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5.1 Gebärdensprache

5.1.6 Erwerb der Gebärdensprache

Spracherwerb bedeutet das „Erlernen der Regeln der jeweiligen Muttersprache, […]

[und] zu lernen, wie mit Sprache eigene Gedanken und Gefühle ausgedrückt, wie Handlungen vollzogen und die von anderen verstanden werden können. Hierbei sind auch nonverbale Signale wie Mimik und Gestik bedeutsam.“ (Klann-Delius 1999, S.

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Noch vor 30 bis 40 Jahren gab es kaum Untersuchungen, die sich mit Gebärdensprache beschäftigten. Ein möglicher Grund dafür war der Glaube, dass es sich bei Gebärdensprachen nicht um vollwertige Sprachen handle. Wissenschaftler nahmen an, dass sie hauptsächlich aus pantomimischen Gesten bestehen und keine grammatikalische Struktur haben. Im Laufe der Zeit erkannte man aber, dass dies ein Irrglaube war, und kam zu der Überzeugung, dass Gebärdensprachen – genau wie alle gesprochenen Sprachen auch – als vollwertig anzusehen sind. Einen großen Beitrag zu dieser Entwicklung leistete William Stokoe, der Pionier in den Untersuchungen zur American Sign Language (ASL).

Die Anerkennung der Gebärdensprache als vollwertige Sprache führte zu vermehrten linguistischen Studien über den Gebärdenspracherwerb (vgl. Nußbeck 2007, S. 148).

Es gibt viele verschiedene Gründe, eine Gebärdensprache zu erlernen.

Sie ist das hauptsächliche Kommunikationsmittel für Gehörlose, aber auch

hörende Kinder gehörloser Eltern erwerben sie. Der Gebärdenspracherwerb findet dabei oft in einem anderen Alter statt als der Erstspracherwerb gesprochener Sprachen. Der Grund dafür ist, dass die meisten gehörlosen Kinder (ca. 90%) hörende Eltern haben und oft erst in speziellen Schulen in Kontakt mit der Gebärdensprache kommen (vgl. Nußbeck 2007, S. 148).

In diesem Kapitel liegt das Hauptaugenmerk daher auf Kindern, die von Geburt an Gebärdensprach-Input bekommen, also Gebärdensprache als Erstsprache erwerben.

Es stellt sich die Frage, ob der Verlauf der Sprachentwicklung gesprochener Sprachen dem Verlauf der Sprachentwicklung der Gebärdensprache ähnelt. Die Antwort auf diese Frage lautet: Ja, es gibt tatsächlich Parallelen.

Die meisten Kinder, egal ob gehörlos oder hörend, laufen die frühen Phasen des Spracherwerbs bis hin zur Lallphase durch und äußern dann ihre ersten Wörter oder Gebärden. Auf diese frühen Phasen folgen ein Zuwachs an Vokabeln sowie die Fähigkeit, Wörter zu kombinieren und schließlich kurze Sätze zu bilden (vgl. Bonvillian 1999, S. 279f).

Pränatale Phase

In der pränatalen Phase gibt es bezüglich dem Erwerb gesprochener Sprache Vorteile gegenüber dem Gebärdenspracherwerb.

Ab dem sechsten Schwangerschaftsmonat können die meisten Föten hören und besonders die Stimme der Mutter kann gut wahrgenommen werden. Im Bereich der Gebärdensprache gibt es natürlich nichts Vergleichbares (DeCasper und Fifer 1980, zitiert in Bonvillian 1999, S.

280).

Kurz nach der Geburt

In verschiedenen Tests wurde festgestellt, dass Säuglinge die Stimme ihrer Mutter von anderen Stimmen unterscheiden können. Auch Phoneme können bereits unterschieden werden.

Diese Fähigkeiten besitzen gehörlose Kinder natürlich nicht. Ab dem vierten Monat spielt jedoch die visomotorische Verarbeitung eine wichtige Rolle, denn ab diesem Alter sind Kinder in der Lage, Gesten zu unterscheiden (Carroll und Gibson 1986, zitiert in Bonvillian 1999, S.

280f).

Lallphase

Wenn man eine Unterscheidung zwischen dem Erwerb einer gesprochenen Sprache und dem Gebärdenspracherwerb treffen möchte, muss man auch zwischen vocal babbling und manual babbling unterscheiden.

In beiden Fällen ist die Lallphase jedoch ein wichtiger Meilenstein in der Sprachentwicklung.

Ungefähr im Alter von sechs bis acht Monaten befinden sich hörende Kinder in der Lallphase. Darunter versteht man ein reduplizierendes Plappern, also eine Aufeinanderfolge von gleichen Silben. Es werden nur wenige Laute produziert, dafür aber häufig und regelmäßig. Auch bei gehörlosen Kindern tritt ein vocal babbling auf, es setzt aber etwas später ein.

Hauptsächlich kann man bei Kindern, die Gebärdensprache ausgesetzt werden ein manual babbling beobachten. Diese Kinder produzieren gebärdenartige Gesten, die mit dem vocal babbling hörender Kinder vergleichbar sind.

Es gibt auch Argumente gegen diese Theorie:

Auch hörende Kinder, die nicht mit Gebärdensprache in Kontakt kommen, weisen bis zu einem gewissen Grad manual babbling auf. Es könnte sich also um ein Phänomen handeln, das unabhängig vom Input in der Entwicklung eines Kindes auftreten kann (vgl. Bonvillian 1999, S. 281).

Erste Produktion von Gebärden

Mehrere Studien bestätigen den schnelleren Erwerb von Gebärdensprache. Es gibt jedoch große individuelle Unterschiede das Alter betreffend, in dem diese Meilensteine erreicht werden. Für die erste

erkennbar produzierte Gebärde reicht die Altersspanne von fünfeinhalb bis hin zu elf Monaten.

Auch beim Alter bezüglich des Erwerbs eines Lexikons bestehend aus zehn verschiedenen Wörtern gibt es diese Unterschiede: hier reicht die Spanne von einem Alter von elf bis hin zu 17 Monaten.

Bei den Wortkombinationen wird eine Altersspanne von zwölfeinhalb bis zu 22 Monaten dokumentiert.

Diese Ergebnisse sind vergleichbar mit den individuellen Unterschieden, die auch Kinder aufzeigen, die gesprochene Sprache erwerben (vgl. Bonvillian 1999, S. 281ff)

Boyes Braem (1995, S. 164f) geht jedoch davon aus, dass erste Gebärden nicht vor ersten Wörtern auftreten. Gehörlose Kinder produzieren zwar früher erste Gebärden, wenn es aber darauf ankommt, zwei dieser Gebärden zu kombinieren, passiert das erst später als die Kombination zweier gesprochener Wörter eines hörenden Kindes.

Erst die Fähigkeit der Kombination lässt darauf schließen, dass die Kinder dabei sind, ein linguistisches System zu entwickeln.

Mimik

Zum Erwerb der Mimik erwähnt Boyes Braem (1995, S. 175ff) eine Studie von Reilly, McIntire und Bellugi aus dem Jahre 1990. Die wichtigsten Ergebnisse sind in folgender Tabelle zusammengefasst:

Abb. 18: Zusammenfassung einiger Erkenntnisse von Reilly, McIntire und Bellugi 1990 (Boyes Braem 1995, S. 176)

Nonmanuelle Parameter werden also erst nach und nach erworben. Sie haben anfangs noch einen affektiven Charakter und werden größtenteils erst nach den manuellen Parametern erworben. Ein Grund dafür könnte sein, dass die manuellen Parameter leichter zu erkennen und zu identifizieren sind als die Mimik. Darüber hinaus ist die Selbstkontrolle der produzierten manuellen Parameter einfacher, als die der nonmanuellen, denn die eigenen Hände können während der Produktion beobachtet

werden, wohingegen man den Gesichtsausdruck schwerer kontrollieren kann.

Lexikon

Den Vokabelzuwachs betreffend wurden Unterschiede zwischen Kindern, die eine gesprochene Sprache, und jenen, die Gebärdensprache erwerben, dokumentiert.

Beim Erwerb gesprochener Sprache kommt es in der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres zu einem enormen Vokabelzuwachs in kurzer Zeit. In der Zeit zwischen der Äußerung des ersten Wortes und diesem rapiden Vokabelzuwachs tut sich auf der Ebene des Lexikons allerdings eher wenig.

Beim Gebärdenspracherwerb hingegen erfolgt der Vokabelzuwachs nicht plötzlich sondern kontinuierlich. Kinder – sowohl die, die gesprochene Sprache erlernen, als auch die, die Gebärdensprache erwerben – verstehen nicht immer die Konzepte, die den Wörtern oder Zeichen, die sie produzieren, zugrundeliegen. Dadurch kommt es zu Undergeneralisations (das Wort bzw. Zeichen HUND wird etwa nur für den Hund der Familie gebraucht) und Overgeneralisations (das Wort bzw.

Zeichen MILCH wird etwa für jede Flüssigkeit verwendet).

Während der ersten zwei Jahre ist der Inhalt der Wörter von Kindern, die Gebärdensprache erwerben, sehr ähnlich dem der Wörter von Kindern, die gesprochene Sprache erwerben. Zuerst werden Wörter, die sich um das Hier und Jetzt drehen, erworben, zum Beispiel Dinge, Personen, Tätigkeiten und Eigenschaften aus der Umgebung (cookie, mommy, daddy, hot, car, no, shoes, milk, dog etc.). Erst danach werden abstrakte Konzepte erlernt.

Der einzig signifikante Unterschied zwischen Kindern, die Gebärdensprache erwerben, und jenen, die gesprochene Sprache erwerben, ist der Erwerb und Gebrauch von Funktionswörtern. Er stellt eine Ausnahme dar, da in der Gebärdensprache kein gesondertes Zeichen dafür existiert (vgl. Bonvillian 1999, S. 283ff).

Wie im Text erläutert wurde, gibt es eine große Anzahl an Parallelen zwischen dem Gebärdenspracherwerb und jenem gesprochener Sprache.

Diese Ähnlichkeiten sind betreffend der Lallphase und das Lexikon offensichtlich und führen zu dem Schluss, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt, sowohl visuell-motorische als auch auditiv-vokalische Sprachen zu erlernen.

5.2 Andere Kommunikationsformen