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BILANZIERUNG EINER BULGARISCHEN ERZÄHLUNG IM VERLÖSCHEN DES SOZIALISTISCHEN REALISMUS

BORIS APRILO VS W EITE S IN -SEE -STEC H E N .

BILANZIERUNG EINER BULGARISCHEN ERZÄHLUNG IM VERLÖSCHEN DES SOZIALISTISCHEN REALISMUS

W olfgang Gesemann (München)

In der literarischen Monatsschrift Plam äk1 erschien die Erzählung Dalečno Pia- vane (Weites In-See-Stechen) des Prosaisten Boris A p rilo v (eigentlich Atanas Džavkov, Jahrgang 1921). W ie die Redaktion feststellt, wurde die Erzählung ge- kürzt. Sie soll einer Analyse, Einordnung und Bewertung unterzogen werden. Als Auswahlkriterien gelten:

1. Ein kürzerer literarischer Text eines Autors, der nicht zur ersten Reihe der zu seiner Zeit o ffiz ie ll Gehandelten rechnet;

2. Abfassung und Erstveröffentlichung am Vorabend der lose form al noch geltenden, beziehungsweise noch nicht aufgehobenen Norm des Sozialistischen Realismus (aufgrund interner Zeitangaben des auktorialen Ichs ist der Text im Jahre 1985 abgefaßt worden). Literarische Hervorbringungen jener Epoche sind so Ausdruck des graduellen Spielraums zwischen Norm erfullung und Auslotung einer Freizügigkeitsmarge vor der Schranke der Zensur. Jeder damalige Text be- sitzt somit einen entsprechenden öffentlichkeitsrelevanten symptomatischen W ert.

Es handelt sich um eine Ich-Erzählung, die sich in fünfzehn kürzere Ab- schnitte gliedert, deren Sujet dem Fabelverlauf kontinuierlich entspricht. Das fik tiv e auktoriale Ich gibt sich so, als sei es m it dem realen A utor identisch, der am 7.2.1985 über ein siebenundvierzig Jahre zurückliegendes Erlebnis vom Sep- tember 1938 in Burgas berichtet, da er siebzehneinhalb Jahre alt war. Der Inhalt ist folgender:

(1) Der Ich-Held w ird am Strand von Burgas der jugoslawischen, an einer Som- mersprachschule fü r Bulgarisch teilnehmenden zweiundzwanzigjährigen Sia- vistikstudentin namens Karela Alečkovič ansichtig, verliebt sich in sie, tanzt abends m it ih r und lädt sie zu einer Kanufahrt zur nahegelegenen Insel Sveta Anastasija fü r den kommenden Morgen ein.

(2) Kanufahrt zu zweit. Gefahr, daß Fischer das Mädchen anzüglich verhöhnen.

Bei halber Entkleidung Karelas auf der einsamen Insel gerät der Ich-Held in pubertäres H in- und Hergerissenwerden zwischen Sinnlichkeit und sentimentaler Romantik, genährt durch Lektüre à la V icky Baum und Jack London. Karela

1 N r. 5, Mai 1988, Jg. 32, S. 7-46.

Wolfgang Gesemann

flucht unflätig über ihren ungebärdigen Rock, ein Verhalten, das den Ich-Helden erstaunt.

(3) Entkleidungszene schreitet fort, Karela offenbart Begeisterung über Christo Botevs L yrik, was der Ich-Held eher ironisch ad notam nimmt.

(4) Fortschreiten der Identifikation des Ich-Helden m it Figuren meist englischer modischer Autoren. Karela bekennt, sie wisse nicht, ob sie Serbin, Slowenin, Österreicherin oder Ungarin sei.

(5) Der Ich-H eld setzt Karela am Hotelstrand ab und erhält einen Kuß. Dann tro llt er sich davon.

(6) Vergeblich wartet er den folgenden Tag auf Karela am Strand, wo er u.a. den deutschen Konsul m it Fam ilie beobachtet.

(7) Er fragt die Gruppe der im Hotelrestaurant speisenden Sommerschul- teilnehmer nach Karelas Verbleib und erntet Lachen. In der Stadt überholt ihn das Auto eines ortsansässigen Industriellen, aus dem ihm Karela zuw inkt. In ohnmächtiger W ut treibt es den Ich-Helden zur V illa des Industriellen, wo er im Dunkel des Gartens versteckt dessen mondäne Ehefrau, Kind, Dienstmädchen und Katze beobachtet. Er w ill die Frau aus Rache am Industriellen vergewaltigen.

Da fährt das Auto des Industriellen vor und treibt ihn in die Flucht.

(8) Entwicklung zum jugendlichen Strolch nach Heimkehr des Ich-Helden. Er w ill aus Vaters Kasse Geld entwenden. Der invalide schmerzgeplagte Vater, In- haber eines Kiosks, schickt den Sohn zur Ladenaufsicht, der aber dort aus Über- müdung einschläft. Vom Vater geweckt, macht er sich davon und erblickt Karela am Arm des stadtbekannten prim itiven Raufbolds m it Vornamen Bäbi, der den Ich-Helden früher verschiedentlich gehänselt und bedroht hatte.

(9) Er fo lg t den beiden, wünscht sich den Industriellen als Rächer herbei, der tat- sächlich auftaucht und das Pärchen ebenfalls beobachtet, im Gegensatz zum Ich- Helden feixend. Das Pärchen betritt das Hafenbordell "V ikto ria ". Der Ich-H eld schleicht sich dort ein und beobachtet das Pärchen durch ein Guckloch.

(10) Bei Beobachtung des Geschlechtsakts treten dem Ich-Helden Tränen in die Augen; er läuft in den schmuddeligen T e il des Hafens davon. M alerisch anti- ästhetische Beschreibung des Hafens. Zw ei trübe Gestalten treten auf, braten Fische, beäugeln den Ich-Helden - der kurzarmig-beinige calibanisch wirkende ist eine Frau m it dem Spitznamen eines damals bekannten bulgarischen Athleten

"Dan K olov". Der Ich-Held streift umher, tr ifft u.a. einen später berühmten Maler, gerät bei weiterer Hafenexploration auf ein norwegisches Frachtschiff. Er hat die Gelegenheit, als blinder Passagier inm itten von Ratten die Heimat zu verlassen. Er widersteht dieser Versuchung, nicht zuletzt in Gedanken an Karela, springt ins Wasser, schwimmt zum Quai.

(11) Naß, vor Kälte zitternd, verkriecht er sich nachts in Lagerfeuemähe ins Z elt der zwei Unbehausten. "Dan K olov" schleicht herbei, wärmt und beglückt ihn als Schwester und Geliebte.

(12) In selbiger Nacht (14.9.1938) dringt der Ich-Held zum Bahnhof vor, um von Karela und ihrer Gruppe Abschied zu nehmen. Sie küßt ihn. "Dan K olov" fä llt

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Bons Aprilovs Weites In-See-Stechen.

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ihm ein und erregt seinen W iderw illen. Der Zug setzt sich m it ihm in Bewegung;

an der nächsten, dreißig Kilom eter entfernten Station, verläßt er, verliebt in Karela, den Zug.

(13) Hungrig gelangt er in einen Weingarten, stiehlt Trauben, w ird von Männern gestellt, erhält eine Ohrfeige, schlägt zurück und w ird unbarmherzig verprügelt.

(14) Zerschunden heimgekehrt, fleht er die Eltern an, nicht in ihn zu dringen und ihn nicht zu bestrafen.

(15) Das Meer schäumt, der Ich-Held, übernächtigt und abgeschlagen, w ill sein Kanu am Strand der Gefahr entziehen. Wächter durchsuchen Strandbaracken nach Flüchtigen. Bäbi taucht auf, flie h t, von zwei Männern m it Messern verfolgt.

Bäbi steigt ins Meer, die Verfolger ergreifen Steine, um Bäbi zu lynchen. Er be- mächdgt sich des Ruders des Ich-Helden als Schutzschild und W affe, ergreift den Ich-Helden und hält ihn als Geisel vor sich, der Steinigung zu entgehen.

Polizisten fuhren jemanden ab, Bäbi tritt in Dialog m it ihnen, die ihn beim Nach- namen nennen. Die Verfolger Bäbis ziehen ab, drohen jedoch Bäbi, ihn aufgrund seines ihnen nun bekanntgewordenen Namens gelegentlich aufzustöbem und dann umzubringen. Der Ich-Held bleibt allein zurück, geht heim in Erwartung des anhebenden ersten Schultags nach den Sommerferien.

Sogleich ins Auge springende Züge der Erzählung sind die unverhüllten Schilderungen von Sexualität, sind die Vorführung von Grobheit, Atrozität, Violenz, Prügeleien, was sich auch auf die lexikalisch-stilistische Ebene er- streckt. Die Vorführung pubertär schwärmerischer Haltung des Ich-Helden ak- zentuiert diese Züge noch. Dem korrespondiert die Selbstdarstellung des Helden, der sich nicht als moralisches V orbild, sondern als Opfer seiner Irrungen und W immgen, seiner ungefestigten Adoleszenz, Labilität, Ungereiftheit offenbart.

Es ist ungeschriebenes Gesetz, daß Ich-Erzähler alles andere als makellose Hel- den abgeben. Wäre dem anders, wäre eine derartige Lektüre fü r den Leser eine Zumutung an empfundener Verlogenheit, es sei denn, der abstrakte Autor ironi- siere oder parodiere absichtsvoll einen eitlen Verfasser. So stellt denn auch der in Ich-Form berichtende Held des Schelmenromans kein tugendhaftes V orbild dar.

Dennoch pflegt sich der Leser m it dem Ich-Erzähler zu identifizieren, dessen Fehler, Niederlagen, Schrammen und Blessuren als das eigene Schicksal erlebt werden, um sich dann endlich an dessen Überleben zu erfreuen.

Der jugendliche Held, dem die erotische Erfahrung m it dem weiblichen Ge- schlecht noch abgeht und der den Liebesakt nur aus der Schlüssellochperspektive kennt, w irbt um das Mädchen Karela. Sein Werben führt ihn innerlich wie äußerlich in K onflikte, in denen sich seine eigene Ungereiftheit w ie auch die Sperrigkeit des realen Lebens spiegeln. Er muß erfahren, daß seine Angebetete dringlichen Kavalieren gegenüber sofort und zu allem bereit ist und sich m itunter ordinär benimmt. Er muß auch erfahren, daß es im Leben desto rauher zugeht, je unbekümmert vitaler man selbst in es hineinstürmt. Ob und wie er

Wolfgang Gesemann

diese Erfahrungen fü r sich und seine Entwicklung nutzt, bleibt ungesagt, ist aber fü r die Erzählung und ihren Sinngehalt nicht mehr vonnöten.

Zwischen dem Ich-Helden und Karela besteht eine auffallende Äquivalenz, die sich als Parameter darstellen ließe. Diese Äquivalenz ist einesteils durch Pa- ra lle litä t gekennzeichnet, andemteils antipodisch angelegt. Beide Figuren agieren passiv und lassen Verschiedenes m it sich geschehen. So ist der Ich-H eld trotz pubertärem Filmheldgebaren ein Leidender; er w ird durch Bäbi verprügelt, sinnt zwar auf Rache, fuhrt sie aber aus Handlungsohnmacht nicht aus; Karela läßt es m it sich geschehen,daß die Männer sie gebrauchen. Antipodisch verhalten sich die beiden, wenn man deren Verhalten als Gegensatz von Auto- und Hetero- dynamik einordnet. Der Ich-Held ist nämlich auch unternehmend; er w irb t um Karela, lädt sie zur Kanufahrt ein, versorgt sie m it Proviant, verschafft sich Geld aus Vaters Portemonnaie, trifft Anstalten zur Flucht auf einem fremdem Schiff, schleicht in den Garten des Industriellen, um Rache zu nehmen, schlägt sich müde und hungrig nachts eine Eisenbahnstation lang nach Hause durch, schlägt zurück, als man ihn prügelt, sucht sein Boot zu retten usw. Er verhält sich darin autodynamisch.

Karela hingegen w irbt nicht aktiv um die Männer, die allesamt den F lirt m it ih r von sich aus beginnen. Der eine, der Industrielle, verschafft ih r luxuriöse Stunden, der zweite, Bäbi, dem sie sich nahezu masochistisch hingibt, verschafft ih r nur rohen Sinnesgenuß, der dritte, der Ich-Held, verwöhnt sie m it platonisch schwärmerischer Liebe. Es liegt offensichtlich an Karelas heterodynamischem Verhalten, das die Männer zur A ktion veranlaßt. Niemand zwang sie, sich zur Kanufahrt zu entschließen, der Einladung des Industriellen zu folgen, den brutalen Avancen Bäbis nachzugeben. N ur in einem Punkt verhält sich auch der Ich-Held heterodynamisch, nämlich bei der Annäherung "Dan K olovs", der sowohl m itleidigen wie auf den unerfahrenen Jüngling lüsternen Hafen- prostituierten. Denn zur Liebe gehören zwei, und der Ich-Held, obwohl er- bärm lich frierend, hätte sich der Umarmung "Dan Kolovs" m it ihren großen Brüsten immerhin entziehen oder Potenzversagen heucheln können. Die ent- sprechende Stelle liest sich so:

Ich verstand auch dieses Rätsel nicht - wie die Magie, durch welche die Hafendime Dan Kolov es auf eine für sie unzulässige zarte Weise erreicht hatte, mich aus einem Schüler in einen Riesen verwandelte. Wenn ich an den V orfall denke, verstehe ich jetzt schon - ich hatte gesehen und gelitten und verstehe - in jener fiebrigen Stunde hatte sich die Prosti- tuierte zwischen den dreckigen Decken in eine stille Mutter, Schwester und Geliebte ver- wandelt. Aber auch sie selbst hatte mir die taubenhafte Zärtlichkeit des Jünglings ent- wunden. (S. 38)

Dann fä llt dem Ich-Helden seine durchnäßte, zum Trocknen aufgehängte Hose

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Dan Kolov richtete sich auf und kroch nackt unter die Sterne hinaus. Als sie zurückgekehrt war, richtete sie sich über m ir auf und reichte sie (seil, die Hose, W .G.) mir. Ihre Brüste schlugen m ir schwer übers Gesicht. Sie rochen nach vergammelter unreiner Haut. Die Hose erwies sich als trocken, warm. (S.39)

Der Ich-Held unterliegt dem Einfluß pseudoromantischer Unterhaltungslektüre (V icky Baum, Jack London, Remarque u.a.), träumt sich als Kavalier und Held, die Karela als seine Prinzessin. Aber die kurze Schilderung seiner Vereinigung m it "Dan K olov" in dem schmuddeligen, aber ungebunden freiheitlichen Ambiente der Nachtseite des Hafens ist von lyrischer Romantik e rfü llt, ein bewußt gehandhabter m otivischer Gegensatz. Auch auf der Mikrotextebene wiederholt sich, wie gesehen, das antipodische Prinzip: "Dan K olov" unter Sternen versus übelriechende Brüste. Dieser Barbarismus w ird sogleich aufge- hoben durch die versöhnliche Erwähnung der von "Dan K olov" fürsorglich ge- trockneten Hose, die der bizarren Situation einen sanften Akkord beifügt.

Dieses konstitutive Prinzip der Mischung oxymoronhafter M otive durch- zieht die ganze Erzählung. Jenes aggressive, das Reine und Schöne konter- karierende Moment w ird dabei als das markierende empfunden. Die anziehende Karela hat plumpe Waden, flucht mitunter. A u f sprachlich-stilistischer Ebene be- gegnet eine Semantik und Lexik, die sich in der von dem Ich-Helden favorisierten à la V icky Baum nicht fmdet: "Präservative", "Pissoir" (S. 28), "plumpe Hintere",

"Hängebrüste" (S. 30). Über die pubertierenden Voyeurs im Bordell heißt es:

"V iele Schüler tragen ih r Geld in dieses Hotel und empfangen jene sublimen M o- mente, die sie qualitativer und schöner erhielten, wenn sie sich m it sich selbst auf der Toilette absonderten." (S. 30). Lexik und Semantik sind hart, grob, unsenti- mental, ironisch-sarkastisch, ätzend, herausfordernd, gleichzeitig aber locker, spöttisch distanziert.

Zu erwähnen ist der S til der gehandhabten Mimesis. Das Sujet w ird insge- samt realistisch erzählt, aber dieser Realismus hat zugleich Züge expressiver

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Uberzogenheit. Karelas zeitlich auf zwei Tage zusammengedrängte sexuelle Abenteuer m it zwei Männern, davon eines in einem Bordell, das M ordkom plott gegen Bäbi in Gegenwart der Hafenpolizei, sind Beispiele fü r eine rigorose Handhabung von Realität, die bei näherer Betrachtung eine gewisse Outrierung erkennen lassen und den herkömmlichen mimetischen Charakter des realistischen W ahrscheinlichkeitsprinzips m itunter und wohl absichtsvoll belasten. Man dürfte nicht fehlgehen in der Annahme, daß es sich um ein bewußt geübtes Stilverfahren handelt, das m it Vorsicht als eine A rt spielerisch neoexpressionistischer Post- moderne bezeichnet werden kann.

Diese Schreibmethode, der Jeans-Prosa (Aleksandar Fiaker) in etwa ent- sprechend, bedient sich der "K ollisionsfigur" des "infantilen Helden"2, wie sie Anfang der 70er Jahre in Bulgarien literarisch begegnete. M it einem Unterschied:

Boris Aprilovs Weites In-See-Stechen.

2 Vgl. Dobri Witschews Einleitung zur Literatur Bulgariens 1944 bis 1980, Berlin 1981, S. 55.

Damals war der infantile "nichtangepaßte" Held3 als m arkierter Gegensatz zum Angepaßten, zum Opportunisten konzipiert und reklamierte entsprechend eine ge- sellschaftspolitische M ission. Er war ex negatione eine Abart des sozialistischen positiven Helden von ehedem, auch wenn er naiv, ungebärdig, noch unintegriert, rebellisch im Stande jugendlicher Unschuld agierte. Daß solche Figuren nicht selten von der damaligen offizie lle n Literaturkritik als zu individualistisch, bloß protestlerisch und sozial desintegrierend gebrandmarkt wurden, steht hier nicht zur Debatte. Im Falle des Ich-Helden der Erzählung A prilovs verhält es sich anders. Zwar fugt auch er sich nicht den gesellschaftlich akzeptierten Normen, wie sie Elternhaus und Schule repräsentieren, aber eine gewollte oder ungewollte Bloßstellung jener Normen w ird keineswegs vollzogen, im Gegenteil:

Geldentwenden aus Vaters Portemonnaie, Bordellbesuch, Sich-Herumtreiben unter Stadtstreichem im Hafen, Kokettieren m it der Flucht als blinder Passagier, ohne überhaupt verfolgt zu sein, ist das Verhalten eines jugendlichen Strolchs.

Dessen einzige Rechtfertigung wäre lediglich in der M öglichkeit zu suchen, daß adoleszentes Über-die-Stränge-Schlagen zur späteren Reifung fuhren könnte.

Irgendein "sozialer Auftrag” ist nicht zu erkennen.

Gerade dieses Fehlen einer sozialen M ission eines Ich-Helden - und schon die W ahl eines solchen schließt dessen Heroisierung gattungsmäßig aus - ist be- sonders auffallend. Die Verhältnisse im bourgeoisen Vorkriegsbulgarien werden weder direkt noch indirekt angeprangert, wie es die Schilderung jener Epoche im Sozialistischen Realismus nahegelegt hätte. Gelegenheit zu solcher K ritik hätte z.B. der Industrielle samt Hausstand geboten, dessen Frau der Ich-Held, Böses im Sinn, in deren Garten auflauert. A u f seinen Stadtzügen kehrt der Ich-Held kurz bei seinem originellen Onkel, einem Bäcker, ein. Zwischen beiden entspinnt sich folgendes Gespräch. Der Onkel:

- Was glaubst du, wird er seinen Meister finden?

So plauderte mein Onkel. Und er verursachte mich zu sagen:

-W e r?

- Der Francosche.

Er sagte nicht Franco, er sagte der Francosche.

Aber ich schwieg, nichts wußte ich.

- Was glaubst du, der Mussolini, wird er sich m it Ihm streiten?

Dunkel kam ich darauf, daß sich hinter Ihm H itler verbarg, ich antwortete:

- Schwierige Frage.

- Wer weiß - lachte m it den Augen mein Onkel, 0, wie lachte er allein m it diesen seinen schönen, ungläubigen Augen, er zweifelte m it ihnen, versprach, leugnete - alles machte er m it seinen Augen. (S. 20)

Das Gespräch endet ohne weitere Stellungnahme; sein Thema, die P olitik, hat keinen Eigenwert, sondern dient nur der Kontaktfortsetzung beider Dialog- partner. Angesichts der hohen Okkurrenz-Entropie von Namen wie *H itle r’ oder

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Wolfgang Gesemann

3 Ebda., S. 56.

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Boris Aprilovs Weites InSeeStechen.

’M ussolini’ , die beide im vorliegenden Text tatsächlich nur einmal begegnen, muß der Leser sie aufgrund ihrer transtextuellen Assoziationsträchtigkeit ent- sprechend registrieren und nach ihrer Funktionalität befragen. A u f dem H inter- grund eines dogmatischen wie auch eines liberaleren Sozialistischen Realismus kann die Erzählung nur als apolitisch eingestuft werden. Und der Schritt vom Fehlen politischer Deklaration hin zur Verdächtigung politischer Reaktion des Autors nach dem M otto ’W er nicht fü r mich ist, ist gegen m ich’ wäre etwa in den 50er Jahren im Falle des vorliegenden Textes obligatorisch erhoben worden.

Es läßt sich aber nicht behaupten, daß die Erzählung m oralisch neutral oder gar antim oralisch wäre. Zwar fehlt ein expliziter moralischer Zeigefinger, aber der Ich-Erzähler macht spürbar, daß er aus seiner zeitlichen und perspektivischen Distanz zu indirekt wertendem Kommentieren fähig ist. Allerdings ist diese per se kommentierende Distanz des seine Jugend beleuchtenden gealterten auktoria- len Ichs moralisch doppelpolig. Zum einen w ird das jugendliche Ich in seinem Fehlverhalten entblößt, zum ändern w ird die Um welt des Helden nicht g lo rifi- ziert. Sie ist nicht V orbild, sondern Prüfung; die von ih r ausgehende Botschaft erschöpft sich im subjektiven Appell an den Ich-Helden, sich im Leben durch- zubeißen und seine eigene Identität aufzubauen. Ob der Held die Botschaft reali- siert, kann und darf offenbleiben.

Es mag verwundern, daß diese Erzählung im Geltungsbereich des bei Ver- öffentlichung noch gültigen Sozialistischen Realismus erscheinen konnte, wo doch kein noch so geringes Entgegenkommen zu erkennen ist. Das g ilt nicht nur in Bezug auf fehlendes gesellschaftliches Engagement, sondern auch auf Lexik und Semantik, denn die unverblümt sexuellen Lexeme galten, jedenfalls fü r den orthodoxen Sozialistischen Realismus, als tabu. Nun zählt der vorliegende Text nicht als spektakulärer Bruch m it der offizie lle n Norm. Das lie g t daran, daß die orthodoxen Normen im kulturellen Sektor einer lange anhaltenden schleichenden Erosion ausgesetzt waren. Daher w arf die Erzählung fü r Redaktion und Zensur kein unüberwindliches Problem auf. Daß sie gewissen Kürzungen ausgesetzt wurde, mag kulturpolitische Gründe gehabt haben oder auch nicht, eventuell platzsparende und / oder ästhetische, aber der Text steht, w ie er ist, fü r sich selbst.

Was die Rezeptionskomponente b e trifft, bedarf diese ebenfalls der Be- achtung. Leserpsychologisch und -soziologisch bietet die Erzählung besonders der jüngeren Generation Identifikationsangebote. Da w ird eine vorsozialistische, nostalgisch erlebte Vorkriegszeit inszeniert, die individuelles Abenteuer, Ab- Wesenheit von ideologischer Gängelei, streunerische Neigungen, sexuelle Er- regungen, den Hauch von Freiheit und Liberalität, Luxus (Autos und V illa des Industriellen) vorstellbar machen. Aber es bleibt nicht bei bloßer Unterhaltung.

Der Abstand des gealterten Ich-Erzählers zu sich selbst schafft auch dem Leser kritische Distanz und Spielraum kognitiver A rt. Der Thymos, die Freiheit und deren Begrenzung durch die Bedürftigkeit des Wesens Mensch werden durch das

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Wolfgang Gesemann

Sujet fü r den Leser miterlebbar und eröffnen Lebensräume, die in einer ideo-

Sujet fü r den Leser miterlebbar und eröffnen Lebensräume, die in einer ideo-