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DIE EUROPÄISCHE KUNST AM BEGINN DES 20. JAHRHUNDERTS

France Bem ik (Ljubljana)

Für die europäische Kunst am Beginn des 20. Jahrhunderts wäre, versteht man sie als Summe der literarischen, musikalischen und bildenden Künste, ein univer- seller Kenner aller Künste und Kunstrichtungen vonnöten. Der A utor der Ab- handlung ist kein solcher. Demnach war und ist eine erschöpfende Schilderung der Literatur, M usik, M alerei und Bildhauerei im Zeitraum von 1900 bis 1930 nicht seine Absicht. Im Rahmen seiner Nachforschungen zur Literatur der slo- wenischen Moderne im europäischen Kontext war jedoch der A utor nicht selten dazu gezwungen, diese auf verwandte Künste auszudehnen, und bei aller W ert- Schätzung gegenüber anderen Bereichen, vorwiegend Kunst- und Musikge- schichte, verglich er die Leistungen dieser Künste m it jenen in der Literatur. Da- bei stieß er immer wieder auf eine allgemeine Idee, die sich als Konstante in um- fassenderen Werken zur europäischen Kunst ebenso w ie in einzelnen themati- sehen Abhandlungen fmden läßt, wonach die Künste am Beginn unseres Jahr- hunderts Entwicklungsparallelen, ja sogar Übereinstimmungen aufweisen, daß die Repräsentanten verschiedener Künste die gleichen Ziele verfolgten und somit von der Einheit aller Künste überzeugt waren. Dieser nur angedeuteten und nicht überprüften Idee kann man im vorhinein ihre G ültigkeit nicht absprechen. Je län- ger man darüber nachdenkt, um so mehr scheint es, daß sie fü r eine tiefere Be- leuchtung der inneren Dimensionen des künstlerischen Schaffens am Beginn die- ses Jahrhunderts produktiv sein könnte.

Das charakteristische Merkmal der europäischen Kunst am Beginn des 20.

Jahrhunderts sind die ungewöhnlich schnellen Wechsel der Stile und ästhetischen Strömungen, die rascher vor sich gingen als je zuvor in der Kunstgeschichte.

A lle in in der Literatur rangen zu dieser Z eit mehrere ästhetische Strömungen um die Vorherrschaft, vom Impressionismus und der neuen Romantik bis zum Symbolismus, vom Expressionismus bis zum Dadaismus, Futurismus und Surrealismus, wenn man den klassischen Realismus dabei außer acht läßt, der in verschiedenen, zum T eil beträchtlich m odifizierten Erscheinungsformen fortlebte.

Angesichts innovativer Strömungen vernachlässigt man gewöhnlich das traditionelle Kunstschaffen, das immer seinen T eil zur Gesamtheit des Kunstgeschehens einer Epoche beiträgt. Dem Thema entsprechend stehen die neuen Kunststile vordringlich im M ittelpunkt der vorliegenden Überlegungen, wobei festgestellt werden kann, daß die innovativen bzw. experimentellen Strömungen in der Literatur ihren Anfang bereits im 19. Jahrhundert genommen hatten, in ihrer radikalen Form traten sie allerdings erst nach 1900 in Erscheinung. In jedem Falle bietet der stilistische Pluralismus in der Literatur ein

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derart vielschichtiges, zersplittertes B ild der europäischen Geistesgeschichte in den Jahren 1900 bis 1930 - ein ähnliches B ild findet man in den bildenden Künsten und in der M usik - , daß ein Vergleich m it der Vergangenheit unmöglich erscheint, als zwei oder drei zentrale Persönlichkeiten beziehungsweise ihre einzigartigen Schöpfungen eine weitaus längere stilistische Epoche in der Kunst kennzeichneten - im M ittelalter beispielsweise Dantes La Divina Commedia oder die Kathedrale von Chartres, in der Rennaissance die Dramen von Shakespeare, Michelangelos Jüngstes Gericht in der Sixtinischen Kapelle oder die profanen, d.h. nicht-religiösen, Kompositionen von Orlando di Lasso.

Die gewaltige Umbruchstimmung am Beginn unseres Jahrhunderts läßt sich m it den herausragendsten Epochen der westlichen Z ivilisation vergleichen, denn Europa verabschiedete sich diesmal nicht nur vom 19. Jahrhundert, sondern von einem w eit längeren Zeitraum seiner Geschichte. Einen beträchtlichen A nteil zu diesem außergewöhnlichen Umbruch trugen die Geistes-, Sozial- und Natur- Wissenschaften bei (Henri Bergson, Karl Jaspers, Sigmund Freud, K arl Marx, Max Planck, Albert Einstein, Werner Heisenberg und andere). Am radikalsten negiert wurde die alte Weltanschauung von Friedrich Nietzsche, dem Philoso- phen des Nihilism us. Seine Ansichten helfen uns nicht allein bei der anthropolo- gischen Auslegung der Literatur, in mancher H insicht beleuchten sie auch andere Künste in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Und obwohl der deutsche Dichter und Denker im Jahr 1900 starb, nahm der tatsächliche und besonders in- tensive Einfluß seiner Philosophie auf das geistige Europa erst in diesem Jahr- hundert seinen Anfang.

Nietzsche brachte die beiden Grundlagen, auf denen das Wertsystem der westlichen W elt ruhte und noch größtenteils ruht, die Antike und das Christen- tum, ins Wanken. Im Gegensatz zum damaligen Verständnis der Antike als Zeit- alter des menschlichen Verstandes, des Maßvollen, der Klarsicht und der Heiter- keit entdeckte er darin Fülle, Maßlosigkeit, Rausch und Zügellosigkeit. Er ent- hüllte die tragische und orgiastische Triebkraft des alten Griechentums, personi- fiz ie rt in Dionysos, setzt sie an die Stelle des christlichen Gottes, dem er unwi- dem iflich entsagt hatte. Dieses Verständnis der Antike holte Nietzsche aus der Kunst, aus der griechischen Tragödie, in der es kein w irklich schönes Äußeres ohne widersprüchliche, furchterregende Abgründe gibt. Diese aus der griechi- sehen Kunst gewonnene Erkenntnis übertrug er auf das Verständnis des Men- sehen und der Geschichte, und die Geschichte überzeugte ihn immer wieder da- von, daß unter der Oberfläche jeder Z ivilisation die zerstörerischen Kräfte des Chaos auf ihren Ausbruch lauem. Seiner Ansicht nach hatte je tzt der radikale Prozeß begonnen, der Zerfall aller moralischen Systeme und aller Weltanschau- ungen, und dieser Prozeß würde sich fortsetzen, bis nichts mehr übrig bliebe.

Dieses Nichts, dieser Nihilism us, wäre die erste Voraussetzung fü r die be- dingungslose Bestätigung des Lebens in a ll seinen Dimensionen, jenseits von Sinn und Ziel, jenseits von Gut und Böse. Darin liegt auch Nietzsches antichrist- liche Haltung begründet, in der Einsicht, daß der Glaube als moralische Lehre,

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Die europäische Kunst am Beginn des 20. Jahrhunderts

als erlösendes Dogma und als irdische Institution seine Macht über die Menschen verliert und der Selbstauflösung, der inneren Atrophie, anheim fällt. Trotz Nietzsche traten hochanerkannte christliche Schriftsteller und Denker in Erschei- nung, denen die Fragwürdigkeit der religiösen Überlieferung nicht fremd war, die diese jedoch überwinden konnten und ein modernes religiöses Verständnis schu- fen (M iguel de Unamuno, Paul Claudel, N ikołaj Berdjaev, François Mauriac, Georges Bernanos, Thomas Stearns E liot, Graham Greene).

In direktem Zusammenhang m it dem philosophischen Nihilism us steht - be- rücksichtigt man weiterhin Nietzsches Einfluß auf die Kunst am Beginn des Jahrhunderts - die Einsamkeit des Subjekts. Eine Einsamkeit, die sich nicht m it dem traditionellen Gegensatz zwischen Künstler und Gesellschaft und noch we- niger als etwas Selbstverständliches erklären läßt. Die Einsamkeit des Subjekts Anfang des 20. Jahrhunderts ist nämlich engstens m it den Bemühungen desselben nach vollkommener Autonomie verknüpft. Und der Prozeß, der das Subjekt von allen übergeordneten Instanzen und Bedingungen befreien sollte, kam letztlich hier, in grenzenloser innerer Freiheit, zum Stillstand. Ein Subjekt aber, das kei- nerlei Bindungen anerkennt und in seinem Innersten keinen Im perativ birgt, sich keine Fragen zu dem höheren, überpersönlichen Sinn seiner Bemühungen stellt, stößt am Ende auf Schweigen. Das Schweigen der Einsamkeit fre ilich ist ver- hängnisvoller als die Entfremdung oder die Ausstoßung aus der menschlichen Gemeinschaft. Dies g ilt besonders fü r den Künstler, der in einer undurchschauba- ren und sinnlosen W elt die Frage nach der Kommunikation stellt. Die Kommu- nikation nämlich w ird von diesem Zeitpunkt an erschwert, sofern sie nicht gänz- lieh unterbrochen wurde, schließlich fehlen wohl die Berührungspunkte fü r eine w irkliche Verständigung zwischen Sender und Empfänger. Und da es keine ge- meinsame Sprache gibt, erzählt der Künstler, w ill er dem Schweigen entrinnen, vor allem von der Unmöglichkeit eines richtigen Dialogs, einem Phänomen, das das Gespräch miteinander in ein Nebeneinanderherreden, ein Aneinander-Vorbei- reden verwandelt und völlige Zusammenhanglosigkeit entstehen läßt, was charak- teristisch fü r die expressionistische Dramatik der zwanziger Jahre ist (vgl. das Drama Nebeneinander von Georg Kaiser, 1923, sowie die Dramen Die Verbre- eher, 1928, und Elisabeth von England, 1930, von Ferdinand Bruckner). In An- betracht der Tatsache, daß keine fest verankerte, unzweifelhafte W ahrheit er- reichbar ist, ist das Subjekt nicht bloß einsam, sondern auch ziel- und orien- tierungslos. In Kafkas Romanen w ird eine solche W elt beschrieben, wo z.B. eine Aussage die darauffolgende entwertet, eine Erklärung der vorhergehenden wider- spricht und alles Gesagte fragwürdig, in Zw eifel gezogen oder wesentlich ver- ändert w ird. H ilflos steht der Held vor einem unübersehbaren Komplex an Mög- lichkeiten, Vorschriften, Regeln und Zuständigkeiten, vor unzähligen Instanzen ohne die letzte Instanz.

Für die moderne Kunst veränderte sich die Totalität der W elt - nach Hei- degger die Totalität des Seienden - von einer begreiflichen Einheit in ein mehr- dimensionales Mosaik, sie zersplitterte in zahllose Teile und Bruchstücke, die

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lediglich von individuellen Standpunkten betrachtet wahrnehmbar sind. Dieser Umstand erforderte von der Kunst neue Themen, einen neuen ästhetischen Aus- druck. Eben die Tatsache, daß es keine W elt mehr gibt, die Künstler und Leser miteinander teilen könnten, zwingt den Künstler zur Darstellung eines einzelnen Ausschnitts, eines Segments der W irklichkeit, und zwar aus einem engeren zu- nehmend subjektiven B lickw inkel. Diese allgemeine Tendenz in der Literatur, genannt Perspektivismus, läßt sich nur auf diese Weise erklären. Beweis dafür sind zahlreiche Tagebücher, die große Beliebtheit autobiographischer Prosa und die Ich-Romane jener Zeit. Die W irklichkeit offenbart sich in Fragmenten, in kom plizierten Verbindungen, die Perspektiven ergänzen sich einander, sind ver- flochten und widersprüchlich. Eine neue, stark differenzierte, nicht naive und betont reflektierte A rt des Schreibens ist im Entstehen, ein S til, der gleichsam m it der Erzählung den Prozeß des Schreibens beschreibt, das Erzählte kommentiert und die Kommentare ebenfalls, ein M odell des Schreibens, das charakteristisch ist fü r Thomas Mann, André Gide, Robert M usil, zum T e il auch fü r Ivan Cankar, den slowenischen symbolistischen Schriftsteller. A u f dem Perspektivismus grün- det auch der Romanzyklus von Marcel Proust A la recherche du temps perdu (1913-1927), dessen Helden durch ein riesiges und dichtes Netz von Bezie- hungen miteinander verwoben sind. In ihrer W elt gibt es nichts, das zuverlässig wäre, unzweideutig, unveränderlich, m it sich selbst im Einklang stehend. Alles wandelt sich entsprechend dem B lickw inkel und Leben der Protagonisten, und diese verändern sich bis zur Unkenntlichkeit. Trotzdem ist der gesamte Roman- zyklus kein Chaos zahlloser Einzelheiten. Weder löst die W elt sich in grenzen- losen Perspektiven auf, noch versinkt sie im unwiederbringlichen Fluß der Zeit, es ist das Bewußtsein des Fiktiven, das sie zusammenhält. Das Bewußtsein des Erzählers, der die flüchtigen Augenblicke einfängt, die verlorene Z eit durch die Erinnerung festhält. Die Realität existiert demnach nur im individuellen Bewußt- sein, als Inhalt dieses Bewußtseins, darum ist sie weder vergangen noch gegen- wärtig, sie befindet sich rundweg außerhalb der Zeit, sie ist überzeitlich.

Das Gesagte tr ifft ebenso, wenn nicht noch mehr, auf die Poesie der frühe- sten Bewunderer von Proust, Rainer Maria R ilke, sowie auf andere D ichter der Moderne zu. Die W irklichkeit in seinen Versen besteht - nach Nietzsche gesagt - allein als ästhetisches Phänomen. Dem Künstler blieb nichts als sein Ich bezie- hungsweise sein kreatives Schaffen. Die Kunst wurde sich selbst zum Gegen- stand. Am beharrlichsten wurde dieses M odell der Poesie vielleicht von Paul Valéry verw irklicht, das M odell einer hermetischen, streng in sich gekehrten, so- genannten reinen Poesie. Für Valéry ist Poesie weder Beschreibung der W irk- lichkeit noch Wiedergabe von Gefühlen und Stimmungen oder M itteilung, son- dem ein sublimes, selbstgenügsames Spiel des Geistes. Ein Spiel, das auf dem empfindlichen Verhältnis - nicht Gleichgewicht - zwischen der emotionalen und geistigen Energie der Sprache ruht. W ie Valéry gingen auch andere D ichter die- ser Zeit, Z .B . G ottfried Benn, Giuseppe Ungaretti oder Eugenio Montale, m ittel- bar von Nietzsches N ihilism us aus. Aus dem Nichts schufen sie eine neue W elt 26

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von W orten und Bedeutungen, eine neue ästhetische W irklichkeit. N icht uner- wähnt bleiben darf, daß der deutsche Expressionismus zwar die sprachliche Ma- gie der französischen Modemisten übernahm, inhaltlich jedoch eine ausgespro- chene Sozialrevolutionäre und gesellschaftskritische Komponente entwickelte (Georg Kaiser, Emst Toller, K arl Stemheim). In der slowenischen expressionisti- sehen und konstruktivistischen Poesie trug Srećko Kosovel entscheidend zum Durchbruch der sozialen und sozialkritischen Idee bei.

Ä hnlichkeit m it dem Widerstand gegen die Tradition in der Literatur weisen die bildnerischen Künste auf. Die Anfänge dieser Revolte reichen bis in das 19.

Jahrhundert zurück, je tzt aber kam es zur Stärkung, ja geradezu Steigerung.

Während die neue Literatur der Jahrhundertwende dem Realismus entsagte, ver- warfen M alerei und Bildhauerei das mimetische Prinzip des Schaffens, indem sie der bloßen Nachahmung der Natur die zentralen Elemente der bildenden Sprache entrissen und ihnen eine autonome Stellung übertrugen, sie selbständig machten.

Die französischen Fauvisten - die berühmtesten Henri Matisse, Georges Braque und Georges Rouault - brachten neben entstellten, flächenmäßig vereinfachten Formen starke, zündende Farben ins Spiel. In direkter Verbindung m it dieser Gruppe von M alern stand eine Bewegung, die die Struktur in den M ittelpunkt der sichtbaren W elt stellte. Die entscheidende Anregung fü r diesen M a lstil kam von Paul Cézanne, die beiden herausragenden Repräsentanten wurden Braque und Pablo Picasso. N icht die Farbe, die strenge Geometrie der Figuren, die von meh- reren Seiten zugleich dargestellt wurden, beschäftigte die französischen Maler, die bis zum ersten W eltkrieg und noch darüber hinaus w eltw eit die stilistischen Veränderungen in den bildenden Künsten diktierten. Ih r Einfluß ist auch in der slowenischen M alerei und Bildhauerei der zwanziger Jahre unübersehbar (Veno Pilon, die Brüder K ra lj). In engem Zusammenhang m it Paris, der Hauptstadt der Kunst in dieser Zeit, sind auch die italienischen Futuristen in dieser Zeit zu ver- stehen, die im Jahr 1909 m it ihrem M anifest in die Ö ffentlichkeit traten, gefolgt von den deutschen Expressionisten, den Gruppen D ie Brücke und D er Blaue Rei- ter. Die Bewegung, an deren Spitze W assili Kandinsky, Franz Marc und Paul Klee standen, entwickelte sich aus dem heftigen W iderstand gegen die bürger- liehe Gesellschaft, gegen die technisierte Z ivilisation und den Krieg. Sie war ge- prägt von S piritualität und R eligiosität und schöpfte ihre Inspirationen aus dem M ittelalter und aus der Kunst der Urvölker. Den Weg aus der Abstraktion, wenngleich der mathematisch und wissenschaftlich begründeten, schlugen vor dem ersten W eltkrieg auch die russischen Konstruktivisten ein, so daß die Ent- w icklung der M alerei und Bildhauerei ähnlich wie in der W ortkunst weg vom mimetischen Realismus hin zur Gegenstandslosigkeit, Abstraktheit tendierte. Die allgemeinen Entwicklungstendenzen in beiden Künsten sind demnach unbestrit- ten, zumal sie von einigen eindeutigen, konkreten Berührungspunkten bestätigt werden. Picasso und Braque beispielsweise malten in ihrer kubistischen Phase Gesichter, die gleichzeitig in zwei Richtungen blicken, oder mehrere Gesichter, aus verschiedenen B lickw inkeln betrachtet. Entspricht dieser Sichtweise nicht

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etwa der Perspektivismus in der Literatur, wenn A. Gide im Roman La porte étroite (1909) die Ereignisse zweimal erzählt, wenn L. Pirandello im Schauspiel Cosi é se vi pare (1918) zwei unvereinbare, wenngleich beide wahrscheinliche Beschreibungen von ein und derselben Situation liefert, oder wenn W . Faulkner im Roman The Sound and the Fury (1929) dieselbe Geschichte, den Untergang einer Fam ilie, vierm al aufrollt. A u f die besondere A ffin itä t, die zu jener Zeit zw i- sehen den beiden Künsten herrschte, läßt letztlich die Tatsache schließen, daß die literarische Bewegung des französischen Surrealismus, an deren Spitze André Breton stand, neben den Wortschaffenden auch M aler um sich sammelte.

Die Entwicklung der europäischen M usik am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ging in den gleichen sozialhistorischen Verhältnissen vor sich, war den gleichen geistigen Strömungen ausgesetzt wie die Literatur und die bildenden Künste. Zugleich war die Entwicklung abhängig von den der M usik immanenten Gesetzmäßigkeiten, was möglicherweise sogar eine größere und stärker zu be- rücksichtigende Komponente darstellt als die Ausdrucksmittel und Gesetze an- derer Künste. Während die Literatur bereits vor und nach der Jahrhundertwende den Realismus ablehnte und die bildende Kunst das Prinzip des mimetischen Schaffens beziehungsweise Nachahmens zurückwies, kam es in der M usik zum Widerstand gegen das romantische 19. Jahrhundert und seine, wenngleich nicht nur seine, Harmonielehre. Claude Debussy - so berichten Musikologen - erteilte der in Praxis und Theorie erprobten Philosophie der Harmonie und Kom position eine Absage. "Es ist der W ind", schrieb er am Beginn des Jahrhunderts häretisch,

"der 1ms die Geschichte der W elt erzählt" (Ordnung in der F reiheit, Revue Blan- che, 1901). Ähnliche Ansichten vertraten Maurice Ravel und die gesamte Kom- ponistengeneration, die vom französischen Impressionismus beeinflußt wurde.

Einen beachtlichen Beitrag zur Befreiung des Klanges leistete Gustav Mahler, der in seine Methode des Komponierens Wechsel und Gegensätze und den Kontrast von Erhabenheit und Banalität in die M usik einfließen ließ. Die größte stilistische F le xib ilitä t aber ist - so die Fachwelt - ein Merkmal von Igor Stra- winsky, dem ersten "w irklichen" Repräsentanten der "neuen M usik"; m it diesem allgemeinem B e g riff werden oft die Generationen jener europäischen Kompo- nisten bezeichnet, die sich der romantischen und postromantischen M usik wider- setzten. In Slowenien waren es M arij Kogoj und Slavko Osterc. Charakteristisch fü r Strawinsky ist, daß er in der D ur-M oll-Tonalität keine Befriedigung fand und auch fü r das atonale Komponieren wenig Enthusiasmus entwickelte. Er begeister- te das Publikum durch ungebundene, geradezu entfesselte Rhythm ik und gewalti- ge Dissonanzen. Die klassische Harmonie brachte Darius M ilhaud m it Disso- nanzen und sinnlichen Klängen zum Einsturz, während sich A rthur Honegger so- wohl der romantischen Tradition als auch der modernen A tonalität durch befreite Dissonanzen und ungezügelte Rhythm ik entgegenstellte. Am weitesten in der Erneuerung der M usik wagte sich - wie der Musikgeschichte zu entnehmen ist - Arnold Schönberg. Der atonale Komponist, Gründer der sogenannten W iener Schule, entwickelte die Zw ölftontechnik, die einerseits die kreative Phase

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gelte und sie andererseits disziplinierte. Ein Beweis, daß Ablehnung der Roman- tik und Postromantik nicht allein die Zerstörung des Althergebrachten zum Z iel hatte, sondern ebenso auf der V erpflichtung dem Neuen gegenüber beruhte.

Schönberg und Alban Berg gelten als M eister der expressionistischen M usik; zu den herausragenden Komponisten der neuen M usik zählen auch Anton Webern und als Gegensatz zur W iener Schule Béla Bartók und Paul Hindem ith. Bezeich- nend fü r letzteren ist - wenn man sie so nennen da rf - die Integrationstendenz, das Bestreben, die stilistische Polarität der neuen M usik zu verbinden und in ih r das Verhältnis zwischen Konsonanzen und Dissonanzen zu ordnen.

Kehrt man zur anfangs gestellten Frage nach der Einheit der Künste am Beginn des Jahrhunderts zurück, so entdeckt man einige Besonderheiten in der M usik, die keinen verbindenden Charakter aufweisen. Dazu zählt zum Beispiel Debussys abweisende Haltung gegenüber dem B e g riff Impressionismus, was in gewissem Maße verblüffend ist, wenn man bedenkt, daß Debussy als großer Pa- trio t einen aus der französischen Kunst bzw. M alerei stammenden B e g riff ab-

Kehrt man zur anfangs gestellten Frage nach der Einheit der Künste am Beginn des Jahrhunderts zurück, so entdeckt man einige Besonderheiten in der M usik, die keinen verbindenden Charakter aufweisen. Dazu zählt zum Beispiel Debussys abweisende Haltung gegenüber dem B e g riff Impressionismus, was in gewissem Maße verblüffend ist, wenn man bedenkt, daß Debussy als großer Pa- trio t einen aus der französischen Kunst bzw. M alerei stammenden B e g riff ab-