• Keine Ergebnisse gefunden

2 Politikverständnisse und politische Praxisformen

Im Dokument Die Linken und die Krisen (Seite 38-41)

Im Anschluss an die vorstehenden Aus-führungen lassen sich insgesamt vier ide-altypische Grundpositionen im Hinblick auf Gesellschaftsgestaltung unterscheiden.

Während die beiden ersten eine System-veränderung zum Ziel haben, orientieren die beiden letzten grundlegend auf eine Beibehaltung der bestehenden

Gesell-25In diesem Zusammenhang bilden sich auch unterschiedliche Vorstellungen darüber aus, ob die soziale Integration und materielle Siche-rung der Gesellschaftsmitglieder dominant ü-ber Erwerbsarbeit erfolgen sollte oder anderen Modellen der Vorzug zu geben sei. Drei Grundpositionen sind zu unterscheiden: eine klassische erwerbszentrierte Position, Bürger-geld-Modelle und die Vorstellung eines bedin-gungslosen Grundeinkommens. Dahinter ste-hen neben unterschiedlicste-hen Bewertungen ü-ber sozialintegrative und identitätsbildende Ef-fekte von regelmäßiger Arbeit sowie über die Qualität von Arbeit unter kapitalistischen Be-dingungen auch unterschiedliche normative bzw. Gerechtigkeitsvorstellungen.

schaftsordnung und bilden damit gewis-sermaßen den „rechten Rand“ des linken Spektrums.

1) Die etatistisch-sozialistische Perspek-tive zielt auf eine (sozialistische) Ge-sellschaftsordnung, in der ein ‚star-ker‘ Staat mittels Lenkungs- und Um-verteilungspolitik gerechte soziale Ver-hältnisse schafft.

2) Die libertär-antikapitalistische Perspek-tive ist dezidiert antistaatlich ausge-richtet. Die Abschaffung des Kapita-lismus wird als Grundlage für eine sich

‚von unten‘ selbst organisierende ‚be-freite‘ Gesellschaft angesehen.

3) Die reformorientierte Perspektive sieht Defizite in der bestehenden Gesell-schaftsordnung und fokussiert auf (vor allem zivilgesellschaftlich basierte) Suchbewegungen nach strukturellen Verbesserungen des Gesellschaftssys-tems auf Basis der bestehenden Grundordnung.

4) Die subsidiäre Perspektive akzeptiert grundlegend die bestehende politisch-ökonomische Ordnung. In ihrem Rah-men gleichwohl wahrgenomRah-mene ge-sellschaftliche Defizite bzw. Ungerech-tigkeiten sollen durch Eigeninitiative der Gesellschaftsmitglieder kompen-siert werden.

Mit diesen Grundorientierungen korres-pondieren zum Teil auch unterschiedliche Begriffe von Politik: Im parteienpolitisch-etatistischen Verständnis ist Politik wei-testgehend auf parteienbasierte parlamen-tarische Demokratie (einschließlich der sekundär darauf Bezug nehmenden Ver-bände und Vereinigungen) und darauf ba-sierende Aktivitäten des Staates be-schränkt. Dieses Verständnis wird auch durch die politische Bildung in der Schule und die Berichterstattung der Medien ver-mittelt und ist insofern das gängigste. Das zivilgesellschaftliche Politikverständnis – das häufig bei Engagierten im Bereich in-formellen politischen Handelns (etwa in NGO’s oder Bürgerinitiativen) anzutreffen ist – subsumiert unter Politik darüber hi-nausgehend auch gesellschaftlich wirksa-me Gruppen und Organisationen jenseits des etablierten politischen Systems sowie den „aktiven Bürger“. Beiden Grundpositi-onen ist gemeinsam, dass politisches (im Kontrast etwa zum karitativen) Handeln

jeweils auf Probleme von allgemeiner Re-levanz bezogen ist und auf den Aufbau ei-gener Strukturen und Lösungsansätze ori-entiert.. Ein weitergehendes lebensweltli-ches Verständnis fasst als „politisch“ alle Handlungen auf, die auf die Belange an-derer Menschen bezogen sind (also auch ehrenamtliches Engagement in nicht poli-tischen, kleineren Vereinen oder karitative Aktivitäten). Anspruch ist hier nicht, die Gesellschaft zu verändern, sondern sich konkret für andere Menschen einzusetzen.

Noch weitergehender ist ein ubiquitäres Politikverständnis entsprechend dem 68er-Motto „Das Private ist politisch“, das ten-denziell alle Alltagshandlungen (bis hin zum politisch korrekten Einkaufen oder Mülltrennen) inkludiert. Mit der zunehmen-den „Weitung“ des Politikbegriffs korres-pondiert auf der Ebene der politischen Praxis ein Abstandnehmen von eigenen Aktivitäten im „Kern“ politischen Systems.

Im Spektrum der „Linksaffinen“ sind nach der Art ihrer alltagspraktischen Bezug-nahme auf Politik nach dem gegenwärti-gen Stand der Auswertungegenwärti-gen folgegenwärti-gende Gruppen unterscheidbar:

• „institutionelle“ Traditionslinke, die mit einem staatszentrierten Blickwinkel auf das politische System in linker Partei-politik (in der Partei DIE LINKE, in lin-ken Splitterparteien, bei den GRÜNEN, aber auch bei der SPD) bzw. in linken Verbänden engagiert sind,

• „radikale“ Linke, die auf der Grundlage libertärer subkulturell-alternativer Le-bensentwürfe gegengesellschaftliche Politik außerhalb des etablierten politi-schen Systems betreiben,

• „unorthodoxe“ Linke, die, ebenfalls subkulturell verankert, konkrete re-formorientierte Aktivitäten überwiegend im Kontext von basisdemokratischen

„Graswurzel“-Initiativen als Gegenent-würfe zu etablierten Sozial- und Wirt-schaftsformen verfolgen,

• Berufszentriert Engagierte, die mittels ihrer bewusst angestrebten politik- bzw.

gesellschaftsbezogenen Erwerbstätig-keit politische Arbeit betreiben,

• „ehrenamtlich“ Engagierte, die sich, selbst überwiegend beruflich und sozi-al etabliert, für sozisozi-ale Belange einset-zen und zum Teil mit ihrer Aktivität

auch weiterreichende politische Re-formziele verbinden,

• „sporadisch Aktive“, die politisch viel-seitige interessiert sind, ohne aber dauerhaft oder in festen Funktionen aktiv zu sein, sich aber temporär auch aktiv beteiligen,

• „kritisch Interessierte“, die politische Prozesse und Debatten verfolgen, oh-ne aber selbst politisch bzw. gesell-schaftlich aktiv zu werden,

• „sozial Marginalisierte“, die sich grundlegend als von gesellschaftlichen Aktivitäten ausgeschlossen empfinden und in Parallelwelten aktiv sind, „Ohn-mächtige“ und „Resignierte“ schließlich sehen zwar abstrakt Handlungsbedarf, aber keinerlei eigene Handlungsmög-lichkeiten, um etwas bewirken zu kön-nen.

Resümee: Konturen eines Projektes linker Hegemonie

Deutlich wird, dass im weitesten Sinne lin-ke Spektrum heterogen in Bezug auf ihre Gesellschaftsbilder und Politikvorstellun-gen sind: paternalistische ErwartunPolitikvorstellun-gen an eine umfassende staatliche Fürsorgepolitik sind ebenso vorhanden wie zivilgesell-schaftliche Reformorientierungen und auf Gesellschaftstransformation orientierte li-bertäre Kapitalismuskritik. Insofern werden unterschiedliche Facetten eines möglichen gemeinsamen Leitbilds des demokrati-schen Sozialismus als Staats- und Gesell-schaftsformation thematisiert; gleichzeitig wird eine gemeinsame Suchbewegung hin zu einem kohärenten linken Leitbild nicht erkennbar. Die Linke tritt somit als hetero-gene Bewegung an; ihre vordringliche Aufgabe besteht darin, eine Pluralität lin-ker Politikangebote zu formulieren, die ei-ne attraktive Perspektive für möglichst vie-le der disparaten Linksaffine bietet. Im Er-gebnis entstehen Kombinationen, die als Brückenschläge zwischen den linksaffinen Kernpositionen fungieren könnten. An ein gemeinsames linkes Hegemonie-Projekt wären demzufolge die Forderung zu rich-ten, die Brückenköpfe der je eigenen Posi-tion auszuloten, d.h. eher mögliche Schnittmengen konkreter Politik als vor-geblich unüberwindliche Gegensätze zu thematisieren und an ganz praktischen Projekten zu erproben.

Pluralität kann weder in ein parteipoliti-sches Korsett gezwängt werden noch jen-seits der konkreten lebensweltlichen Prob-lemlagen auf abstrakten Ebenen verblei-ben. Vielversprechender erscheint, über Möglichkeiten nachzudenken, die Identität als Linke in einem offenen Diskurs als neu zu bestimmende in die Gesellschaft hi-neinzutragen und damit dem im Gefolge der „geistig-moralischen Wende“ seit den neunziger Jahren dominanten Neolibera-lismus einen neuen emanzipatorischen Gesellschaftsentwurf entgegenzusetzen.

Zitierte Literatur

Matuschek, Ingo / Krähnke, Uwe / Klee-mann, Frank / Ernst, Frank (2008): „Politi-sche Praxen und Orientierungen in linksaf-finen Alltagsmilieus“, Berlin: Rosa-Luxemburg-Stiftung,

http://www.rosalux.de/cms/fileadmin/rls_up loads/pdfs/PP_INAG_.pdf

Misik, Robert (2009): Politik der Paranoia:

Gegen die neuen Konservativen, Berlin:

Aufbau-Verlag.

Joachim Bischoff, Richard Detje, Christoph Lieber, Bernhard Müller,

Im Dokument Die Linken und die Krisen (Seite 38-41)