vgl. Guam, Neuseeland, Australien).

• Ein besiedelter Lebensraum mit besonderen physiologischen Anforderungen stellt das Brackwasser dar (vgl. REMANE & SCHLIEPER 1971). Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit vorauszusagen, dass hier für die Brackgewässer der deutschen Küsten, aber auch für salzbelastete Fluss-Strecken noch keine Sättigung erreicht ist (BAMES 1994).

• Es werden sich eher Neozoen aus klimatisch und biozönotisch verwandten Gebieten (östliche Paläarktis, Nearktis) in Europa (westliche Paläarktis) erfolgreich ansiedeln können und zu

Agriozoen und invasiven Arten werden. Für die zahlreich verschleppten tropischen Organismen stellt der europäische Winter im Freiland meist eine sichere Erfolgssperre dar.

• Organismen, die bereits in anderen Teilen der Welt erfolgreich waren, sind potenzielle Kandidaten auch für Erfolg in Europa. Die Turmschnecke (Melanoides tuberculata) aus Vorderasien hat Nordamerika bereits erfolgreich invadiert; sie steht in Südeuropa und in Warmwasserausläufen Mitteleuropas in einer Latenzphase und kann jederzeit einen Siegeszug im Freiland beginnen. Umgekehrt waren die Körbchenmuschel (Corbicula spp.) aus Südostasien kommend erst in Nordamerika erfolgreich, bevor sie über Häfen in die Flusssysteme Europas eindrangen (KINZELBACH 1991, 1992).

• Kanalsysteme sind offene Pforten, durch die durch Eigenaktivität oder durch Schiffe gestützt permanent und wiederholt Faunenaustausch erfolgen kann. Hier wird die Voraussage einer völligen Homogenisierung der jeweils angrenzenden Faunen im Laufe der Zeit zutreffen. Es sei denn, es liegt eine Art „biologischer Barriere“ auf dem Weg, wie im Falle des Suez-Kanals die lebensfeindlichen Bitterseen (POR 1978). Solche Barrieren könnten auch künstlich gezogen werden.

• Für grobe Schätzungen geben Erfahrungsberichte einen Anhalt, etwa die „10er-Regel“ nach WILLIAMSON, nach der mit etwa 10% Neozoen in einer einheimischen Fauna zu rechnen seien.

Die Abweichungen in unterschiedlichen Habitatbereichen sind allerdings so erheblich, dass die Aussage wertlos ist bzw. nur einen momentanen Sachstand wiedergibt (MOYLE & LIGHT 1996).

• Auch die Faustregel, dass auf eine eingeschleppte Pflanzenart potenziell etwa 10 neu eingebrachte oder nachfolgende Neozoen kommen würden ist nicht durch detaillierte Zählungen belegt, sondern die Umkehrung der Erfahrungsregel, dass mit einer aussterbenden Pflanzenart ein tierischer Anteil ihres Organismenkomplexes von etwa 10 Arten aussterben würde.

Die erforderliche Kombination einer Vielzahl von beteiligten Bedingungen und Abläufen im Verlauf einer erfolgreichen Einschleppung macht eine Prognose für den Einzelfall nicht möglich. MACK et al.

(2000) zitieren ebenso die «chronic and stochastic forces » als charakteristisch für den Transfer von Organismen. Auch das internationale SCOPE 37 Projekt „Ecology of Biological lnvasions" (DRAKE et al. 1989) war erfolglos hinsichtlich der Gewinnung eines Modells für die Bestimmung des Risikopotentials einer eingeschleppten Art.

Potenziell sind alle Arten zu Invasionen geeignet. Im Erfolgsfall handelt es sich um raumzeitliche Zu-fallstreffer zwischen einem geeigneten Milieu und dem Ausbreitungs- bzw. physiologischen Potenzial von Organismen. Daraus ergibt sich umgekehrt die Notwendigkeit, mehr als bisher Einzelfallstudien zu betreiben, ähnlich den Ergebnissen des Genetic Engineering Act (GOLZ 1999, LEPPÄKOSKI 2001). Auch

der OECD Workshop von 1996 in Schweden gelangte zur gleichen Auffassung (SJÖBERG & HOKKANEN 1996).

Zur Erläuterung sei darauf hingewiesen, dass z. B. etwa um 1980 in gar keiner Weise die Besiedlung des Rheins mit Makrozoen (darunter 15% Neozoen) für das Jahr 2000 vorhersagbar gewesen wäre.

Dies sowohl quantitativ als auch das Artenspektrum betreffend. Dies, obwohl die Nachbarfauna vor der neuen Kanalverbindung zur Donau bekannt war. Völlig unerwartet trafen Körbchenmuscheln (Corbicula spp.) und Westafrikanische Dreiecksmuschel (Congeria cochleata) ein. Der Besatz mit den amerikanischen Flusskrebsen (Cambaroides oder Astacus pacificus), oder mit dem Blaubandkärpfling Pseudorasbora kam überraschend. Unvorhersehbar war, in welchem Umfange Brackwassertiere wie die Garnele (Palaemon anntennatus) oder die Seepocke (Balanus improvisus) flussaufwärts ins Süßwasser Mitteleuropas vordringen würden.

Der zweite Bereich der Etablierung und des Aufbaus einer Population (Invasion) verläuft bei Neozoen nach den bekannten allgemeinen Regeln der Populationsdynamik (Populationsökologie, Populationsgenetik). Hier gibt es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Ausbreitungsverhalten bzw. Populationsschwankungen einer autochthonen und einer neu eingebrachten Art. Insofern ist nach Etablierung - und gleiches gilt für einen gentechnisch modifizierten tierischen Organismus - eine Prognostik der Populationsentwicklung mit den üblichen statistischen Methoden bzw. durch Modellierung zu erreichen. Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass auch die besten existierenden Modelle für komplexe Systeme wie Biozönosen nur sehr unbefriedigend arbeiten. Vor allem fehlt es i.d.R. an konkreten Messdaten aus dem Feld und an langen Messreihen über Jahre hinweg (Zeitreihenanalyse). Diese Grundlagen können durch nichts ersetzt werden.

6.6 Zusammenfassung

Die vom Menschen verursachte Verfrachtung von Organismen, hier Faunen, in Regionen, in denen sie von Natur aus nicht vorkamen, wird in einen allgemeinen Kontext gestellt. Ortsveränderungen werden als natürliche Erscheinung charakterisiert mit den Komponenten des Dispersionsvermögens einer Art, der potenziellen Bewohnbarkeit einer Region und ihrer tatsächlichen Erreichbarkeit über Verbreitungsschranken hinweg. Bei Organismen treten Verbreitungsschranken auf, die mit dem natürlichen Ausbreitungspotenzial nicht oder nur durch Zufall in langen Zeiträumen überwunden werden können. Hier tritt der Mensch als direkter oder indirekter, absichtlich oder unbeabsichtigt agierender Vektor auf.

Zuwanderung von Tieren ist im postglazialen Europa, parallel zur Verschiebung von klima- und Vegetationszonen, ein lang andauernder, umfassender Vorgang (Postglaziale Remigration). In ihn gliedert sich die Aktivität des Menschen als Vektor ein. Es zeigen sich dabei drei Höhepunkte, die mit historisch fassbaren Entwicklungen in der Menschheitsgeschichte zusammenfallen: Die neolithische Revolution mit der Einführung von Ackerbau und nicht-nomadischer Viehhaltung, der Beginn des Zeitalters der Entdeckungen und des Kolonialismus seit 1492 und die Ära der Globalisierung seit etwa

1985. Jedes Mal erfuhr die Dynamik der Fauna einen Schub. Dies ergibt sich aus der zunehmenden Beeinflussung der Natur durch den Menschen im Anthropozoikum. Die Korrelation Mensch-Faunenentwicklung kann kleinräumig noch weiter aufgelöst werden. Daraus geht hervor, dass jede Einschleppung ein irreversibler, historischer Vorgang ist; nur statistisch sind Regeln zu erkennen. Der Einzelfall ist nicht vorhersehbar.

Dies wird untersetzt mit einer Analyse des Einschleppungsvorganges (Infektion) eines „Neozoons“ und der evtl. anschließenden Etappe der Ausbreitung als „Invasive Art“. Der erste Abschnitt ist historisch-einmalig, der nachfolgende vollzieht sich nach den allgemeinen Regeln der Populationsdynamik.

Dieses Modell kann auf freigesetzte genetisch veränderte Arten übertragen werden, mit dem Fazit, dass in diesem Falle ebenfalls nur die generelle Aussage einer möglichen Einwirkung getroffen werden kann; eine Prognose über die Dynamik der Freisetzung, der daran anschließenden Entwicklung und der Folgen kann nicht getroffen werden. Es ist allerdings zu erwarten, dass sich ein freilebender, genetisch veränderter Organismus genau so wie eine invasive Art verhalten wird. Trifft er auf artgleiche Populationen, wird er sie im Sinne eines Paraneozoons genetisch introgredieren.

7 Übersicht über die Neozoen in Deutschland

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