• Keine Ergebnisse gefunden

Neozoen als Modellfall

Im Dokument 25 02 (Seite 61-66)

6.4.1 Legitimation als Modell

Sowohl die Neubesiedlung (Infektion) durch Neozoen als auch die ggf. anschließende Ausbreitung besitzen exemplarischen Charakter. Sie können parallel gesetzt werden zu natürlichen Ausbreitungsvorgängen, aber auch zur evtl. Ausbringung gentechnisch veränderter Arten (Tab. 15).

Tab. 15. Vergleich dreier Gruppen von Infektionen und anschließendem Aufbau einer Neopopulation. Die Ausgangsbedingungen sind heterogen, das Resultat, die Neopopulation, entwickelt sich gleichartig, nach den gleichen Gesetzmäßigkeiten der Populationsgenetik bzw. Populationsdynamik.

Verbreitungstyp Genotyp Infektion Neopopulation

Natürliche Ausbreitung autochthon

Trifft die aufgezeigte, im Prinzip gleichartige Entwicklung einer Neopopulation in allen drei Fällen zu, so darf aus den Erfahrungen mit natürlichen und mit neozoischen Invasionen auf das Verhalten evtl. ins Freiland verbrachter gentechnisch veränderter Arten geschlossen werden. Neozoen ersparen experimentelle Ansiedlungsversuche mit gentechnisch veränderten Tieren (Tab. 8). Zur Untersuchung müssen nur geeignete Beispiele aus nächstverwandten Taxa ausgewählt werden.

Im Fall der gentechnisch veränderten Tiere hat der Mensch maximale Kontrolle über das genetische Material der Ausgangspopulation, bei Neozoen ist diese auch bei bewusster Auswahl der Gründerpopulation i. d. R. geringer. Das Verhalten der Neopopulation gabelt sich bei gentechnisch veränderten Organismen wie bei Neozoen, je nachdem, ob die Gründerpopulation kontrolliert in ein genau vorausbestimmtes neues Habitat eingeführt wird oder ob eine unkontrollierte Entwicklung (Entweichen, ungewollte Verfrachtung und Ausbringung) stattfindet. Im letzteren Falle treten alle die Risiken auf, die eine neozoische Gründerpopulation betreffen: Selektion durch den Übertragungsvorgang (Fruchtbarkeit, Alter, Geschlechterverteilung, Eignung von Milieu und Substrat, Ausbringung an einer geeigneten Stelle). Vermutlich wird sich, wie bei Neozoen, i. d. R. nur bei etwa 1% der verfrachteten gentechnisch manipulierten Organismen (-populationen) eine sehr erfolgreiche (invasive) Neopopulation etablieren.

Gentechnisch manipulierte Organismen werden im Freiland nach beabsichtigter oder unabsichtlicher Freisetzung entweder keine Angehörigen der gleichen Art antreffen. Sie verhalten sich in diesem Falle genetisch isoliert, so wie die typischen Neozoen. Oder sie treffen im Freiland auf bereits vorhandene Populationen der gleichen Art. Sie besitzen dann den Charakter von Paraneozoen und können mit den artgleichen, genetisch jedoch nicht identischen freilebenden Populationen erfolgreich und unbegrenzt fruchtbar hybridisieren bzw. die Freilandpopulation introgredieren. Die Einzelheiten sind nicht pauschal vorhersagbar, weil dazu die beteiligten Genome genauestens bekannt sein müssten, insbesondere auch ihre Anteile an dominanten bzw. rezessiven Allelen.

Bei Tieren und höheren Pflanzen ist anders als bei Bakterien bisher horizontale Gentransfer im Freiland nur durch Vermittlung von Viren bekannt oder wahrscheinlich. Vertikale Gentransfer (Mixis und Generationenfolge) ist durch morphologische, ökologische und Verhaltensmerkmale sehr auf Angehörige der eigene Art eingeschränkt, weit mehr als z. B. bei windblütigen Pflanzen. D. h. auch eine genetisch manipuliertes Material tragende Population wird ihren Genpool nur auf Artangehörige und somit begrenzt weitergeben können. Für Identifikation und ggf. erforderliche Kontrolle verbleibt eine „Vorwarnzeit“.

Es liegen bisher praktisch keine Erfahrungen mit im Freiland freigesetzten gentechnisch veränderten Tieren vor. An Mäusen (z. B. GSF Umwelt und Gesundheit München-Neuherberg), Ratten, Schafen, Rindern und Schweinen wurde in geschlossenen Haltungen experimentiert. Ein Rhesusaffe wurde in Oregon (University of Health Science, G. SCHATTEN) mit Genen für ein grün leuchtendes

Marker-Protein aus Quallen versehen (Science März 2001). Fische wurden zur Leistungssteigerung in Hydrokultur / Aquafarming experimentell mit Wachstumsgenen versehen.

• In Lachse in Nordamerika (z. B. Fa. A/F Protein, Elliot ENTIS) wurden Wachstumsgene eines Dorschfischs (Gadidae) eingebracht; Antrag auf Zulassung läuft in Kanada und den USA (Pressemitteilung).

• Lachs (Salmo salar) in Skandinavien; Petersfisch (Tilapia zillii und andere Cichlidae) und Nilbarsch (Lates niloticus) in Israel und Ägypten; verschiedenen Cyprinidae in Wuhan (China) wurden mit menschlichem Wachstumsgen angereichert; sie entkamen bei einem Hochwasser im Jahre 2000.

• Regenbogenforellen (Oncorhynchus mykiss) in Vancouver zeigten nach Einführung von Wachstumsgenen rascheres Wachstum bei gleicher Endgröße; sie legten nahe, dass in Zuchtstämmen bereits der gleiche Effekt durch traditionelle Selektionszüchtung erreicht wurde (Nature 409: 781).

Diese Angaben stammen im Wesentlichen aus persönlichen Mitteilungen, Erfolgsmeldungen in der Tagespresse und aus „grauer“ Literatur. Über das Thema wird aus Gründen des Patentschutzes kaum publiziert.

Wurde zuvor für den Einbringungsvorgang für Neozoen der Begriff „Infektion“ gebraucht, so lässt sich das Gesamtgeschehen, einschließlich einer ggf. nachfolgenden Invasion auch als „Epidemie“ im Sinne der Medizin auffassen. Es ist zu prüfen, inwieweit die theoretischen Grundlagen der medizinischen Epidemiologie auf die höheren Organismen übertragen werden können. Von besonderem Interesse könnten dabei computergestützte Frühwarnsysteme für Epidemien sein, Forschungsgebiet von Prof.

Dr. L. GIERL (Med. Fak., Universität Rostock; vgl. KREIENBROCK & SCHACH 2000).

6.4.2 Hybridisierung - ein wichtiger Aspekt der Neozoen und Paraneozoen

Arten sind als Fortpflanzungsgemeinschaften definiert. Die - wohl am häufigsten zitierte - Artdefinition von MAYR (1975) lautet (für Tiere): „Arten sind Gruppen miteinander kreuzender natürlicher Populationen, die hinsichtlich der Fortpflanzung von derartigen anderen Gruppen isoliert sind“. Art- oder sogar Gattungshybriden sind im Regelfall nicht fertil, so dass kein Genfluss auf eine oder beide Elternarten stattfinden kann. Sie widersprechen dieser Artdefinition zunächst nicht.

Die Vermischung von Arten wird durch eine Hierarchie von Fortpflanzungsbarrieren verhindert. Zuerst greifen Verhaltensunterschiede, unterschiedliche Orte und Zeiten der Reproduktion; es folgen Veränderungen in Struktur, Physiologie und Chemismus (z. B. Geruch); die nächste Stufe können prä- und postzygotische Unverträglichkeiten bilden, z. B. Undurchdringlichkeit der Eihülle für fremde Spermien, Probleme bei der Zygotenbildung durch Chromosomeninkompatibilität, Ausbleiben von Zellteilung, da die Chromosomenpaarung gestört ist, Aussetzen der Weiterentwicklung des Keimes bei gestörter Gewebedifferenzierung usw.

Ein Sonderfall der Trennung von Arten ist die geographische Trennung. Haben sich die Arten oder Populationen während der Trennungszeit weit genug voneinander weg entwickelt, so reicht die genetische Distanz um fruchtbare Hybridisierung zu verhindern, falls diese Arten aufeinander treffen.

Ist die genetische Distanz jedoch gering und fand infolge der disjunkten Verbreitungsgebiete keine Selektion auf Abgrenzungsmechanismen im Verhalten gegenüber verwandten Arten statt, so ist die geographische Barriere die einzige zwischen diesen Arten.

Bei höheren Tieren sind meist effektive Paarungsschranken im Verhalten vorhanden, welche - möglicherweise fertile - Hybriden gar nicht erst entstehen lassen. Gerade die zahlreichen Hybridisierungsfälle bei Vögeln (Anatidae, Fringillidae) belegen, dass eine biologische (Verhalten, Ökologie) Arttrennung weit früher erfolgen kann als der Nachvollzug durch genetische Inkompatibilität.

Wo Tiere aus dem natürlichen Umfeld genommen sind, entfallen solche Paarungsschranken. Es kommt zu meist sterilen, ggf. jedoch auch zu fertilen Hybriden. Auch unter Freilandbedingungen sind Hybride (sterile, fertile) aus den meisten Ordnungen des Tierreichs bekannt und weit häufiger als bislang angenommen (STREIT et al. 1994). Bei natürlicherweise expandierenden Arten kommt es auch im Freiland infolge Mangels an geeigneten Partnern der eigenen Art zu Hybridisierung, z. B. beim Blutspecht (Dendrocopos syriacus) zu Hybriden mit dem Buntspecht (Dendrocopos major);

Türkentauben (Streptopelia decaocto) haben gelegentlich mit verwilderten Lachtauben (Streptopelia roseogrisea) bastardiert (Datensammlung R. KINZELBACH).

Neozoen haben unter Mithilfe des Menschen geographische Artschranken überwunden. Tierarten, die keine oder nur unzureichende Abgrenzungsmechanismen gegeneinander haben, treffen ggf.

aufeinander. Ist die genetische Distanz zwischen diesen Arten nicht zu hoch, kommt es zur Entstehung fertiler Hybride (vgl. Schwarzkopf- und Weißkopf-Ruderente). Im Extremfall kann dies zur genetischen Unterwanderung einer Art durch eine andere führen (Introgression), die Bildung einer Mischart ermöglichen oder zu einem erhöhten Gefahrenpotenzial (u. a. Resistenzbildung, Erweiterung des Wirtsspektrums) bei Parasiten oder Krankheitserregern führen. Selbst wenn sich Neozoen im allgemeinen als wenig schädlich für die autochthonen Arten erweisen sollten, so muss die genetische Introgression einschließlich der fertilen Hybridisierung, wie bereits beobachtet, sehr sorgfältig und kritisch beobachtet werden.

Stellvertretend einige Beispiele von Problemen, die durch Hybridisierung verursacht werden:

• Im Rio Pecos introgrediert eine eingeschleppte Art des Edelsteinkärpflings den einheimischen Wüstenkärpfling über das Phänomen des „super-male“ (Weibchen einer Art bevorzugen bedingungslos die Männchen einer anderen als Partner) (A. KODRIC-BROWN, Pressemitteilung).

• Die in Australien heimische Augenbrauenente (Anas superciliosa) wurde von der eingeführten Stockente (Anas plathyrynchos) durch Hybridisierung in einigen Populationen genetisch verdrängt, so dass phänotypisch nur noch Stockenten erkennbar sind.

• Die neuweltliche Schwarzkopfruderente (Oxyura jamaicensis) introgrediert von ihren Neopopulationen in Westeuropa aus die Bestände der autochthonen Weißkopfruderente (Oxyura leucocephala) auf der Iberischen Halbinsel.

• Hybridisierungen von parasitischen Neozoen wurden in Deutschland noch nicht beobachtet;

jedoch verursacht gegenwärtig ein Hybrid zwischen einem Neomyceten und einem einheimischen Pilz (Phytophthora cambivora x P. fragia) in England ein großes Erlensterben, bei dem bereits viele Bäume eingegangen sind, obwohl jede der beide Pilzarten für sich der Pflanze nicht gefährlich werden können.

• Bei den Süßwasserschnecken Bulinus truncatus und Ancylus fluviatilis zeigen sich Veränderungen durch Hybridisierung (STREIT et al. 1994; ALLENDORF 1991). Die polyploiden Hybriden sind zur Bildung eines Enzymtyps fähig, den keine der ursprünglichen Arten bilden kann. Bei neozoischen Parasiten sind ähnliche Folgen denkbar.

• In Falkenzuchten (Export für die Beizjagd) wurden Hybride von Wanderfalke (Falco peregrinus) und anderen Arten der gleichen Gattung erzielt. Verwildert können sie mit den Ausgangsarten rückkreuzen bzw. deren Reproduktion auf andere Weise stören. Der autochthone Bestand des Wanderfalken ist durch genetische Introgression potenziell gefährdet (WEGNER 2000).

• Hybride unter Vögeln sind besonders gut untersucht, weil sie sich vom Phänotyp her relativ sicher ansprechen lassen (GRAY 1958). Einige Gänsehybriden sind nachgewiesenermaßen fruchtbar und entstehen regelmäßig auch außerhalb von Haltungen.

Je häufiger Arten in neue Verbreitungsgebiete gebracht werden desto mehr Hybriden entstehen.

Obwohl nur ca. 0,01% der Tierarten weltweit in der Gruppe der Anatiden zu finden sind, stellen sie unter den entdeckten Neozoen Deutschlands ca. 5%. Dies liegt daran, dass gerade Anatiden sowohl aus jagdlichen Gründen als auch aus ästhetischen (Ziergeflügel) besonders häufig importiert werden, aber auch daran, dass Entenvögel leicht entdeckt und gut bestimmt werden können. Eine der Folgen der häufigen Verbringung ist, dass weltweit gegenüber 149 beschriebenen Anatidenarten ca. 430 beschriebene Hybriden zwischen diesen Arten existieren. Bei Gänsen sind bereits über 60% der theoretisch möglichen Kombinationen an Hybriden beschrieben SCHERER & HILSBERG (1982). In Deutschland wurde der Anteil der Gänsehybriden, die einen Neozoenanteil aufweisen, auf 90%

geschätzt (RANDLER 1999).

Hybridisierung bzw. Introgression sind bei Pflanzen weit verbreitete Mechanismen zur Vermehrung der Vielfalt der Sippen. Sie sind bei Tieren wahrscheinlich viel weiter verbreitet als bisher angenommen.

Ein gut untersuchtes Beispiel ist die Dynamik des „Kleptons“ Wasserfrosch (Rana kl. esculenta), das immer wieder neu aus zwei Ausgangsarten hervorgeht (GÜNTHER 1990).

Hybridisierung ist in allen biologischen Taxa ein wirksamer Weg, auf dem künstlich veränderte Gene von manipulierten Populationen auf freilebende Populationen bzw. Arten übergehen könnten. Daher ist auf die bisher erst in Anfängen untersuchte Hybridisierung von Tieren in freilebenden Beständen, erhöhte Aufmerksamkeit in Forschung und Monitorring zu richten.

Im Dokument 25 02 (Seite 61-66)