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2 Theoretische Grundlage

2.3 Interkulturelle Adaption im chinesischen Kontext

2.3.1 Ost trifft West: Einführung der westlichen Literatur

Infolge des Ersten Opiumkriegs, einem militärischen Konflikt zwischen Großbritannien und dem Kaiserreich China der Qing-Dynastie (1644–1912) von 1839 bis 1842, öffnete China gezwun-genermaßen die Tür zum Westen. Nach der bitteren Niederlage musste China seine Märkte öff-nen und den Opiumhandel tolerieren. Die damaligen Intellektuellen versuchten, eiöff-nen Ausweg aus dieser Situation zu finden. Nach ihrer Meinung ist diese Niederlage auf die politische und militärische Korruption der Qing-Regierung und zum großen Teil auf die fortschrittlichen west-lichen Waffen zurückzuführen. Deshalb stand die Einführung der modernen westwest-lichen Natur-wissenschaften unter dem Motto Shiyi changji yi zhiyi

师夷长技以制夷 (militärische Techniken

und Maschinenbau vom Westen lernen, um westliche Länder zu besiegen) im Vordergrund.114 Um diesen Fortschritt aus dem Westen einzuführen, spielte die Übersetzung eine entscheidende Rolle. Der Gelehrte, Philosoph und Reformer während der Qing-Dynastie Liang Qichao gehörte einer neuen Generation Intellektueller an. Im Artikel Lun yishu

论译书 (Zur Übersetzung) hob er

den Kern der Übersetzung hervor: „

处今日之天下,则必以译书为强国之第一义。

115 (Heutzutage ist die Übersetzung ohne Zweifel das Wichtigste, um unser Land stark zu machen.) Intellektuelle wie Liang Qichao und Yan Fu trieben die Übersetzungen zu einem ersten Höhe-punkt voran. Inzwischen wurde eine große Anzahl ausländischer Werke übersetzt. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass es sich damals vor allem um Texte der Naturwissenschaft und Sozial-wissenschaft handelte. Laut der Statistik der zu dieser Zeit führenden Verlage soll die Überset-zung der naturwissenschaftlichen Werke in den 1860er- und 1870er-Jahren mehr als 80 Prozent ausgemacht und die der sozialwissenschaftlichen Werke in den 1880er- und 1890er-Jahren 80 Prozent betragen haben.116 Daraus wird ersichtlich, dass die Missstände und Probleme Chinas nach der Ansicht der Intellektuellen vorwiegend an der rückständigen Technik und Gesell-schaftsordnung lagen.

Die Einführung der westlichen Literatur stand deshalb nicht an erster Stelle. Ein weiterer Grund für die späte Einführung der westlichen Literatur besteht darin, dass die chinesische Literatur Überheblichkeit und konservatives Verhalten gegenüber der westlichen Literatur an den Tag

114 Vgl. Guo, Yanli 郭延礼: Zhongguo jindai fanyi shulue jianlun wenxue fanyi chidao de yuanyin 中国近代翻译述略兼论文 学翻译迟到的原因 [Zur Übersetzung im modernen China und zum Grund für die späte Ankunft der literarischen Übersetzung], in: Zeitschrift der Universität Yantai 烟台大学学报, 1998 a (1), S. 73.

115 Li, Nanqiu (Hrsg.) 黎难秋(编): Zhongguo kexue fanyi shiliao 中国科学翻译史料 [Chinesische wissenschaftliche Materi-alien über die Übersetzungsgeschichte], Zhongguo kexue jishu daxue chubanshe 中国科学技术大学出版社 1996, S. 320.

116 Vgl. Guo, a. a. O., 1998 a, S. 73-74.

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legte. Die Intellektuellen orientierten sich an dem Prinzip Zhongxue weiti, xixue weiyong

中学为 体,西学为用

oder abgekürzt: Zhongti xiyong

中体西用

(traditionelle chinesische Kultur, Gedanken und Gesellschaftsordnung als Grundlage, westliche fortschrittliche Techniken und Naturwissenschaften nur als Werkzeug zur Stärkung des Landes). Damals waren die meisten Intellektuellen davon überzeugt, dass der Westen nur auf den Gebieten der Technik und Natur-wissenschaft besser sei als China, nicht aber in der Literatur. Zum Beispiel verwies Liang Qichao zwar auf das Prestige der Übersetzung, aber in seiner vorgeschlagenen Liste, die neue Kategorien der zu übersetzenden Werke beinhaltete, gab es keine ausländische Literatur.117 Der Gelehrte Wang Tao, der viele westliche Länder bereiste, vertrat dennoch die Meinung, dass Na-turwissenschaften, wie Astronomie, Geographie, Feuer-Wissenschaft, Aerologie, Optik, Chemie und Gravitation, in England von großer Bedeutung seien, während die Literatur dort immer au-ßer Acht gelassen werde.118 Dies stellte zur damaligen Zeit keine seltene Ansicht dar. Die meis-ten Gelehrmeis-ten Chinas vertrameis-ten ähnliche Meinungen, auch wenn manche von ihnen bereits im Westen gelebt hatten. Der Literat Feng Ping, ein führendes Mitglied von der Nanshe

南社

(Sü-den-Gesellschaft), die als die größte Literatur- und Poesie-Organisation (1909–1923) während der späten Qing-Dynastie und der Frühzeit der Republik China galt, war der Meinung: „以言乎

科学,诚相形见绌; 若以文学论,未必不足以称伯五洲,彼白伦、莎士比亚、福禄特儿辈

,固不逮我少陵、太白、稼轩、白石诸先哲远甚也。

119 (Im Hinblick auf Naturwissen-schaften erblassen wir vor dem Westen, aber was die Literatur angeht, können wir den anderen Ländern überlegen sein. Die westlichen Literaten, wie Byron, Shakespeare und Voltaire, sind keinesfalls besser als unsere Literaturmeister.)

Die literarische Übersetzung nahm ihren Anfang im Jahr 1873 mit dem Roman Xinxi xiantan

昕 夕闲谈 (Plaudern morgens und nachts), dessen Original der englische Roman Night and

Morn-ing von Edward Bulwer Lytton ist.120 Danach allerdings stagnierte die Entwicklung der literari-schen Übersetzung. Eine signifikante Weiterentwicklung wurde erst 1899 mit der Übersetzung des Romans Die Kameliendame erzielt, die als Wahrzeichen der neuen Ära der chinesischen literarischen Übersetzung gilt.121 Anschließend wurden immer mehr westliche Literaturwerke ins Chinesische übersetzt. Die Intellektuellen, die sich anfangs mit der Übersetzung der westli-chen literariswestli-chen Texte beschäftigten, schätzten die übersetzte Literatur in ihren Gedanken aber als gering ein. Die Übersetzungen wurden meistens unter Künstlernamen veröffentlicht. Zum Beispiel übersetzte der berühmte Literat Lin Shu in Zusammenarbeit mit Wang Shouchang den

117 Vgl. ebd.

118 Vgl. ebd.

119 Ebd., S. 75.

120 Vgl. Zhang, Zheng/Zhang, Weiqing 张政/张卫晴: Jindai fanyi wenxue zhishi – Lishao Jushi jiqi Xinxi zatan 近代翻译文学 之始——蠡勺居士及其《昕夕闲谈》[Beginn der Übersetzungsliteratur im modernen China – Lishao Jushi und sein Plaudern morgens und nachts], in: Lehren und Forschung der Fremdsprachen 外语教学与研究, 2007 (6), S. 463.

121 Vgl. Guo, a. a. O., 1998 a, S. 74.

klassischen französischen Roman Die Kameliendame jeweils unter dem Künstlernamen Len-hongsheng

冷红生

(kalter roter Mann) und Xiaozhai zhuren

小斋主人

(Besitzer der kleinen Werkstatt).122 Dies spiegelte das tief eingewurzelte Vorurteil der Übersetzer gegenüber der westlichen Literatur wider, an deren Wert sie stets Zweifel hegten. Zusammenfassend stand die traditionelle chinesische Literatur zur damaligen Zeit in China im Vordergrund. Infolgedessen versuchten die Übersetzer, sich möglichst eng an die traditionelle chinesische Kultur anzulehnen.

Das heißt, die Form und der Inhalt des Originals wurden in gewissem Maße geändert, um sich an die chinesischen Verhältnisse anzupassen, was schließlich dazu führte, dass die Übersetzung dem Original nicht treu blieb. Zu dieser Zeit ging es nicht um Fanyi

翻译 (Übersetzung),

son-dern viel mehr um Yishu

译述

(Übersetzung und Erzählung) oder Yiyi

意译

(Freie Überset-zung).123 Dafür war Lin Shus Übersetzung repräsentativ und einflussreich. Er kannte keine Fremdsprache und fertigte Übersetzungen dadurch an, dass er sich den Inhalt der Originalwerke erzählen ließ, dann das Erzählte bearbeitete und zum übersetzten Werk erhob. In diesem Prozess achtete er kaum auf das Original und das übersetzte Werk könnte sogar als sein eigenes schöpfe-risches Werk angesehen werden.124

Es ist überdies darauf zu verweisen, dass die literarische Übersetzung zu Beginn des 20. Jahr-hunderts aufblühte.125 Schnell beliefen sich die literarischen Übersetzungen auf eine Gesamt-zahl, die die Übersetzungen der naturwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Werke innerhalb der 300 Jahre vom Ende der Ming-Dynastie bis zur Qing-Dynastie umfasste.126 Nach relevanter Statistik erschienen vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zur Bewegung des vierten Mai 1919, die als erste politische Massenbewegung in die chinesische Geschichte einging, ca.

2545 Übersetzungen der Romane.127 Von den publizierten Theaterstücken der 1920er-Jahre stammten unter den insgesamt 305 Stücken mehr als die Hälfte, genauer 170 Stücke, von auslän-dischen Originalen ab. Diese Zahlen beruhen auf einer Untersuchung von 24 literarischen Zeit-schriften der 1920er-Jahre.128 Es wird ersichtlich, dass sich das literarische Übersetzungswesen sehr schnell entwickelte. Zum ersten Mal erhielten auch einfache Leute in China die Gelegen-heit, die westliche literarische Welt kennenzulernen.

Erwähnenswert ist außerdem, dass in der späten Qing-Dynastie zunächst Romane und Gedichte übersetzt wurden und Theaterstücke erst später Interesse fanden. Der Übersetzungsstil der

122 Vgl. Zeng, Xianhui 曾宪辉: Lin Shu 林纾, Fujian renmin chubanshe 福建人民出版社 1993, S. 64.

123 Vgl. Guo, Yanli 郭延礼: Zhongguo jindai fanyi wenxue gailun 中国近代翻译文学概论 [Zur literarischen Übersetzung im modernen China], Hubei jiaoyu chubanshe 湖北教育出版社 1998 b, S.33.

124 Vgl. Wan, Zongqin 万宗琴: Dui Linshu „fanyi“ de zhiyi 对林纾“翻译”的质疑 [Zweifel an der „Übersetzung“ von Lin Shu], in: Zeitschrift der TU Chongqing 重庆科技学院学报, 2010 (13), S. 129.

125 Vgl. Guo, a. a. O., 1998 a, S. 74.

126 Vgl. ebd.

127 Vgl. Chen, Chun (Hrsg.) 陈惇主编: Xifang wenxueshi 西方文学史 [Die westliche Literaturgeschichte], Sichuan renmin chubanshe 四川人民出版社 2003, S. 243.

128 Vgl. Eberstein, a. a. O., S. 65.

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terstücke wurde stark von dem der Romane und insbesondere von Lin Shu beeinflusst. Von der Auswahl der ausländischen Dramenliteratur lassen sich drei Schwerpunkte ableiten: Erstens war das Bestreben, vorwiegend die moderne ausländische Theaterform in China vorzustellen. Zwei-tens sahen sich die chinesischen fortschrittlichen Intellektuellen verpflichtet, Stücke der großen Dramatiker der Weltliteratur wie Shakespeare, Goethe oder Schiller zu übersetzen. Drittens soll-ten die Themen der ausgewählsoll-ten Stücke in der chinesischen Gesellschaft und im Leben der Chinesen eine Rolle spielen.129