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Produktive und rezeptive Bewegung

Im Dokument Paul Klees Lehre vom Schöpferischen (Seite 196-200)

In der Lehre beschäftigte sich Klee vor allem mit der Vermittlung der produktiven Schöp-fung. In einigen Äusserungen thematisiert er auch die schöpferische Rolle des Rezipienten.

Während er im Entwurf für die Schöpferische Konfession das Problem erläuter-te, dass der Betrachter ans Ende gestellt werde und was die Genesis betreffe, scheinbar den umgekehrten Weg gehen müsse,972 forderte er in der Endfassung, dass die Wege der Wahrnehmung im Werk eingerichtet sein müssen: „Dem gleich einem weidenden Tier abtastenden Auge973 des Beschauers sind im Kunstwerk Wege eingerichtet. […] Das bildnerische Werk entstand aus der Bewegung, ist selber festgelegte Bewegung und wird aufgenommen in der Bewegung (Augenmuskeln).“974 Er betonte damit die Bedeutung der Bewegung bei der Produktion wie auch bei der Rezeption von Kunst. Im Jenaer Vortrag verlangte Klee vom Künstler in erster Linie „Beweglichkeit“. „Sie vermag den Schaffen-den von Grund aus zu bewegen und, selber beweglich, wird er schon für die Freiheit der Entwicklung auf seinen eigenen Gestaltungswegen sorgen.“ Er soll die Naturdinge mit Mikroskop und Röntgenblick durchdringen und sich statt des fertigen Dinges das „allein wesentliche Bild der Schöpfung als Genesis“ einprägen. Dies bedeute „Beweglichkeit auf den natürlichen Schöpfungswegen“ als Formungsschule und die Freiheit, „ebenso beweg-lich zu sein, wie die grosse Natur bewegbeweg-lich ist.“975 Während Klee in der Schöpferische Konfession eher von der physischen Bewegung sprach, so meinte er im Vortrag in Jena auch die psychische Bewegtheit.

972 Klee 1956, S. 10.

973 Zu Klees Quellen für „Tastfunktion“ des Auges siehe Bonnefoit 2004, S. 9–11 und Bonnefoit 2009, S. 77–78. Sie verweist auf Hildebrands Schrift Das Problem der Form in der bildenden Kunst (1893) und Heinrich Wölfflins Standardwerk Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Wölfflin 1915, S. 20 und 23. Konrad Fiedler entwickelt den Gedanken Hildebrands in seiner Schrift über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit (1887) weiter. Sich auf Hildebrand beziehend ver-wendet auch August Endell den paradoxen Begriff des „tastenden Auges“, dem man in zahlreichen Quellen der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts begegnet; so auch in Rudolf Steiners Vortrag vom 15.2.1918 in München. Siehe oben S. 68. Als weitere Quelle erwähnt Bonnefoit Jean-Jacques Rousseaus Schrift Emile ou De l’Education (1762), die sich in der Nachlass-Bibliothek befindet.

Zu dem seit der Antike geführten Streit um die Priorität von Auge oder Tastsinn siehe Manthey 1983, S. 193–209. Siehe auch oben Anm. 517.

974 SK 1920, S. 35.

975 Jena 1924, fol 13v und 14r.

Die Vorstellung einer produktiven und rezeptiven Bewegung gilt auch als Grundlage für Klees Gestaltungslehre am Bauhaus. Im Bezug auf die rezeptive Bewegung konzentrierte sich Klee in den Beiträgen zur bildnerischen Formlehre vor allem auf die Augenbewe-gung, später in der Principiellen Ordnung führte er auch den psychischen Aspekt der Bewegtheit ein.

Im ersten Vorlesungszyklus untersuchte Klee nach der genetischen und phy-siologischen Analyse des menschlichen und pflanzlichen Organismus’976 die Bedeutung der Bewegung für die bildnerische Gestaltung. So notierte er für die Vorlesung vom 27.

Februar 1922:

„Unsere Werke werden von sich aus meist ruhig an ihrem Platze blei-ben. Und trotzdem sind sie ganz Bewegung. Allem werdenden ist Bewegung eigen, und bevor das Werk ist, wird das Werk, genau wie die Welt, bevor sie war, nach dem Wort ‚am Anfang schuf Gott’ ge-worden ist, und des weitern wird, bevor sie in Zukunft ist.“977

Ob der Gestalter nun Stein auf Stein legt oder aus dem Block ein Stück Stein schlägt, es handelt sich um „die initiale produktiv-Bewegung, die Anfangshandlung des Schaffenden.

[…] Kurz nach dieser initialen Produktiv-Bewegung setzt schon beim Schaffenden die ers-te Gegenbewegung ein, die initiale Receptiv-Bewegung.“978 Mit der rezeptiven Bewegung meinte Klee nicht nur die des Betrachters, sondern auch die des Schöpfers, dessen Werk aufgrund von Aktion und Reaktion, Bewegung und Gegenbewegung entstehe.

Anschliessend untersuchte er, was bei der Rezeption eines Kunstwerkes beim Betrachter physisch passiere.979 Klee bezog sich bei der Untersuchung der rezeptiven Be-wegung nicht nur auf die „AugenbeBe-wegungstheorie“, sondern auch auf die jüngsten For-schungsergebnisse der Gestaltpsychologie.980

In der Principiellen Ordnung sprach Klee von der Vorschöpfung, dem Bewegt-sein als Voraussetzung für Gestaltung, von der Schöpfung und von der Nachschöpfung durch den Betrachter.981

976 BF/82–89, 13.2.1922, S. 79–86: Analyse der menschlichen Glieder (Muskel, Sehne, Knochen, Band, Nerv, Hirn) und BF/95–96, 27.2.1922, S. 92–93 (Wachstum Pflanze, menschlicher Kreislauf).

977 BF/97, 27.2.1922, S. 94.

978 BF/98, 27.2.1922, S. 95

979 Bonnefoit zeigt mehrere Quellen auf, die für Klees Reflexionen zur

Wahrnehmung von Bedeutung sind. Siehe dazu Bonnefoit 2004, Bonnefoit 2007, S. 203, Bonnefoit 2009, Kapitel „V.2. Die Linie als imaginäre Bewegungsspur des Auges“, S. 76–84 und „V.4. Die Theorie der Augenbewegung“, S. 85–87.

980 Zur Kritik der Augenbewegungstheorie siehe Bühler 1913, S. 30, 80.

981 Bonnefoit zeigt auf, dass neben Klee auch Hölzel den Begriff der

„Nachschöpfung“ brauchte. In der kunsthistorischen, philosophischen und psy-chologischen Literatur der Zeit um 1900 (bsp. bei Konrad Fiedler, Theodor Lipps, August Schmarsow) stösst man immer wieder auf den Terminus „Nachschaffen“, den Klee auch in seinem Entwurf für die „Schöpferische Konfession“ verwendet.

Mehr dazu Bonnefoit 2009, S. 87, Anm. 120.

„Die Vorbewegung in uns, die tätige werkliche Bewegung von uns in der Richtung des Werkes, und die weitere Fortführung der Bewegt-heit im Werk auf andere, auf die Beschauer des Werkes das sind die Hauptabschnitte des schöpferischen Ganzen, als Vorschöpfung Schöp-fung und NachSchöpSchöp-fung. Die Vorbewegung führt als Drang zur Pro-duction. Sowie in der Natur so steht es auch mit uns. Die Natur ist schöpferisch und wir sind es.“982

Wie im Vortrag in Jena meinte er hier mit Bewegung nicht nur eine physische, sondern auch eine psychische Bewegtheit. Sie sind Voraussetzung für Gestaltung im Allgemeinen.

Das betrachtende Subjekt geht nicht nur die eingerichteten Wege, sondern schafft das Werk durch Einfühlung neu. Wie Lipps beschränkte er die Rezeption eines Kunstwerkes nicht auf die Augenbewegung, sondern erweiterte sie mit der Einfühlung des Betrach-ters.983 Wie Klee für den Gestalter in Wege des Naturstudiums erörterte, handelte es sich auch beim Betrachter nicht nur um eine rein physisch-optische Rezeption durch Augenbewegung, sondern auch um eine metaphysische Rezeption durch subjektive Er-gänzung. Diese Gedanken entsprachen der Gestalttheorie, welche von der These ausging, dass die Wahrnehmung nicht bloss aufgrund physiologischer Grundlagen geklärt wer-den konnte.984 Max Wertheimer (1880–1943), einer der Hauptbegründer der Gestaltpsy-chologie, sprach von „subjektiver Ergänzung“ des Auges zwischen zwei Reizpunkten.985 Der Betrachter wurde auch bei Adolf Hildebrand (1847–1921) oder Friedrich Schumann (1863–1940) zum Ausfüllen der Lücken, zum selbständigen Gestalten angehalten, um somit aktiv am Schaffensprozess teilzunehmen. Es ist dieser eigenständige Beitrag des Betrachters zum Bildwerk, den Klee als „Nachschöpfung“ bezeichnete.986

Klee erwartete nicht nur vom Gestalter, sondern auch vom Betrachter, dass er schöpferisch sei. Sowohl die produktive wie die rezeptive Gestaltung gründen auf Bewegung. Mit Beweglichkeit meinte er nicht nur physische, sondern auch psychische Bewegung. In seiner Lehre, deren Ziel die Vermittlung von Gestaltungsgrundlagen war, nahmen die Erläuterungen zur Bedeutung der Bewegung für die produktive Gestaltung natürlich mehr Raum ein als die zur Rezeption.

982 BG I.2/76–77, 9.1.1924.

983 Lipps 1903/1906, Bd. 1, „Linien als Träger von Bewegungen“, S. 226–228. Zu Lipps Einfühlungstheorie siehe Hand 2009, S. 76–78.

984 In diesem Zusammenhang werden auch die „Gestaltgesetze“, wie z.B. „das Gesetz der relativen Grösse“, oder „das Gesetz der Prägnanz“ formuliert.

Ehrenfels brachte 1890 den Begriff der „Gestaltqualität“ in die ästhetisch- psychologische Diskussion. Rinker 1993, S. 26, Anm. 104.

985 Wertheimer 1912, S. 185–186.

986 BG I.2/77 8.1.1924; vgl. Bonnefoit 2007, S. 203.

Um die Bedeutung der Bewegung für die produktive Gestaltung hervorzuheben, begann Klee die Vorlesung vom 27. November 1923 mit dem Vergleich der künstlerischen und der natürlichen Schöpfung. Es sei ein Ende anzustreben, forderte er, „das man eben analog zum natürlichen Vorgang auch werden lässt als Resultat von formbestimmenden Activitäten. (Also auch hier nicht Form sondern Formung, nicht Form als letzte Erschei-nung, sondern Form im Werden, als Genesis.)“.987 In der Vorlesung vom 8. Januar 1924 griff Klee das Thema erneut auf und entwickelte seine „elementare Lehre vom Schöpfe-rischen“ wie folgt:

„Die Natur ist schöpferisch und wir sind es. Sie ist es im Kleinen und kleinsten und da es hier im Kleinen leichter mit einem kurzen inten-siven Blick zu erkennen ist, haben wir auch im Kleinen begonnen, es der schöpferischen Natur gleichzutun, und gelangten unter ihrer Führung leicht dahin, uns schöpferisch selbst zu erkennen.“988

Hier erklärte Klee, weshalb er sich in der Lehre auf Beispiele aus der Natur bezog. An-schliessend kam er auf das Verhältnis von Formung zu Form zu sprechen und postulierte das fundamentale Prinzip seiner Gestaltungslehre:

„Der Weg zur Form, welcher von irgendeiner inneren oder äusse-ren Notwendigkeit dictiert sein soll, steht über dem Ziel, über dem Ende dieses Weges. Der Weg ist wesentlich und bestimmt den ein-mal abzuschliessenden und einein-mal abgeschlossenen Charakter des Werkes.989 Die Formung bestimmt die Form und steht daher über ihr. Form ist also nirgends und niemals als Erledigung als Resultat, als Ende zu betrachten sondern als Genesis, als Werden, als Wesen.

Form als Erscheinung aber ist ein böses gefährliches Gespenst. Gut ist Form als Bewegung, als Tun, gut ist tätige Form. Schlecht ist Form als Ruhe, als Ende, schlecht ist erlittene, geleistete Form. Gut ist Formung. Schlecht ist Form; Form ist Ende ist Tod. Formung ist Bewegung ist Tat. Formung ist Leben. In diesen Sätzen concentriert sich die hier mitten durchdrungene berührte elementare Lehre vom Schöpferischen.“990

987 BG I.2/21, 27.11.1923.

988 BG I.2/77, 8.1.1924.

989 Der Weg als Metapher für die künstlerische Arbeit siehe Hoppe-Sailer 2008, S. 67. Klee spricht von der „Identität von Weg und Werk“. BG I.2/79, 8.1.1924.

990 BG I.2/78, 8.1.1924.

Diese Sätze könnten nicht oft genug wiederholt werden, fuhr er fort, denn ihre Bedeutung sei grundsätzlich. Form war für Klee immer Genesis. Sie ist nie abgeschlossen, sondern, im Sinne Goethes Metamorphosenlehre, ein im ständigen Wandel befindliches Gebilde.

Mit „Genesis“ bezeichnet er sowohl die geschaffene Form als auch deren Schöpfung.991 Mehrere Tagebucheinträge bezeugen, dass Klee bereits vor seiner Lehrtätigkeit am Bauhaus die künstlerische Schöpfung als Genesis verstand und den Prozess dem Re-sultat vorzog. So thematisierte er 1905 die zeitliche Komponente in der bildenden Kunst und bezeichnete die Ausdrucksbewegungen des Pinsels als „Genesis des Effektes“.992 Er sprach von der Wiedergabe des Typischen „in durchgedachter formaler Genesis“993 und meinte damit sowohl das Verfahren als auch das Produkt, also der Akt des Malens wie auch das entstandene Kunstwerk. Als „Genesis einer Arbeit“ beschrieb Klee 1908 die synthetische Zusammenfassung des Arbeitsprozesses.994

„Jedesmal wenn im Schaffen ein Typ dem Stadium der Genesis ent-wächst, und ich quasi am Ziel anlange, verliert sich die Intensität sehr rasch, und ich muss neue Wege suchen. Productiv ist eben der Weg das Wesentliche, steht das Werden über dem Sein. (Hie Werk das wird, hie Werk das ist.),“ so Klee in einem Tagebucheintrag im Jahr 1914.995

Mit „Genesis“ bezeichnete er das naturanaloge Werden des Kunstwerkes. Genesis ist zum einen „formale Bewegung […] das wesentliche am Werk“996, zum anderen ist sie

„eine besondere Art der Analyse […] des Werkes auf die Stadien seiner Entstehung hin.“997 „Genesis“ meint also die Erkennbarkeit der Gesetzmässigkeit des Schöpferischen und deren Entstehung in allem Gewordenen. In diesem Sinne kritisierte Klee starre Schülerarbeiten:

„Man sah wohl ein Resultat aber keine Begründung Keine Gene-sis. Dies ist überhaupt der Begriff des Starren, ein nicht funktionie-ren des Werdeprocesses: Die loslösung eines Resultates von seinen

991 Mehr dazu Hoppe-Sailer 1998b, S. 287–293. Als Beispiel erwähnt der Autor das Werk Blüte 1915, 83. Es veranschauliche Klees Genesis als Produkt und Produktion, Oszillieren zwischen gegenstandsfreier und -gebundener Form, Verschränkung von amorphen und technoiden Formen zwischen Tier und Pflanze. Hoppe-Sailer 1998b, S. 390.

992 TB 1988, Nr. 640, Mai 1905, Bern, S. 215.

993 TB 1988, Nr. 813a, März 1908, München, S. 263.

994 TB 1988, Nr. 822, Juni 1908, München, S. 270.

995 TB 1988, Nr. 928, 1914, München, S. 361.

996 TB 1988, Nr. 943, 1914, München/Bern, S. 363.

997 BF/4–5, 14.11.1921, S. 2–3.

Im Dokument Paul Klees Lehre vom Schöpferischen (Seite 196-200)