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5.1 Gebärdensprache

5.1.3 Phonologie

Die Phonologie beschäftigt sich mit der Funktion und Eigenschaft von Sprachlauten als Elemente eines Sprachsystems. Ihr Gegenstand ist die funktionelle Seite der Sprachlaute (Grassegger 2001, S. 81).

Die Phonologie erstellt das Phoneminventar einer Sprache und ermittelt die Regeln, nach denen dieses Lautsystem funktioniert. Phoneme sind die kleinsten lautlichen Einheiten, in die man Sprache zerlegen kann. Wie kann man daher bei einer visuell wahrgenommenen Sprache wie der Gebärdensprache von einer Phonologie sprechen?

Schon Stokoe beschäftigte sich mit dieser Frage und führte den Begriff

„Cherologie“ ein. Er ersetzt den Begriff „Phonem“ durch „Cherem“, was auf

Griechisch „Handelement“ bedeutet. So, wie Wörter in Lautsprachen aus Phonemen aufgebaut sind, sind Gebärden aus den an sich bedeutungslosen Cheremen aufgebaut. Erst in Kombination erlangen sie Bedeutung (vgl. Stokoe 1960, zitiert in Becker 1997, S. 9).

Der Begriff Phonologie wird hier also im übertragenen Sinn gebraucht, um sich terminologisch nicht zu weit von der Lautsprachlinguistik zu entfernen. Er bezieht sich auf die Komponenten, aus denen Gebärden aufgebaut sind, wobei hauptsächlich manuelle und nicht manuelle Parameter unterschieden werden.

Manuelle Komponenten

Die manuellen Komponenten in Gebärdensprachen sind die Handform, die Handstellung, die Ausführungsstelle und die Bewegung.

Handform

Es gibt eine große Anzahl an Formen, die man mit den Händen bilden kann. In den verschiedenen Gebärdensprachen sind jedoch nur bestimmte Handformen zulässig. Unterschiedliche Gebärdensprachen unterscheiden sich also in der Verwendung verschiedener Handformen.

Es gibt sechs Grundhandformen, die in allen Gebärdensprachen vorkommen (vgl. Boyes Braem 1995, S. 22).

Abb. 6: Die sechs Grundhandformen (Boyes Braem 1995, S. 22)

Die meisten Handformen entsprechen einem Buchstaben des Fingeralphabets (siehe Kapitel Fingeralphabet). In der Österreichischen Gebärdensprache (ÖGS) gibt es aber auch Modifikationen dieser Handformen.

Abb. 7: Wichtige Handformen der ÖGS (Skant et al. 2002, S. 241ff) Die Veränderung des Parameters Handform kann eine Änderung der Bedeutung einer Gebärde hervorrufen. Ein Beispiel dafür in der ÖGS stellen die Gebärden FRAGEN und SAGEN dar, die als Minimalpaar bezeichnet werden, da sie sich nur in der Veränderung der Handform unterscheiden. Die restlichen manuellen Parameter (Handstellung, Ausführungsstelle, Bewegung) bleiben unverändert.

Abb. 8: Minimalpaar FRAGEN/SAGEN (eigene Fotographie, Darstellung Barbara Möstl)

Handstellung

Die Bezeichnung Handstellung bezieht sich auf die Stellung bzw.

Orientierung der Handfläche und der ausgestreckten Finger. Auch hier gibt es in der ÖGS Minimalpaare wie z.B. TREFFEN und GLEICH, die sich nur in der Handstellung unterscheiden.

Um die Handstellungen unterscheiden zu können, formuliert Becker (1997, S. 40f) für die Orientierung der Handflächen und der Fingerspitzen binäre Merkmale. Für die Orientierung der Handflächen verwendet sie die

Merkmale [+/- contra], [+/- in] und [+/- prone], für die Orientierung der Fingerspitzen die Merkmale [+/- oben], [+/- seite] und [+/- hin].

Bei [+ contra] befindet sich die Handfläche auf der contralateralen Seite und zeigt nach links, bei [- contra] befindet sie sich auf der ipsilateralen Seite und zeigt ebenfalls nach links. Die Merkmale [+/- in] zeigen an, ob die Handfläche zum Körper hin oder vom Körper weg zeigt. [+ prone]

bedeutet, dass die Handfläche zum Boden zeigt, bei [- prone] ist sie nach oben gerichtet. Die Merkmale [+/- oben] geben Aufschluss darüber, ob die Fingerspitzen im Verhältnis zum Körper nach oben oder nach unten gerichtet sind. [+/- seite] bezieht sich darauf, ob die Fingerspitzen nach rechts oder links zeigen, und [+/- hin], ob sie zum Körper hin oder von ihm weg zeigen.

Ausführungsstelle

Gebärden werden innerhalb eines begrenzten Raums, dem Gebärdenraum, gebildet.

Abb. 9: Gebärdenraum (Boyes Braem 1995, S. 23)

Bis auf wenige Ausnahmen befindet sich die Ausführungsstelle einer Gebärde innerhalb des Gebärdenraums. Hier können Gebärden entweder am Körper, körpernahe, oder im freien Raum produziert werden. Eine weitere Ausführungsstelle stellt die passive Hand dar.

Brentari (1998, S. 121ff) nimmt für die Amerikanische Gebärdensprache vier großflächige Ausführungsstellen an – Kopf, Arm, Körper und Hand – die sie jeweils in acht Teile gliedert:

Kopf Arm Körper Hand

auf dem Kopf Oberarm Hals Handfläche

Stirn Armbeuge Schulter Finger (Außenseite)

Auge Ellbogen Schlüsselbein Handrücken

Wange Unterarm (Außenseite) Oberkörper (oben) Finger (Innenseite) Oberlippe Unterarm (Innenseite) Oberkörper (Mitte) kleiner Finger

Mund Elle Oberkörper (unten) Daumen

Kinn Handgelenk

(Außenseite)

Taille Finger-/ Daumenspitze

unter dem Kinn Handgelenk (Innenseite)

Hüfte Handballen

Auch bezüglich der Ausführungsstelle gibt es in der ÖGS Minimalpaare wie die Gebärden FRAU und HAARE:

Abb. 10: Minimalpaar FRAU/HAARE (eigene Fotographie, Darstellung Barbara Möstl)

Auch die Größe des verwendeten Gebärdenraums kann variieren.

Während ‘geflüsterte’ Gebärden kleiner und tiefer im Raum ausgeführt werden, können ‘geschriene’ Gebärden auch über den herkömmlichen Gebärdenraum hinausreichen.

Da während der Kommunikation die Augen des Rezipienten auf das Gesicht des Sprechers gerichtet sind, gibt es mehrere unterscheidende Ausführungsstellen im Gesicht als in den peripheren Wahrnehmungs-bereichen (vgl. Boyes Braem 1995, S. 23ff).

Bewegung

Die Komponente der Bewegung spielt – bis auf eine kleine Gruppe von statischen Gebärden – eine sehr wichtige Rolle. Änderungen der Bewegung können z.B. einen Plural oder eine Verneinung markieren.

Darüber hinaus können Bewegungen auch ikonisches Potenzial haben.

Die meisten Bewegungen sind sehr komplex und daher schwer zu analysieren. Deshalb werden hier nur die wichtigsten Parameter beschrieben. Die wichtigsten Merkmale, um Bewegungen zu beschreiben sind der Bewegungstyp (geradlinig, bogenförmig, spiralförmig etc.), die Bewegungsrichtung (nach oben, unten, vom bzw. zum Körper etc.), das Tempo (schnell, langsam), die Intensität und die Größe einer Bewegung (vgl. Skant et al. 2002, S. 27ff).

Nonmanuelle Komponenten

Im Gegensatz zu den Lautsprachen haben die nonmanuellen Komponenten von Gebärdensprachen – Mimik, Mundgestik, Mundbild und Neigung des Kopfes und des Oberkörpers – durchaus eine linguistische Funktion (vgl. Skant et al. 2002, S. 17ff).

Mimik

Unter dem Begriff Mimik werden verschiedene Gesichtsausdrücke wie Stirnrunzeln, Naserümpfen und Hoch- oder Zusammenziehen der

Augenbrauen zusammengefasst. Die Mimik erstreckt sich meist über eine ganze Äußerung, ist nicht an einzelne Gebärden gebunden und übernimmt oft eine grammatikalische Funktion. So wird in der ÖGS eine Aussage von einer Entscheidungsfrage nur durch die Mimik unter-schieden.

Mundgestik

Im Gegensatz zur Mimik handelt es sich bei der Mundgestik lediglich um Gesichtsausdrücke, die mit dem Mund produziert werden. Darüber hinaus tritt sie meist nur während einer einzelnen Gebärde auf und erstreckt sich nicht über die gesamte Äußerung. Beispiele für Mundgestiken in der ÖGS sind eingezogene oder aufgeblasene Wangen (DÜNN/ DICK), Kussmund und blasen.

Mundbild

Unter Mundbildern versteht man das hauptsächlich stimmlose Mitsprechen der jeweiligen lautsprachlichen Wörter. Da die meisten Laute aber nicht visuell wahrnehmbar sind, werden die Mundbilder oft gekürzt.

Sie sind auf den visuell wahrnehmbaren Teil des Wortes reduziert.

Mundbilder sind vor allem von Bedeutung, um manuell identische Gebärden voneinander unterscheiden zu können. Die Gebärden ÜBEN und FLEISSIG werden in der ÖGS manuell gleich gebildet und unterscheiden sich nur bezüglich des Mundbildes.

Neigung des Kopfes und des Oberkörpers

Die Neigung des Kopfes oder des Oberkörpers übernimmt eine rein gram-matikalische Funktion. So kann durch eine Veränderung der Neigung des Oberkörpers zum Beispiel ausgedrückt werden, ob es sich um eine direkte oder indirekte Rede handelt.

Phonotaktische Beschränkungen

Vergleichbar mit den Lautkombinationsregeln in Lautsprachen, unterliegt die Kombination der manuellen Parameter in Gebärdensprachen verschiedenen Regeln und Prozessen. Konsonantencluster wie /∫tr/ sind

im Deutschen zulässig (Strauch, Straße), während sie zum Beispiel im Spanischen nicht erlaubt sind.

Battison (1978, S. 31ff) beschreibt die zwei wichtigsten Regeln, die für alle Gebärdensprachen gültig sind und sich auf Zweihandgebärden beziehen: die Regel der Symmetrie und jene der Dominanz.

Die Regel der Symmetrie besagt, dass die beiden Hände bei gleichzeitiger Bewegung die gleiche Handform aufweisen müssen.

Die Regel der Dominanz besagt, dass sich bei unterschiedlicher Handform nur die dominante oder starke Hand (bei Rechtshändern die rechte) bewegen darf. Die schwache Hand nimmt eine Ruheposition ein, und muss eine der sechs Grundhandformen aufweisen.