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Eine neue Qualität des »Stellungskrieges«

Im Dokument Die Linken und die Krisen (Seite 41-45)

1. Wie werden die gegenwärtigen Krisen sowohl individuell als auch kollektiv wahr-genommen? Welche Unterschiede gibt es zu den bisherigen Krisen und was bedeu-ten diese Unterschiede für Strategien zur Krisenbewältigung?

Auch wenn die gegenwärtige Krise sich zu einer Weltwirtschaftskrise entwickelt hat, gibt es in den einzelnen kapitalistischen Metropolen unterschiedliche Ausprä-gungen und Krisenschwerpunkte.26 Dies bestimmt sowohl das Handeln der politi-schen Klasse als auch die Verarbeitungs-formen im Alltagsbewusstsein der Bevöl-kerung. In Deutschland versucht das bür-gerliche Lager bei regierungspolitischer Einbindung der Sozialdemokratie nach wie vor, insbesondere gegenüber den europä-ischen Nachbarn die früheren ökonomi-schen Vorteile Deutschlands durch die Krise zu bringen, die negativen Folgewir-kungen der starken Exportabhängigkeit abzufedern und keine größere öffentliche Diskussion über dieses latent aggressive außenwirtschaftliche Potenzial aufkom-men zu lassen. Kurzfristig gelingt dies auch durch die Ausnutzung sozialstaatli-cher Puffer wie Ausdehnung der Kurzar-beiterregelung und die Auswirkungen von relativ guten Tarifabschlüssen in 2008 und Flexibilisierungsregelungen nach dem Pforzheimer Abkommen der IG Metall. Im Unterschied zu den nur mäßig dimensio-nierten Konjunkturprogrammen wird das Halten dieser Puffer für die »Durststrecke«

bis zu Bundestagswahl im September 2009 entscheidend sein. Aber die ersten Verunsicherungen und Risse in den Sys-temen sozialer Sicherheit wie jetzt die Dis-kussion um die Rente oder das absehbare

26Siehe dazu ausführlich: Joachim Bischoff, Jahrhundertkrise des Kapitalismus. Abstieg in die Depression oder Übergang in eine andere Ökonomie? Hamburg 2009

massive Haushaltsdefizit der BA werden dazu führen, dass die Krise auch hierzu-lande breiter im Alltagsbewusstsein »an-kommt«. Schon jetzt kommt es zu ersten Krisenprotesten in industriellen und logisti-schen Bereichen wie Stahl und Hafenbe-triebe.

In zurückliegenden Krisen in den 1970er und 1980er Jahren standen diese Bran-chen im Mittelpunkt (Werften, Rheinhau-sen etc.). Das waren zugleich KriRheinhau-senpro- Krisenpro-zesse in der Spätphase des Fordismus, ausgelöst durch das Erschöpfen der Pro-duktivitätspotenziale fordistischer Mas-senproduktion und dem Brüchigwerden entsprechender gewerkschaftlicher Ratio-nalisierungspakte. In der Weltwirtschafts-krise 2007ff. eklatieren zum einen die sich seitdem aufgebaute Überakkumulations-krise sowie die Strukturen eines Finanz-marktkapitalismus, der sich in den zurück-liegenden Jahrzehnten aus eben diesen Formen der Überakkumulation von Geld-kapital gespeist und zunehmend deformie-rend auf die Wertschöpfung zurückge-schlagen hat. Sozialstrukturell hat sich in diesem langjährigen krisenhaften Auflö-sungsprozess des Fordismus seit Beginn der 1980er Jahre eine Qualitätsverände-rung der Lohnarbeit mit der Herausbildung gesellschaftlicher Prekarisierungsprozesse ergeben, die nicht mehr mit Strukturen und Formen industrieller Reservearmee aus den Zeiten des Spätfordismus vergleich-bar und politisch bearbeitvergleich-bar sind.

2. Wie verändert die Krise nach Sicht des Autors für den jeweiligen Akteur Spielraum und Varianten kollektiven wie auch indi-viduellen Handelns? Wie werden diese veränderten Handlungsmöglichkeiten durch den jeweiligen Akteur reflektiert?

Das markiert zugleich die veränderten Handlungsmöglichkeiten und neuen

stra-tegischen Herausforderungen an die poli-tischen Akteure auf der Linken und auch die Gewerkschaften. Beide agieren aus einer Situation der Defensive heraus und haben in den zurückliegenden Jahren nur unzulänglich gelernt, sowohl die soziale Differenziertheit der organisierten Lohnar-beit zu bündeln, als auch dauerhafte Bündnisse zwischen Gewerkschaften, po-litischer Linken und insbesondere zivilge-sellschaftlichen Organisationen wie Attac, Sozialverbänden und kirchlichen Gruppen dauerhaft zu etablieren. Die Gewerkschaf-ten laufen angesichts des »neuen« Staat-sinterventionismus immer wieder Gefahr, in einer bloßen Bittsteller-Rolle gegenüber dem Staat zu verbleiben, und der LINKEN gelingt es nach wie vor nicht, ihre Akzep-tanz bei den zivilgesellschaftlichen Pro-testbewegungen für ihre politisch-parla-mentarische Repräsentationsarbeit zu er-höhen.

Dazu kommt eine sozialstrukturelle Ver-änderung, die die traditionelle »Lohnar-beitszentriertheit« von Gewerkschaften wie LINKE gleichermaßen vor strategische Herausforderungen stellt: Von den ca. 70 Mio. Wahlbevölkerung sind mittlerweile ca.

20 Mio. Rentner und ca. zehn Mio. Hartz IV-Empfänger, d. h. fast die Hälfte der wahlpolitisch relevanten Bevölkerung ist nicht mehr in die gesellschaftliche Wert-schöpfung eingebunden. Jede politische Übergangsforderung der Linken muss bei einem solchen gesellschaftlichen Entwick-lungsgrad immer in einen Begründungs-zusammenhang von Wertschöpfung, Re-organisation von Verteilungsverhältnissen und Ausgestaltung des gesellschaftlichen Assekuranzfonds eingebettet sein und darauf zielen, so die Bewusstheit der ver-schiedenen Personengruppen über ge-samtgesellschaftliche Reproduktionspro-zesse und ihre Gestaltbarkeit zu erhöhen.

3. Mit welchen Strategien reagieren linke Akteure auf die Krise (national und inter-national)? Gibt es wesentliche Verände-rungen bezogen auf strategische Bündnis-se und politische Konzepte, aktuelle Kämpfe, Kampfformen, zentrale Forde-rungen etc.?

Damit wird von den entsprechenden politi-schen Akteuren unterschiedlich umgegan-gen: Die Gewerkschaften versuchen, im Kampf gegen Leiharbeit, für gesetzliche Mindestlöhne, gegen die Rente mit 67 und für Arbeitszeitverkürzung den gesellschaft-lichen Prekarisierungsprozessen auf trieblicher wie politischer Ebene zu be-gegnen, laufen aber immer wieder Gefahr, auf eine Politik der Sicherung für die Stammbelegschaften zurückzufallen. Und auf bündnispolitischer Ebene entwickelt sich ein innergewerkschaftlicher Stel-lungskrieg zwischen Wiederannäherung an die Sozialdemokratie und Öffnung ge-genüber der zivilgesellschaftlichen, globa-lisierungskritischen und politischen Linken.

Auch in der LINKEN ist die Herausforde-rung einer neuen Qualität des »Stellungs-krieges« keineswegs Konsens. Sie hat weder in der Beurteilung der Chancen und Risiken des neuen Staatsinterventionis-mus eine belastbare Mehrheitsposition entwickelt, noch in der Frage, ob und wie daraus weitergehende Transformations-schritte zu gewinnen sind. Unstrittig ist, dass der gegenwärtige Einsatz des Staa-tes auch einen Versuch der politischen und ökonomischen Funktionseliten dar-stellt, ihre Machtpositionen zu verteidigen.

Das macht zugleich die Schwierigkeit aus, die Tiefe der Hegemoniekrise des Neolibe-ralismus oder gar sein Ende genauer zu bestimmen, Kursänderungen und Kräfte-verschiebungen zu analysieren und die Risse im bestehenden Machtgefüge tak-tisch zu nutzen. Teile der Linken schreiben mit dem Verdikt der »nationalkeynesiani-schen« Staatsillusion das staatliche und parlamentarische Feld als Terrain eines komplizierten und mühsamen Stellungs-krieges zur Formierung eines alternativen historischen Blocks ab. Ein anderer Teil setzt mit radikaler Verstaatlichungsrhetorik auf die im 20. Jahrhundert gescheiterte Konzeption, die Kommandohöhen der Wirtschaft von links besetzen zu können.

Schon Gramsci hatte angesichts der wi-dersprüchlichen Rolle des Staates im komplizierten fordistischen Transformati-onsprozess des Kapitalismus in Europa während der Weltwirtschaftskrise 1929ff.

darauf hingewiesen, »dass der Staat theo-retisch seine gesellschaftlich-politische

Basis bei den ›kleinen Leuten‹ und bei den Intellektuellen zu haben scheint, in Wirk-lichkeit aber bleibt seine Struktur plutokra-tisch, und es gelingt unmöglich, die Ver-bindungen mit dem großen Finanzkapital abzubrechen«. Aber »dass ein Staat exis-tieren kann, der sich politisch zur gleichen Zeit auf die Plutokratie und auf die kleinen Leute stützt, ist keineswegs widersprüch-lich«. Eine solche historische Konstellation erfordert vielmehr in der Methodik der poli-tischen Arbeit einen komplizierten Stel-lungskrieg: Einerseits gilt, dass man aus der gegenwärtigen Krisensituation nur mit und durch den Staat herauskommt. Anrerseits ist dieser Staat noch nicht der de-mokratische oder besser noch wirtschafts-demokratische Staat, der der (Zi-vil)Gesellschaft ein mächtiges Mandat zur Eindämmung der Macht der ökonomi-schen Eliten, zur Regulation des Kapitals entsprechend den Bedürfnissen der Ge-sellschaft und zu neuen Ansätzen demo-kratischer Selbststeuerung überträgt.

4. Ermöglicht die Krise die Entwicklung und Einstiege in alternative Projekte oder Wege – welche sind das?

Diese zivilgesellschaftliche Transformati-onsperspektive lässt sich nur in Verbin-dung mit einer gesellschaftlichen Reorga-nisation der Wertschöpfungsprozesse in der Krise gewinnen, die dann auch den Charakter des bloßen Staatsinterventio-nismus ändert: »Der Staat wird ... notwen-dig zum Eingreifen gebracht, um zu kon-trollieren, ob die durch seine Vermittlung zustande gekommenen Investitionen gut verwaltet werden... Doch die bloße Kon-trolle genügt nicht. Es geht in der Tat nicht nur darum, den Produktionsapparat so zu bewahren, wie er in einem gegebenen Moment beschaffen ist; es geht darum, ihn zu reorganisieren, um ihn parallel zum Wachstum ... der Gemeinschaftsbedürf-nisse zu entwickeln.« (Gramsci)

So könnten von einer Reorganisation des finanzmarktkapitalistisch deformierten Kre-ditwesens Impulse zu einer Veränderung ökonomischer Strukturen der Gesellschaft ausgehen, in dem nicht-kapitalistische Un-ternehmensformen (z.B. Genossenschaf-ten) bevorzugt mit Finanzmitteln

ausges-tattet und damit Formen solidarischer Ö-konomie befördert und implementiert wer-den. Ebenso ist ein industriepolitisches Umsteuern aus der Überakkumulationskri-se fordistischer Strukturen und Branchen auf dem Wege einer integrierten sozial-ökologischen Konversionspolitik möglich.

»Diese muss den Arbeitsplatz-, Einkom-mens- und Arbeitsinteressender Beschäf-tigten, den Mobilitätsansprüchen einer fle-xiblen Gesellschaft sowie den Nachhaltig-keitskriterien ... zugleich gerecht werden, ohne sich in Zielkonflikten zu verfangen.

Dabei muss der Rückbau von Überkapazi-täten politisch gesteuert und mit einer öko-logischen Erneuerung von Produkten und Produktionsverfahren und der Sicherung von sozial regulierter Beschäftigung ver-bunden werden.«27

5. Welche herausragenden analytischen bzw. strategischen Artikel und Dokumente gibt es? Sie sollten in einer Artikel- und Dokumentenübersicht als Teil einer ver-gleichenden Studie zur analytischen Aus-wertung dieser Fragen aufgenommen werden

Der bisherige Verlauf der Weltwirt-schaftskrise seit 2007 hat schrittweise über die Immobilienkrise in USA und einigen europäischen Metropolen und daran anschließend die weltweite Kre-dit- und Finanzmarktkrise schließlich durch die weltweite Überakkumulati-onskrise der Autoindustrie in einem pa-radigmatischen Leitsektor des Fordis-mus das historische Ausmaß dieser Krise freigelegt. »Dies ist ein histori-scher Moment, der uns dazu heraus-fordert, entweder in hinreichend gro-ßen Dimensionen zu denken oder noch schlimmere Niederlagen zu er-dulden«, formuliert Sam Gindin an die Adresse der AktivistInnen in der Ge-werkschafts- und Arbeiterbewegung in seinem Artikel zur Krise der Autoin-dustrie inexpress 4/2009.

27Hans-Jürgen Urban, Die Mosaik-Linke. Vom Aufbruch der Gewerkschaften zur Erneuerung der Bewegung, in: Blätter für deutsche und in-ternationale Politik 5/2009, S. 75)

Innerhalb der politischen Linken fand schon vor Ausbruch der Finanzkrise im Sommer 2007 eine Kontroverse statt, in der das Insistieren auf die Krisen-momente, die den Entwicklungen auf den Vermögensmärkten innewohnen, als Katastrophen- und Kassandrapoli-tik abgetan wurde. Aber eine Verstän-digung über den Charakter des Fi-nanzmarktkapitalismus und seine Auswirkungen ist zeitdiagnostisch un-abdingbar: »Die derzeitige Krise ist ernster als die bislang schlimmste Re-zession der Nachkriegszeit, zwischen 1979 und 1982, und wird möglicher-weise der Großen Depression gleich-kommen, obwohl man das nicht wirk-lich wissen kann. Wirtschaftsprognos-tiker haben ihre Schwere unterschätzt, weil sie die Stärke der Realwirtschaft überschätzten und nicht berücksichtig-ten, in welchem Ausmaß sie von der auf Vermögenspreisblasen gestützten Schuldenanhäufung abhängig war.«

Robert BrennerinSozialismus 3/2009.

Der Wirtschaftshistoriker Charles Kind-leberger wies in seiner Analyse der Weltwirtschaftskrise von 1929ff. darauf hin, dass es in ihrem Gefolge u.a. in Ländern der Peripherie zu 50 Revolu-tionen kam, die Krise mit einem kom-plizierten Hegemoniewechsel auf dem Weltmarkt von GB zu den USA zu-sammenhing und schließlich in einen Weltkrieg mündete. An solche Zu-sammenhänge erinnert Eric Hobs-bawm in einem Stern-Interview vom 7.5.2009: »Es wird Blut fließen, viel Blut«.

Die in den beiden Fußnoten genannten Beiträge: Joachim Bischoff, Jahrhun-dertkrise des Kapitalismus (insbeson-dere Kapitel 6: Vor einer langjährigen Durststrecke – Perspektiven & Alterna-tiven), Hamburg 2009 sowie Hans-Jürgen Urban, Die Mosaik-Linke, in:

Blätter 5/2009.

Im Dokument Die Linken und die Krisen (Seite 41-45)