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Kunst als Werden – Versuch einer Kontextualisierung

Im Dokument Paul Klees Lehre vom Schöpferischen (Seite 37-40)

In seinem Unterricht griff Klee in den ersten Jahren immer wieder auf Anschauungsbei-spiele aus der Natur zurück, um die Vorrangstellung der Wege zur Form zu erklären. Will man das Schöpferische in Klees Unterricht erklären, muss man daher das Verhältnis von Natur und Gestaltung in den Diskursen der Moderne berücksichtigen. Mit der Betonung des Prozesses und der Bewegung hatte Klee keineswegs eine isolierte Position inne. Aus-gehend von Goethes Metamorphosenlehre wurde in der romantischen Naturphilosophie und in der Folge in der Lebensphilosophie und in den esoterischen Weltanschauungen im frühen 20. Jahrhundert das Werden in der Natur mit der künstlerischen Schöpfung in Verbindung gebracht. Auch in zeitgenössischen Kunst-Zeitschriften wie Der Sturm, Kunst und Künstler, Das Kunstblatt oder Der Ararat wurde über die Bedeutung des Werdens und der Bewegung diskutiert.124 Es ist schwierig zu belegen, welche Impulse Klee wann und woher erhielt. Bei der Kontextualisierung soll, ausgehend von der Klee-Forschung, versucht werden, das „epochale Moiré der unscharfen Gedanken“ sichtbar zu machen.

An Vorschlägen möglicher Quellen für Klees Betonung des Prozesses hat es in der Forschungsliteratur der letzten Jahrzehnte nicht gemangelt. Am intensivsten hat sich die Forschergemeinschaft mit dem Verhältnis Klees zu Goethe, zur Romantik oder zur Esoterik befasst.

Da Klee in der Offenlegung seiner Quellen zurückhaltend war, muss bei der Untersuchung seiner Texte und seiner Unterrichtsnotizen– wie es Bonnefoit formuliert hat – eine Art Archäologie im metaphorischen Sinne betrieben werden.125 Die systema-tische Durchsicht der Nachlass-Bibliothek, die sich im Archiv des Zentrum Paul Klee befindet, ist für diese Art von Klee-Archäologie zentral. Über Klees Lektüre erfahren wir aus den Briefen an die Familie und aus dem Tagebuch. Daraus geht hervor, dass er in seinen autodidaktischen Studienjahren nach seiner Münchner Ausbildung, also von 1903 bis 1906, ausgesprochen viel gelesen und sich mit seinem Lesestoff intensiv ausei-nandergesetzt hat. Zu dieser Zeit lieh Klee auch Bücher in der Berner Stadt- und in der Landesbibliothek aus.126 Leider existieren nur wenige Briefe aus der Bauhauszeit, da er damals meistens mit Lily zusammen war und seine interessantesten Gesprächspartner in der Nähe waren. Es kann davon ausgegangen werden, dass vor allem in Gesprächen ein reger Ideenaustausch am Bauhaus stattfand.

124 Zu den „Zeitgeistern“ um 1900, die sich in den Zeitschriften widerspiegeln, siehe Rennhofer 1987.

125 Bonnefoit 2009, S. 11.

126 Briefe 1979, Bd. 1, an Lily Klee, 31.1.1906, S. 582.

Überblickend kann festgehalten werden, dass sich neben Lehrbüchern für Naturgeschichte127, Mathematik, Geometrie und Physik128 in Klees Nachlass-Bibliothek die grossen ‚Klassiker’ der Weltliteratur befinden. Er schien das gelesen zu haben, was damals zum Kanon des Bildungsbürgertums gehörte.129 Es finden sich auch zahlreiche Kunstbücher in seiner Bibliothek. Hervorzuheben ist das Buch Der Denker Forscher und Poet. Nach den veröffentlichten Handschriften von Leonardo da Vinci (1452–1519), das, wie Bonnefoit aufgezeigt hat, Klee als Vorlage für seine Unterrichtsnotizen zur Bildneri-schen Mechanik diente.130

Welche Publikationen in der Bibliothek den Künstler bezüglich seiner Lehre vom Schöpferischen besonders inspirierten, ist relativ einfach auszumachen. In den na-turwissenschaftlichen Schriften Goethes fand Klee die Idee der fortwährenden Form-veränderung, hier taucht der Begriff des genetischen Verfahrens auf. Neben Goethes befinden sich auch Friedrich von Schillers (1759–1805) Werke in Klees Bibliothek.131 Für die vorliegende Arbeit ist vor allem Band 11 der Gesamtausgabe mit Schillers Philosophi-schen Schriften von Interesse. Neben der Idee des OrganiPhilosophi-schen lag Schillers Definition des Kunstwerkes auch die Annahme zugrunde, dass es dem Betrachter möglich sei, durch die äussere Hülle in seine Seele zu blicken und auf diese Weise zu erkennen, was der

127 A. Gremli, Excursionsflora für die Schweiz, Aarau 1893; Th. Berthold, Die Schönsten Alpenblumen, Einsiedeln/Waldshut/NY/Cincinatti/St. Louis 1887;

Karl Friedrich Vollrath Hoffmann, Die Erde und ihre Bewohner – Physikalische Geographie und Naturgeschichte, Altona 1877.

128 In einem Brief an Lily vom 5. April 1930 erwähnte Klee, dass er ein vierbän-diges Mathematik-Lehrbuch angeschafft habe, um das Kapitel zur Hyperbel (Kegelschnitte) auszubauen. Briefe 1979, Bd. 2, S. 1048. Klee meinte damit höchstwahrscheinlich die vier Bände Mathematisches Unterrichtswerk für höhere Schulen von Reinhard Zeisberg, Ausgabe C, Frankfurt a. Main 1929.

Ebenfalls aus dem Jahr 1929 ist das Buch Lebendige Mathematik von Felix Auerbach in der Nachlass-Bibliothek, in dem Klee einige wenige Anmerkungen notierte. Zur Vorbereitung seines Unterrichts verwendete er nachweislich auch das Lehrbuch Geometrisches Zeichnen von H. Becker, neubearbeitet von Prof. J.

Vonderlinn (Sammlung Göschen), Berlin und Leipzig 1920. Viele der geomet-rischen Darstellungen sind mit einem pinkfarbenen Stift, wie Klee ihn auch in den Kapiteln II.5, II.6, II.8 und II.16 der Planimetrischen Gestaltung verwende-te, markiert.

129 Zu Klees autodidaktischem „Studiengang“ durch das klassische Bildungsgut und dessen Bedeutung für den Unterricht siehe Werckmeister 1990.

130 Siehe Bonnefoit 2008a; Lily schenkte dem Künstler 1906 zu Weihnachten die zweite Auflage einer von Marie Herzfeld zusammengestellten und übersetzten Textauswahl aus Leonardos Handschriften. Siehe Da Vinci 1906. Unmittelbar nach seinem Jenaer Vortrag, in dem Klee den Künste-Wettstreit nach Leonardo wiedergab, begann er am Weimarer Bauhaus den Vorlesungszyklus zur Bildnerischen Mechanik. Bonnefoit zeigt auf, dass Klee in diesem Manuskript die wichtigsten Themen Punkt für Punkt von Herzfelds Leonardo-Ausgabe entnahm.

131 Schiller o.J. [ohne Annotationen]. Einzig Wolfgang Kersten hat bisher auf Bezüge zwischen Klee und Schiller hingewiesen. Der Autor zeigt auf, dass Klee in seinem Beitrag Schöpferische Konfession Schillers Ansicht über die Funktion des Spiels für den Menschen adaptiert und auf die abstrakte Kunst überträgt.

Kersten 2009, S. 39–40.

Künstler seelisch in seinem Werke zum Ausdruck bringen wollte.132 Schillers Gedanken zum Verhältnis von Kunst und Natur gründen letztlich auf Goethes Ideen.

Weder Goethe noch Schiller lassen sich eindeutig und scharf von den Gedan-ken, Interessen und Ausdrucksweisen ihrer jüngeren Zeitgenossen trennen. Die Frühro-mantiker waren alle um 1770 geboren und brachten ihre Werke und Gedanken in rascher Folge parallel zur Hochklassik Goethes und Schillers in Weimar hervor. Ihr Sprachrohr war die von den Brüdern Schlegel gegründete und geleitete Zeitschrift Athenäum (1798–

1800). Dass für Klees Entwicklung die Lektüre der romantischen Schriftsteller wie Fried-rich Schlegel, Novalis (Georg FriedFried-rich Philipp Freiherr von Hardenberg, 1772–1801) oder E.T.A. Hoffmann (1776–1822) ebenso wichtig war, bleibt unbestritten.133

Tagebucheinträge und Briefe an Lily belegen Klees intensive Beschäftigung mit den Schriften von Christian Friedrich Hebbel (1813–1863) zwischen 1903 und 1906.134 Hebbel erlebte zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine regelrechte Renaissance.135 Im Herbst 1903 berichtete Klee, dass Hebbels „Kunstauffassung“ Quelle für sein eigenes Schaffen sei: „Seine kritischen Schriften sind wohlgeformte Muster von dem, was seit geraumer Zeit in mir zur Überzeugung geworden ist, von der Bedeutung des Organischen in der Kunst.“136 Auch aus Hebbels Tagebüchern, die Lily ihrem Verlobten 1904 zu Weihnachten schenkte,schöpfte Klee viele Anregungen.137 Hebbel sei ganz sein Dichter, schreibt er

132 Dem Vorwort von Band 11 mit den „Philosophischen Schriften“ konnte Klee entnehmen, dass sich Schiller wie die Romantiker auf Karl Philipp Moritz bezog, der mit der Nachahmungslehre des 18. Jahrhunderts aufgeräumt habe.

„Den Gedanken einer organischen Entstehung des Kunstwerks, die Idee, dass es wie ein Naturgebilde gesetzmässig sich entwickle“, habe Moritz wiederum von Herder und Goethe übernommen, so Oskar Walzel. In: Schiller o.J., Bd. 11, S. XXXii.

133 Zu Klee und Novalis siehe Huggler 1969, S. 239–241, Gassner 1994, S. 25, Lichtenstern 2000, Klingsöhr-Leroy 2001, Hüneke 2001, S. 56; zu Klee und E.T.A. Hoffmann siehe Hoppe-Sailer 1998b, S. 91–96, Gockel 2008, S. 428; zum Prinzip der Verwandlung bei E.T.A. Hoffmann und Klee siehe Richter 2004, S. 78–136.

134 Briefe 1979, Bd. 1, an Lily, 1.7.1903, S. 333: „Seit Sonntag beschäftigen mich Hebbels ,Epigramme› intensiv, denen ich eine überaus gründliche Anregung verdanke. […].“ In der Nachlass-Bibliothek befindet sich eine zwölfbändige Gesamtausgabe in vier Büchern, welche Lily wohl 1903 erworben hat. Hebbel o.J. [um 1900]. In Band 1, 2 und 10 finden sich zahlreiche Annotationen Klees in Kurrentschrift. Kersten bemerkt, dass Klee Hebbels Schriften in seinem Tagebuch mehrmals erwähnte, diese also gründlich studiert hatte. Kersten 2009, S. 34. Die Notizen wurden für die vorliegende Arbeit erstmals ausgewertet.

135 Dies belegen nicht nur Neuausgaben des Gesamtwerkes und der Tagebücher, sondern auch zahlreiche Aufsätze wie sie beispielsweise in der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft abgedruckt wurden: Arno Scheunert, Heft 1, 1907, S. 70–120; Hans Wütschke, Heft 1, 1908, S. 47–70;

Kurt Schuder, Heft 4, 1909, S. 595–600; Hans Heinrich, Heft 3, 1910, S. 408–

441; Julius Sahr, Heft 2, 1911, S. 278–284; Karl Herke, Heft 3, 1915, S. 363–

365; Albert Görland, Heft 3, 1919, S. 303–308.

136 Briefe 1979, Bd. 1, an Lily, 24.9.1903, S. 349.

137 Geelhaar vermutet, dass die Tagebücher Hebbels und deren Edition mit einer fortlaufenden Nummerierung für Klees Tagebuchstil richtungweisend waren.

Geelhaar 1979, S. 250.

an Lily, „den ich nicht nur achte wie einen Goethe und Shakespeare, sondern wahrhaft liebe, vorzüglich den Menschen […].“138

Weiter zu erwähnen sind die Lektüre von Nietzsches Zarathustra während des Ersten Weltkrieges,139 der Verweis auf Schopenhauer in einer Annotation140 sowie die Pub-likationen Rudolf Steiners, Wilhelm Bölsches und Ludwig Klages’, die sich ebenfalls in der Nachlass-Bibliothek befinden und auf die später näher eingegangen wird.

Weitere wichtige Impulse erhielt Klee von seinen Zeitgenossen im München der 1910er-Jahre sowie von seinen Lehrerkollegen am Bauhaus. In Klees Bibliothek sind auch die von Wassily Kandinsky geschenkten Bücher Der Blaue Reiter, Über das Geistige in der Kunst sowie Punkt und Linie zu Fläche erhalten.141

Im Dokument Paul Klees Lehre vom Schöpferischen (Seite 37-40)