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2.3 Auswirkungen der Erkrankung auf das Familienleben

2.3.1 Parentifizierung

Die Grenzen der familiären Subsysteme werden durch die psychische Erkran-kung diffus und das Familiensystem gerät durcheinander. Dabei vermischen sich besonders die Generationsgrenzen. Die Parentifizierung beschreibt eine besondere Form der Generationsgrenzzerstörung. Dabei entsteht eine Rol-lenumkehr, bei der die Kinder Eltern- oder Partnerfunktion ihrer Eltern über-nehmen. Bei einer Mehrzahl der Familien psychisch erkrankter Eltern ist diese Rollenumkehr zu beobachten (Lenz, 2008, S.28 ff.). Mit dieser Verantwortungs-verschiebung sind die Kinder oft überfordert (Mattejat, 2000, S. 72 ff.).

So geraten die eigenen kindlichen Bedürfnisse nicht selten in den Hintergrund, da Zusatzbelastungen wie die Haushaltsführung, Tagesstrukturierung oder Me-dikamenteneinnahme auftreten (Mattejat, 2000, S. 28 ff.; 72 ff.).

Dass Kinder Aufgaben ihrer Eltern übernehmen und eigene Bedürfnisse zu-rückstellen, zeigt auch das von Kühnel und Koller herausgegebene Buch mit kindlichen Zeichnung, bei der ein Kind sagt:

„…ich geh dann halt nicht raus zu meinen Freunden, sondern helf‘ der Mama beim Wohnung aufräumen, weil sie das halt ohne mich nicht schafft.“ (S.5)

Die Kinder werden zu Ratgebern und Vertrauten ihrer Eltern und bilden deren primäre Quelle für Trost und Unterstützung, da der kranke, wie auch der ge-sunde Elternteil den Kindern häufig ihre Bedürftigkeit signalisiert und ihnen Ver-antwortung fürs eigene Wohlbefinden auf bürgt (Lenz, 2008, S.28 ff.).

Des Weiteren werden Kinder nicht selten zu Schiedsrichtern in konfliktreichen Partnerschaften und übernehmen die Rolle eines Friedensstifters. Nach einer elterlichen Trennung sind die Kinder gezwungen, den Verlust mit einem Eltern-teil zu Eltern-teilen und schneller erwachsen zu werden. Es ist möglich, dass Kinder den nicht anwesenden erkrankten Partner ersetzten (Lenz, 2008, S.28 ff.).

Wenn die elterlichen ‚Aufträge‘ unvereinbar und widersprüchlich sind, gerät das Kind in schwer auflösbare Loyalitätskonflikte. Diese entstehen beispielsweise wenn der gesunde Elternteil die Erfüllung der eigenen Lebensträume fordert oder der erkrankte Elternteil einen Versorger oder intimen Gesprächspartner verlangt. Für Kinder ist es unmöglich, diese Rollenzuweisungen zu erfüllen (Lenz, 2008, S.28 ff.).

„Meine Rolle in der Familie war folgendermaßen definiert: Ich fühlte mich für den Zusammenhalt der Familie zuständig, soweit ich mich zurücker-innern kann. Ich war die >>Gesunde<<, die immer Vernünftige, die

Fröh-liche, die >>Erwachsene<<. Ich war Puffer, Auffangnetz und Abfalleimer in einem. Ich hörte mir tage- und nächtelang die Redeergüsse und Selbstvorwürfe der Mutter sowie die Wahnvorstellungen und Ängste der

Schwester an. Ich half im Haushalt mit soviel es ging, und ich war Kon-taktperson zur Außenwelt, da ich viele Freundinnen nach Hause brachte.

Ich richtete meine gesamte Energie auf das >>Für-die-Familie-Dasein<<, das >>Helfen-Wollen<<.“

(S.W., 2000, S.27)

Diese überfordernden Aufgaben der Autorin führten in ihrem Fall u.a. wahr-scheinlich sogar zu einem Schlaganfall mit nur 24 Jahren.

Besonders charakteristisch für Parentifizierungsprozesse ist für die Kinder die Erfahrung, den Erwartungen und Wünschen der Eltern nie genügen zu können.

Dabei nehmen die Kinder nicht selten die Rolle des Sündenbocks ein, der für die familiären Probleme verantwortlich gemacht wird, da es vorkommt, dass ein Elternteil oder beide sich aus Enttäuschung über unerfüllte Wünsche verbünden oder sich aggressiv abwenden. Dabei fühlt sich das betroffene Kind in diesem Beziehungsgefüge ausgestoßen, emotional unterversorgt oder unwichtig (Lenz, 2008, S.28 ff.).

Psychisch erkrankte Eltern äußern ihr Bedürfnis nach oft engen Bindungen zu ihren Kindern durch Einmischungs- und Kontrollverluste sowie durch bedrän-gendes Klammern. Auf diese Verhaltensweisen reagieren besonders ältere Kinder mir Flucht oder Distanzierungs- und Abgrenzungsversuchen. Letztere können eine offene Ablehnung verursachen. Dabei werden Eltern als idiotisch, verrückt oder blöd bezeichnet und die elterliche Erkrankung als Familienmakel gesehen. Ausgelöst wird das aggressive Ablehnungs- und Ausgrenzungsver-halten häufig durch die teilweise massiven Schuld- und Schamgefühle, unge-duldig und ungerecht gewesen zu sein (Lenz, 2008, S.28 ff.).

Boszormenyi-Nagy & Spark (1981, S.209) beschreiben die Parentifizierung als ein menschliches Phänomen. Selbst bei harmonischen, weitgehend auf Gegen-seitigkeit beruhenden Beziehungen, gehöre sie zum regressiven Kerngesche-hen. Die Autoren definieren:

„Definitionsgemäß bedeutet Parentifizierung die subjektive Verzerrung einer Beziehung- so, als stellte der Ehepartner oder gar eines der Kinder einen El-ternteil dar.“,

welche sich in Form einer Wunschphantasie äußert oder schlimmer in einem Abhängigkeitsverhältnis (Boszormenyi-Nagy & M. Spark, 1981, S.209).

Boszormenyi-Nagy und Spark (1981, S.209) sehen jedoch auch einen positiven Aspekt dieser Verantwortungsverzerrung und schreiben, dass jedes Kind von

seinen Eltern ab und zu bis zu einem gewissen Punkt parentifiziert werden müsse. Andersfalls würde es nicht lernen, sich im zukünftigen Leben mit ver-antwortungsvollen Rollen zu identifizieren. Auch die Aufgabenübernahme durchs Kind und die dadurch entstehende Anerkennung durch das enge Um-feld, könne das parentifizierte Kind stärken, da es gesteigerte Empathie entwi-ckeln könne und das Selbstbewusstsein gesteigert werde (Plass & Wiegand-Grefe, 2012, S. 30).

Dabei könne eine vorgestellte kindliche Abhängigkeit zur Befriedigung des ei-genen Sicherheitsbedürfnisses beitragen (Boszormenyi-Nagy & M. Spark, 1981, S.210):

„So gesehen ist Parentifizierung lediglich ein Ausdruck des Bemühens, sich vor einer gewissen emotionellen Verarmung zu bewahren.“ (Boszormenyi-Nagy &

M. Spark, 1981, S.211).

Parentifizierungsversuche werden erst dann krankheitserzeugen, wenn die kindliche Entwicklung ernsthaft beeinträchtigt wird (Boszormenyi-Nagy & M.

Spark, 1981, S.223).

Zahlreiche weitere Zitate von retroperspektiv gewonnenen Interviews beschrei-ben eine Parentifizierung bei Kindern psychisch kranker Eltern, wie z.B.:

„Mutter und Tochterrollen haben sich umgedreht.“ (Bern, 2000, S.18)

Eine weitere Betroffene schreibt ebenso:

„Sie fand in ihrer Ehe keinen Rückhalt, ich mußte also emotional etwas ausgleichen, was mein Vater ihr nicht geben konnte.“ (Frau P., 2000, S.34)

Webel (2000) beschreibt ihren Druck bezüglich der Sorge um ihre Mutter von Außenstehenden:

„Weil sie meine Mutter ist, muß ich mich um sie kümmern“ (S.60), „Ich habe die Mutter gespielt für meine eigene Mutter“ (S.61) Sobald Webel den Mut aufbrachte, die Verantwortung für die Mutter abzulehnen, hörte

sich häufig Aussagen, wie: „>>Aber Sie sind doch die Tochter! <<“ wo-rauf sie erwiderte: „Ja, aber nicht von Beruf.“ (S.61).

Auch Plass & Wiegand-Grefe (2012, S.15) berichten von der Aussage einer/-s Betroffenen: „Eigentlich war ich dann die Erwachsene und stand ihr bei.“ (Plass

& Wiegand-Grefe, 2012, S.15).

Die durch die kindliche Parentifizierung möglicherweise entstandene höhere Resilienz als Erwachsener habe laut Plass und Wiegand-Grefe (2012, S.29) jedoch einen hohen Preis: den einer verlorenen Kindheit. Im späteren Leben könne diese hohe Leistungsfähigkeit in Krisensituationen auch auf- oder zu-sammenbrechen (edg.).

Die Autoren unterscheiden die beschriebenen Möglichkeiten daher zwischen adaptiver und destruktiver Parentifizierung. Erstere ist durch die Berücksichti-gung der Bedürfnisse der Kinder gekennzeichnet. Die destruktive Parentifizie-rung beschreibt hingegen die übermäßige und entwicklungsunangemessene instrumentelle, sowie emotionale Verantwortungs- und Fürsorgeabgabe. Sobald das Kind beginnt, seine Bedürfnisse denen der Eltern unterzuordnen und kindli-che Bedürfnisse wie das Spielen vernachlässigt, ist es destruktiv (Plass & Wie-gand-Grefe, 2012, S. 30).