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PASTERNAKS MÄRCHENSCHLOSS DER MUSIK- DIE BALLADA VON 1928

(Sergej Dorzweiler, Marburg)

Der Ratlosigkeit, m it der das zeitgenössische Publikum auf Goethes Ballade rea- gierte1, verdanken w ir nicht nur die Auslegung des Gedichts durch Goethe selbst, sondern auch eine allgemeine Betrachtung über die Gattung der Ballade, aus der seither die Mehrzahl der Arbeiten , die sich m it dieser literarischen Form ausein- andersetzen, den Satz von der Ballade als "U r-E i" der Dichtung zitieren.

Übrigens ließe sich an einer Auswahl solcher Gedichte [Balladen der Völker, S.D.] die ganze Poetik gar wohl vortragen, weil hier die Elemente noch nicht getrennt, sondern wie in einem lebendigen U r-Ei zusammen sind, das nur bebrütet werden darf, um als herrlichstes Phänomen auf Goldflügeln in die Lüfte zu steigen.

Von jeher hat der Leser - sei es aus literaturwissenschaftlichem Interesse oder auch nur aus voyeuristischer Neugier - nach den Hintergründen literarischer Pro- duktionen gefragt. Doch nicht nur der Leser, der sich von persönlichen Daten einen besseren E inblick in ein dichterisches Werk erhofft, ist an der Biographie des Autors interessiert. Auch den Dichter selbst, so scheint es, drängt es danach, Rückschau zu halten, das eigene W erk zu reflektieren, Hintergründe aufzudecken und unklar Gebliebenes zu erläutern. So ließ sich Goethe gar nicht erst um eine Autobiographie bitten. Er erfand einen fiktiven Herausgeber, durch den er sich selbst auffordern ließ, die "Lebens und Gemütszustände", die den S toff zum dichterischen Werk "hergaben", zu nennen und die "theoretischen Grundsätze", denen er gefolgt sei, dem Leser anzuvertrauen.4 M it dieser an sich selbst ge- richteten B itte ließ Goethe sein W erk Dichtung und Wahrheit beginnen.

Die Ballada Boris Pasternaks hat m it Goethes Ballade nicht nur den T itel gemeinsam.5 Auch sie stieß beim Publikum auf Verständnisschwierigkeiten und

1 "[...] allein ich konnte doch beim Vortrag öfters beobachten, daß selbst geistreich-gewandte Per- sonen nicht gleich zum ersten M al ganz zur Anschauung der dargestellten Handlung [in der Ballade, S.D.] gelangten"; zitie rt aus - J.W. Goethe: "Ballade, Betrachtung und Auslegung". - Goethes Werke. Textkritisch durchges. u. m. Anm. vers, von Erich Tninz, Hamburg 1948, Bd. 1, S. 400.

2 Vgl. Balladenforschung. Hrsg. v. W alter Müller-Seidel, Königstein/Ts. 1980 (= Neue Wissen- schaftliche Bibliothek; 108).

3 W ie Anm. 1.

4 J.W. Goethe: "Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit". - Goethes Werke, Hamburg 1955, Bd. 9, S. 8.

5 Eine intertextuelle Untersuchung der beiden Gedichte würde sicherlich eine Reihe von interes- santen Übereinstimmungen herausarbeiten können. Dieser Aspekt bleibt hier aber unberück-sichtigt.

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bereitete vielen, die nach ihrem Sinn forschten, Kopfzerbrechen.6 Zwar veran־

laßte dies Pasternak nicht, sein Gedicht selbst zu interpretieren, doch hinterließ er sowohl in der autobiographischen Erzählung Ochrannaja gram oia als auch in der Skizze L ju d i i p o lo ie n ija Erinnerungen, die näheren Aufschluß über den Sinn und Gehalt der B allada geben. A u f diese Weise erfüllen die autobiographischen Werke Pasternaks eine der Autobiographie Goethes vergleichbare Funktion:

Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, in wie- fern es ihn begünstigt, wie er sich eine W elt- und Menschenansicht daraus gebildet ynd wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt.

W ie eng miteinander verbunden Pasternak die Biographie eines Dichters zu sei•

nem W erk empfand, belegt ein Z itat aus dem dritten Kapitel der O chrannaja gra- mota:

И как просто было это все. Искусство называлось трагедией. Так и следует ему называться. Трагедия называлась Владимир Маяковский. Заглавье скрывало гениально простое открьпъе, что поэт не автор, но - предмет лирики, от первого лица обращающейся к миру. Заглавье было не именем сочинителя, а фамилией со- держанья.

Pasternaks Hinweis darauf, daß er m it der Охранная грам ота nicht eigentlich seine eigene Biographie zu schreiben anstrebe, sondern sich ih r ״nur zuwende, soweit eine andere es erfordert"9, ist nicht als Distanzierung und Abwehr dem Biographischen gegenüber zu bewerten. Er versucht in dem Exkurs, den dieser Satz einleitet, zu verdeutlichen, daß die Biographie eines Künstlers nicht dem dramatischen Gang eines Heldendramas gleicht, in dem die Handlung ihrem Hö- hepunkt und Abschluß zustrebt. Das Leben eines Dichters verläuft im Unter- schied zu dem eines Helden nicht in der "biographischen Vertikalen". Dies meint, daß der augenblickliche Moment, die Gegenwart m it den in ih r gegebenen D in- gen und Phänomenen Gegenstand der Dichtung ist. Der D ichter ist bemüht, den

Sergej Dorzweiler

6 Siehe L. Fleishmans Bemerkung HOstanovimsja to l״ko na predstavļjajuSčichsja nam osobcnno 1trudnym i' dija interpretacii. К čislu takovych, nesomnenno, otnositsja Ballada" in seiner Mono- graphie Boris Pasternak v dvadcatye godyy München 1981, S. 102. Hier auch, S. 103, A.

Achmatovas Kommentar: "Как ni starajsja, a ničego ponjat' nel'zja. Tut ešče kakoj-to sjužet mel4eSit...”

7 J.W. Goethe: "Aus meinem Leben. Dichtung und W ahrheit", S. 11.

8 Siehe B.L. Pasternak: "Ochrannaja gramota״. - Boris Pasternak ob iskusstve. "Ochrannaja gramota״ i zametki о chudožestvennom tvorčestve. Sóst. i primeč. E.B. i E.V. Pasternak, Moskva 1990, S. 102.

9 Ebd., S. 45: HJa ne piSu svoej biografii. Ja к nej obraSčajus', kogda togo trebuet čužaja. Vmeste s ее glavnym licom ja sčitaju, čto nastojaščego žizneopisanija zasluživaet tolTco geroj, no istorija poéta v étom vide vovse nepredstavima. [...] Vsej svoej žizni poét pridaet takoj dobrovol'no krutoj naklon, čto ее ne možet byt1 v biografičeskoj vertikāli, gde т у ždem ее vstretit1."

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Pasternaks Märchenschloß der Musik

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Augenblick zu erfassen und selbst die kleinsten, scheinbar unwesentlichen Ob- je kte 10 und Vorgänge in Natur und Leben, indem er sie beschreibt, aus der Na- m enlosigkeit herauszuführen und ihnen "Unsterblichkeit" zu verleihen. Diese Aufgabe e rfü llt bei Pasternak nicht nur die Dichtung, sondern alle Kunst, auch die M usik und die Malerei.

Die bereits vorliegenden Interpretationen11 haben durch zahlreiche H in-weise auf den literarischen und außerliterarischen Kontext den Zugang zur B allada erleichtert. Dennoch bleibt das Gedicht in wesentlichen Zügen unklar und rätselhaft; es scheint, als wolle es sich einer Interpretation entziehen. Nach w ie vor scheitern die Versuche, einen durchgehenden Handlungsverlauf fü r die B allada festzulegen oder die in ih r auftretenden Personen zu benennen : wer 12

oder was ist der Reiter, der Graf, das Personal; welche Botschaft ist zu über- bringen; gelangt der Reiter/Bote/Poet ins Schloß oder w ird er abgewiesen? Die Berücksichtigung der autobiographischen Texte Pasternaks kann bei der Beant- wortung dieser und ähnlicher Fragen hilfreich sein. Sie führen zu den in den ein- zelnen Gedichten festgehaltenen Eindrücken und Erlebnissen zurück und beleben sie erneut durch die epische Form der Erzählung. Gedicht und Autobiographie stehen zueinander in einer intertextuellen Beziehung. Während in der Auto- biographie die Identität von Autor und Erzähler klar bestimmbar ist, ist das lyrische Ich im Gedicht m it dem Autor-Ich nicht gleichzusetzen, dieses Verhält- nis ist wesentlich komplexer. Das lyrische Ich entfernt sich vom realen Ich des Autors und gewinnt eine eigene Dynamik. Erst die Autobiographie stellt den au- thentischen Bezug wieder her und erlaubt somit eine neue Zuordnung. Bei den beiden Autobiographien Pasternaks - und dies g ilt in besonderer Weise fü r die O chrannaja gram ota - handelt es sich um einen äußerst komprimierten, eher zur L y rik als zur Prosa neigenden, stark strukturierten Text. Ereignisse und Bege- benheiten aus dem Leben Pasternaks müssen im Text erst aufgespürt werden, sie präsentieren sich nicht offen wie in gewöhnlichen Memoiren oder Erinnerungen.

L. Fleishman hat in seiner Interpretation der Ballada darauf hingewiesen, daß in ih r der autobiographische Aspekt besonders deutlich (ähnlich wie in dem Gedicht M arburg) zutage tritt und Form und Inhalt prägt. Dieser Zug tritt in der zweiten Fassung von 1928 verstärkt hervor. Den Grund dafür sieht Fleishman in 11 der gleichzeitigen A rbeit Pasternaks an der Ochrannaja gram ota und der zweiten 10 Siehe ebd., S. 47: "K. osobennoj jarkosti, w idu dali svoego otkata, zvali naibolee otečnye, ne- tvorčeskie časti suSčestvovan'ja. Ešče sil'nee dejstvovali neoduSevlennye predmety. Éto byli naturščiki natjurmorta, otrasli, naibolee izljublennoj chudožnikami."

11 I.L . A l'm i: "Ballady В. L. Pastemaka". - Izvestija Akademii Nauk SSSR. Sērija Literatury i Jazyka, t. 49 (1990), 5, S. 420-431; P.A. Bodin: The Count and H is Lackey. An Analysis o f

Boris Pasternak's Poem "Ballada". - Studia Filologiczne. Filologia Rosyjska. Pod. red. Anny Majmieskułow, Bydgoszcz 1990, S. 37-63; L. Fleishman: Boris Pasternak v dvadcatye gody, S.

102-106.

12 P.A. Bodin: The Count and His Lackey, S. 63: "On [graf, S. D.J - simvol Boga, on g ra f Lev Tolstoj i on - olicetvorenie 'sily sceplenija1 v prirode i v iskusstve."

13 L. Fleishman: Boris Pasternak v dvadcatye gody, S. 106.

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Ausgabe des Gedichtzyklus Poverch bar'erov, in dem die deutlich überarbeitete neue Fassung der B allada erschien.

Die vorliegende A rbeit beabsichtigt eine Interpretation der B allada in der Fassung von 1928. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Frage, inw iew eit die au- tobiographischen Texte m it dem Gedicht im Zusammenhang stehen, in welcher Weise Dichtung und Prosa aufeinander abgestimmt sind und welchen Grad an Authentizität sie gemäß ihrer Gattung erreichen. Die erste Fassung des Gedichts von 1916, die sich wesentlich von der zweiten Ausgabe 1928 unterscheidet, soll hier nur insoweit berücksichtigt werden, als sie zum besseren Verständnis der späteren Ausgabe beitragen kann. Die frühe Version ist als selbständiger, in sich geschlossener Text zu betrachten, der eine eigene Auslegung und Interpretation erfordert. Dies g ilt auch und in besonderer Weise fü r die eigenständigen Gedichte m it dem T ite l B allada von 1930.

In seiner Interpretation der Begegnung (in der Fassung von 1916) bzw. Nichtbe- gegnung des Dichters/Boten m it dem Grafen erkennt Fleishman das Prinzip der

"unbeantworteten Frage (bezotvetnost')14, und stellt dabei eine auffällige Parallele zu der im zweiten T e il der Ochrannaja gram ola geschilderten Episode fest, in der Pasternak nach einem mißglückten Gespräch m it dem von ihm "abgöttisch"13 (w ie Fleishman zu Recht hervorhebt) verehrten Skijabin, den Entschluß, Komponist zu werden, endgültig aufgibt. Folgt man dieser von Fleishman gelegten Spur, so erschließen sich auch andere Übereinstimmungen zwischen den beiden Autobiographien und dem Gedicht, soweit es sich dabei um die Rolle der M usik oder der fü r Pasternak so wichtigen Begegnung m it Skrjabin handelt.

Bereits der T ite l, der die literarische Gattung und die musikalische Form m eint16, deutet auf den unentschiedenen K o n flikt hin, dem sich Pasternak ausge- setzt sah, seitdem er begonnen hatte, sich ernsthaft m it der M usik zu beschäftigen und die ersten Kompositionen entstanden waren. Er mußte sich zwischen der Literatur und der M usik entscheiden (später trat auch die Philosophie hinzu). Die Begabung war fü r beides vorhanden, und so mußte eine W ahl getroffen werden.

Da aber Pasternak sich dazu nicht in der Lage sah, wartete er auf einen "W ink des Schicksals". Ein Z u fa ll sollte ihm den richtigen Weg weisen.

Но музыка была для меня культом, то есть той разрушительной точкой, в которую собиралось все, что было самого суеверного и самоотреченного во мне [...] И опять, предпочтя красноречью факта превратности гаданья, я вздрогнул и задумал на- двое.

Sergej Dorzweiler

14 ЕМ .

15 Vgl. "G raf - simvol Boga", Anm. 12.

16 Die Ballade läßt sich nicht nur im H inblick auf die Zugehörigkeit zur M usik oder zur Dichtung als Grenzgänger bezeichnen. Auch innerhalb der Sprachkunst w ird sie als M ischform des Epischen, Lyrischen und Dramatischen gesehen. Vgl. F.W. Neumann: "Zur Theorie und Ästhetik der Ballade". - Balladenforschung, S. 26.

17 B.L. Pasternak: Ochrannaja gramota, S. 41-42.

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Pasternaks Märchenschloß der Musik

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Im Jahre 1909 kam Skrjabin aus dem Ausland zurück. Pasternak wurde einge- laden und erhielt die M öglichkeit, seine seit dem Jahr 1904 entstandenen Kompo- sitionen auf dem K lavier vorzutragen. Skrjabin reagierte äußerst positiv, ein wenig zu pathetisch vielleicht, gönnerhaft und manieriert. Pasternak stellte während des Gesprächs zufällig fest - Skrjabin hatte einen T e il des Gehörten auf dem K lavier nachgespielt - , daß sein von ihm so hoch verehrtes Idol an dem gleichen Mangel wie er selbst litt: auch ihm fehlte das absolute Gehör. Doch nicht das bewirkte eine unendliche Enttäuschung, sondern die Unehrlichkeit, m it der der Komponist seinen Mangel zu kaschieren suchte. Skijabin verschloß sich seinem jugendlichen Schützling, er vertraute ihm sein Geheimnis nicht an. Eine ehrliche, menschliche Begegnung zwischen Schüler und Lehrer kam nicht zu- stande. Die vorliegende Interpretation geht von der Annahme aus, daß die Ballada in den Fassungen von 1916 und 1928 einen Rückblick auf diese Episode darstellt und somit eine Reflexion über die Rolle, die der M usik in Pasternaks Leben zukam, beinhaltet.

Der B lick in den Spiegel ist ein B lick in die Vergangenheit , m it dem das I fi

Gedicht eröffnet w ird. Das Aufscheinen und Erlöschen der Gesichtszüge in einem Morsezeichen ähnlichen Rhythmus entspricht dem Auftauchen und Ver- blassen von Ereignissen und Personen aus der Vergangenheit. Das B ild des rei- tenden Herolds in den beiden ersten Strophen entspricht ganz dem Beginn der traditionellen Balladenform, wobei am Anfang eines solchen Gedichts häufig die Darstellung eines - o ft nächtlichen - Rittes steht.19 G leichzeitig erinnern der leb- hafte Galopp und der pulsierende Takt in der Ballada an die Aufregung und das Lampenfieber des jungen Boris Pasternak während der Straßenbahnfahrt auf dem Weg zu Skijabin (v gnidi tvoej - topot loSadnyj20):

Переполненный номер четвертый тискал и покидывал эти чувства, неумолимо неся их к страшно близившейся цели по бурому Арбату, который волокли к Смолен-скому, по колено в воде, мохнатые и потные вороны, лошади и пешеходы.

Daß die beiden ersten Strophen des Gedichts m it dieser "Szene" aus der Ochran- naja gram ota in Beziehung stehen und somit auf Skijabin verweisen, läßt sich auch in der Autobiographie von 1958 belegen. So w ird gleich zu Beginn des m it Skrjabin betitelten Kapitels Moskau als Stadt m it märchenhaftem A n tlitz be- zeichnet und m it einer Hauptstadt in den Bylinen (also der russischen Ent- sprechung zur deutschen Ballade) verglichen. Auch die Erwähnung von 18 Der Spiegel kann auch konkreter als Spiegelung im Fenster der Straßenbahn gedeutet werden, was die Verknüpfung zwischen dem Gedicht und der in der Ochrannaja gramota geschilderten Episode erhärtet.

19 Siehe Die Ballade. Menschen und Mächte. Schicksale und Taten. Hrsg. v. W . v. Scholz, Ber- lin 1942.

20 В. L. Pasternak: Sobranie sočinenij vpjati tomach91. 1, Moskva 1989, S. 94.

21 B. L. Pasternak: Ochrannaja gramota9 S. 41.

22 Vgl. W illiam J. Entwistle: ״Was ist eine Ballade?", S. 44.

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Sergej Dorzweiler

Kutschen und Pferden, die den H o f der Lehranstalt "überschwemmten", unter- streicht den genannten Zusammenhang:

В девяностых годах Москва еще сохраняла свой старый облик живописного до сказочности захолустья с легендарными чертами третьего Рима или былинного стольного града [.״ ] Были в силе старые обычаи. Осенью в Юшковом переулке [...]

производилось освящение лошадей, и ими, вместе с приводившими их на освящение кучерами и конюхами, наводнялся весь переулок до ворот Училища, как в конную ярмарку, [kursiv, S.D.]

Folgt man der Annahme, daß der Anfang des Gedichts im Zusammenhang m it dieser fü r Pasternak schicksalhaften Episode der Fahrt zu Skijabin und der am gleichen Tag noch vollzogenen Abkehr von der M usik betrachtet werden muß, so lassen sich insgesamt drei Handlungsstränge fü r die B allada aufstellen.

1. Der Aufbruch und der Weg zum Z iel Strophe 1-3: Aufbruch (Präsens)

1. Бывает, курьером на борзом...

2. Поэт или просто глашатай...

3. Ком у сегодня шутится / Кому кого жалеть.״

Strophe 4-5: nächtlicher R itt (Präteritum) 4. Был ветер заперт наглухо,״ .

5. Бряцал мундштук закушенный,.״

2. Rückblick in die Vergangenheit

Strophe 8 (ab Zeile 2): Kindheitserinnerungen in Verbindung m it M usik (Präteritum)

Вы спросите, кто я? Здесь жил органист...

23 В. L. Pasternak: Ljudi i položenija. - Boris Pasternak ob iskusstve. ״Ochrannaja gramota" i zametki о chudoīestvennom tvorčestve, Moskva 1990, S. 197.

24 Eine interessante Parallele zu diesen Zeilen findet sich in einem E ntw urf Pasternaks aus dem Jahre 1913: "Mne žalko 13־letnego mal'čika s ego katastrofoj 6־go avgusta. V ot как sejčas, ležit on v svoej nezatverdevšej gipsovoj poyjazke, i Cerez ego bred pronosjatsja trechdol'nye, sinkopirovannye ritm y galopa i padenija. Otnyne ritm bűdet sobytiem dija nego, i obratno - sobytija stanut ritm am i; melodija že, tonal'nost' i garmonija - obstanovkoju i veščestvom sobytija." (В.L. Pasternak: Bons Pasternak ob iskusstve, S. 256-257). Hier w ird besonders deut- lieh, wie in der Erinnerung Pasternaks M usik, Rhythmus und Pferdegalopp m it dem Namen Skijabin verbunden sind. Das Jahr des Reitunfalls ist auch das Jahr, in dem Pasternak zum ersten M al die M usik Skijabins hört. Der U nfell ereignete sich 1903 in Obolenskoe. D ort verbrachten die Familien Pasternak und Skijabin ihre Sommerferien. (Vgl. Ljudi i poloienija, S. 199-200.).

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Pasternaks Märchenschloß der Musik

ן Strophe 9, 10, 15-23: Wechsel der Jahreszeiten (Präteritum )

9. Летами тишь гробовая...

10. А зимы другую основу...

15. Куда б утекли фонари околотка...

16. Но вот их снимали, и, в хлопья облекшись,...

17. Ей недоставало шаль нескольких звеньев,...

18. В колодец ее обалделого взгляда...

19. Ж естоко продрогши и до подбородков...

20. Их кожаный строй был, как годы, бороздчат,...

21. Насколько терпелось канавам и скатам...

22. Потом начиналась работа граверов,...

23. Но лето ломалось, и всею махиной...

3. Ankunft am Schloß

Strophe 8 (Zeile 1 und 2), 11-13: Dialog m it dem Lakai 8. Впустите, мне надо видеть графа. / Вы спросите, кто я?״ . 11. Я — пар отстучавшего града, прохладной...

12. Чтоб, музыкой хлынув с дуги бы тия,...

13. Впустите, мне надо видеть графа

Strophe 24-29: Ansprache an den Grafen

24. Но вы безответны. В другой обстановке...

25. Я знал, что пожизненный мой собеседник,...

26. Я знал, что прелесть путешествий...

27. Но как пронесть мне этот ворох...

28. Зачем же, земские ярыги.״

29. Зачем вы выдумали послух,...

ln den Strophen 9, 10, 15-23 werden Naturvorgänge geschildert, die den Wechsel der Jahreszeiten anzeigen. Gemeinsam m it den Erinnerungen des lyrischen Ich 25

an die K indheit und die in ih r erlebte M usik lassen sich diese Zeilen als Z eit des Wartens deuten. Der Wechsel der Jahreszeiten läßt sich im Zusammenhang m it einer zentralen Textstelle aus der Ochrannaja gram ota sehen, in der der Autor den Versuch unternimmt, seine ihm eigene Poetik zu definieren:

Однако того же вопроса [что такое литература, S.D.] в отношении искусства по преимуществу, искусства в целом, иными словами — в отношении поэзии, мне не обойти. [.״ ] Солнце вставало из-за Почтамта и, соскальзывая по Кисельному, садилось на Неглинке. Вызолотив нашу половину, оно с обеда перебиралось в сто- ловую и кухню .

25 Rasputica: Zeile 11; letami: Zeile 36; zimy: Zeile 40; grad: Zeile 44; jabloko: Zeile 50; listo- pad: Zeile 67; dožd': Zeile 75; sljakot;: Zeile 87; leto: Zeile 92; raduga: Zeile 91; avgust: Zeile 93.

26 B. L. Pasternak: Ochrannaja gramota, S. 45-46.

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Obwohl der V erlauf der Jahreszeiten in Sprache gefaßt ist, scheinen sich die Zeilen auf eine spezifische Weise "m usikalisch" m itzuteilen. M it Bezug auf die autobiographischen Hinweise Pasternaks lassen sich diese Strophen als Prozeß des Komponierens deuten und konkret als die A rbeit des jungen Pasternak an sei- nen musikalischen Entwürfen auffassen, die er später Slajabin vorstellte.

Damit läßt sich nun auch eine Aussage über den "Inhalt der Botschaft", die der "K urier" m it sich führt, treffen: Es sind die in M usik (bzw. in Poesie) überge- gangenen erfaßten Naturvorgänge, die so intensiv und eindringlich erfahren wer- den, daß sich ein steter, unmerklicher Übergang von der reinen Betrachtung zum intensiven M iterleben vollzieht, der schließlich zur Aufhebung der Grenze zw i- sehen Erlebtem und Erlebendem führt. Am Ende ist eine vollkommene Symbiose von Ich und W elt erreicht. Der Bote erreicht das Schloß des Grafen schon nicht mehr als Bote, sondern als Botschaft selbst.

Я — пар отстучавшего града, прохладой В исходную высь воспаряющий. Я — Плодовая падаль, отдавшая саду ״ Все счеты по службе, всю сладость и яды.

Das Schloß des Grafen ist der Ort, an dem die M usik und alle m it ih r verbun- denen Erlebnisse fü r immer eingeschlossen bleiben. H ier ist die Erinnerung an die Kindheit m it ihrer Liebe zur M usik verborgen. Um Einlaß zu erhalten, bedarf es einer Parole (in der Fassung von 1916).

Сбегает краска с лица консьержа, В слова посетителя вкрался пароль, Лисо наклоняется. Гость еще сдержан.

Но очи очам прохрипели: открой!

Der Zugang ist erschwert durch eine "M auer", den sowohl die "R eligion" als auch die "G ottlosigkeit" gemeinsam m it den Gesetzen der "P flich t" und M oral er- richtet haben, zusätzlich w ird das Tor von "Bütteln der Staatspolizei" bewacht.

Зачем же, земские ярыги И полицейские крючки, Вы обнесли стеной религий Отца и мастера тоски?

Sergej Dorzweiler

27 В. L. Pasternak: Sobranie sočinenij, t. 1, S. 95.

28 Ebd., S. 477. Vgl. "No oči očam prochripeli: otkroj!" m it Ochrannaja gramota, S. 41: "Ja ocenil togda, как vySkoleny u nas licevye myšcy. S perechvačennoj ot volnen'ja glotkoj, ja m jam lil čto-to otsochSim jazykom i zapival svoi otvety ćastymi glotkami čaju..." [kursiv, S.D.]

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Pasternaks Märchenschloß der Musik

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Зачем вы выдумали послух, Безбожие и ханжество,

Когда он лишь меньшой из взрослых И сверстник сердца моего.

Während "die R eligion" selbstkritisch die vom jungen Pasternak sich selbst auf- erlegte überhöhte Sicht auf die M usik meint, bezieht sich "die G ottlosigkeit" auf die "Skijabinschen Gedankengänge über den Übermenschen"30. Im Schloß der M usik ist auch die kindliche Liebe zu ih r aufgehoben, die Erinnerung an alle Be- gebenheiten, die fü r immer m it der M usik verbunden bleiben werden.

Вы спросите, кто я ? Здесь жил органист.

Он лег в мою жизнь пятеричной оправой Ключей и регистров. Он уши зарниц Крюками прибил к проводам телеграфа.

Вы спросите, кто я ? На розыск Кайяфы Отвечу: путь мой был тернист, [kursiv, S.D.]

Das "Fünfer-M uster" (pjateričnaja oprava) ist nicht nur allgemein Symbol fü r die M usik (die fü n f Linien des Notensystems), sondern insbesondere fü r die M usik Skrjabins.

Ввиду моей нынешней отсталости от музыки и моих отмерших и совершенно истлевших связей с ней, Скрябиным моих воспоминаний, Скрябиным, которым я жил и питался, как хлебом насущным, остался Скрябин среднего периода, при- близителыю от третьей сонаты до пятой, [kursiv, S.D]

M it den "Schlüsseln" (kļju či) und "Registern" (registry) ist die Orgelmusik gemeint. Die "Ohren" (uši), die an die Telegraphenleitungen "angeschlagen"

(p rib it') sind, verkörpern noch einmal die Linien in einem Notenblatt, wobei die Baßnotenschlüssel die Assoziation von "Ohren" hervorrufen. G leichzeitig lassen die Telegraphenleitungen den Leser an Feme und Ausland denken. Das B ild Skrjabins in der Schweiz taucht auf, das Lauschen steht fü r Sehnsucht, erinnert aber auch an die Kindheit Pasternaks, in der er während der Ferien auf dem Land m it Hingabe dem komponierenden "Nachbarn" lauschte. Die Skrjabins ver- brachten den Sommerurlaub wie die Pasternaks in Obolenskoe.

29 B. L. Pasternak: Sobranie sočinenij vpjati tomach, t. 1, S. 97.

30 Vgl. B. L. Pasternak: Ljudi ipoloienija, S. 202.

31 Vgl. ebd., S. 203: "Garmoničeskie zarnicy Prometeja i ego [S kijabin] poślednich proizvedenij kažutsja ne tolTco svidetel'stvami ego genija, a ne povsednevnoju piščeju dija duši..." [kursiv, S.D.],

32 В. L. Pasternak: Sobranie sočinenij vpjati tomach, t. 1, S. 95.

33 B. L. Pasternak: Ljudi ipoloienija, S. 202-203.

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Der galoppierende und pulsierende Rhythmus der B allada korrespondiert m it der Darstellung der M usik Skrjabins im ersten Kapitel der Ochrannaja gramota, der von den Proben zur Ekstase Skrjabins handelt und den Eindruck wiedergibt, den diese auf den jungen Pasternak machten.

М узы ку выпускали. Пестрая, несметно ломящаяся, молниеносно множащаяся, она скачками рассыпалась по эстраде. Ее настраивали, она с лихорадочной по- спешностью неслась к согласью и, вдруг достигнув гула неслыханной слитности, обрывалась на всем басистом вихре, вся замерев и выровнявшись вдоль рампы.

Der unterschiedliche Ausgang der beiden frühen Balladen entspricht der ver- änderten Einstellung Pasternaks zur M usik. In der Ballade von 1916, in der der Herold zum Grafen gelangt, kommt die Hoffnung Pasternaks zum Ausdruck, zur M usik zurückkehren zu können. 1928 ist der Bruch m it der M usik vollzogen, die Rückkehr zum Leben eines Komponisten unmöglich. Die Erinnerung an die Jahre der kindlichen und absoluten Liebe zur M usik Skrjabins, an die glücklichen Tage des Arbeitens an der M usik und an die Zeit der stillen Hoffnung, ein Komponist

Der unterschiedliche Ausgang der beiden frühen Balladen entspricht der ver- änderten Einstellung Pasternaks zur M usik. In der Ballade von 1916, in der der Herold zum Grafen gelangt, kommt die Hoffnung Pasternaks zum Ausdruck, zur M usik zurückkehren zu können. 1928 ist der Bruch m it der M usik vollzogen, die Rückkehr zum Leben eines Komponisten unmöglich. Die Erinnerung an die Jahre der kindlichen und absoluten Liebe zur M usik Skrjabins, an die glücklichen Tage des Arbeitens an der M usik und an die Zeit der stillen Hoffnung, ein Komponist